Der Tonfall, in dem diese Worte gesprochen wurden, verriet nur zu deutlich die Hoffnungen eines liebenden – unbewußt liebenden Herzens. Madame Grandet blickte voll mütterlicher Innigkeit auf ihre Tochter; dann sagte sie ihr ganz leise ins Ohr: »Nimm dich in acht, du könntest ihn lieben!«
»Ihn lieben!« erwiderte Eugénie. »Ach, wenn du wüßtest, was der Vater gesagt hat.«
Charles drehte sich herum und gewahrte Tante und Cousine.
»Ich habe meinen Vater verloren, meinen armen Vater! Wenn er mir das Geheimnis seines Unglücks anvertraut hätte, so hätten wir alle beide arbeiten können, um es wiedergutzumachen. Mein Gott! Mein armer, guter Vater! Ich glaubte so bestimmt, ihn wiederzusehen, daß ich, soviel ich weiß, nur ganz oberflächlich Abschied von ihm nahm.« Schluchzen erstickte seine Stimme.
»Wir wollen recht innig für ihn beten«, sagte Madame Grandet. »Ergeben Sie sich in den Willen Gottes.«
»Lieber Cousin«, sagte Eugénie, »haben Sie Mut! Ihr Verlust ist unwiederbringlich: Sie müssen jetzt daran denken, Ihre Ehre zu retten . . .«
Mit dem Instinkt, dem Feingefühl der Frau, die immer, auch wenn sie Trost zuspricht, verständig bleibt, wollte Eugénie den Cousin von seinem Kummer ablenken, indem sie seine Gedanken auf ihn selbst hinwies.
»Meine Ehre? . . .« schrie der junge Mann und warf die Locken zurück, die ihm wirr ins Gesicht hingen. Und er setzte sich aufrecht aufs Bett und kreuzte die Arme. »Ach, es ist wahr. Mein onkel sagte, mein Vater habe Bankrott gemacht.«Er stieß einen herzzerreißenden Schrei aus und barg das Gesicht in den Händen. »Lassen Sie mich, liebe Cousine, lassen Sie mich! Mein Gott, mein Gott! vergib meinem armen Vater; er muß sehr gelitten haben.«
In diesem gewaltigen Ausbruch eines jungen, aufrichtigen, rückhaltlosen Schmerzes lag etwas furchtbar Anziehendes. Es war ein keusches Leid, das die schlichten Herzen Eugénies und ihrer Mutter wohl verstanden, als Charles nun durch eine Gebärde bat, ihn sich selbst zu überlassen.
Sie stiegen hinunter, nahmen schweigend wieder ihre Plätze am Fenster ein und arbeiteten wohl eine ganze Stunde lang, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Eugénie, die einen flüchtigen Blick auf die Reiseausstattung des jungen Mannes geworfen hatte – den schnell erfassenden Blick eines jungen Mädchens –, hatte die reizendsten Toilettenkleinigkeiten bemerkt, feine Scheren und Rasiermesser, alles goldgeziert. Dieser Prunk in Verbindung mit dem großen Schmerz des Cousins hatte ihr Charles noch interessanter erscheinen lassen – vielleicht infolge des Kontrastes. Niemals hatte ein so trauriges Ereignis, ein so dramatisches Schauspiel den Geist der beiden Frauen, die nichts als Ruhe und Einsamkeit kannten, gefesselt.
»Mama«, sagte Eugénie, »wir werden für den onkel Trauer anlegen.«