»Sei nur ruhig, Eugénie, wenn dein Vater kommt, nehme ich alles auf mich«, sagte Madame Grandet.
Eugénie konnte eine Träne nicht zurückhalten. »O meine gute Mutter«, rief sie, »ich habe dich lange nicht lieb genug gehabt!«
Charles, der schon geraume Zeit in seinem Zimmer singend hin und her gegangen war, kam endlich herunter. Glücklicherweise war es erst elf Uhr. Dieser Pariser! Er hatte soviel Koketterie auf seine Toilette verwendet, als befände er sich im Schloß der vornehmen Dame, die jetzt Schottland bereiste. Er trat mit der freundlich-heitern Miene ein, die der Jugend so gut steht und die Eugénie mit trauriger Freude erfüllte. Er hatte den Zusammenbruch seiner Luftschlösser, die er beim onkel zu finden gehofft hatte, von der heitern Seite zu nehmen gewußt und begrüßte seine Tante fröhlich: »Haben Sie eine gute Nacht gehabt, liebe Tante? – Und Sie, liebe Cousine?«
»Ja, danke«, sagte Madame Grandet; »aber Sie?«
»Oh, ich habe prächtig geschlafen.«
»Sie werden hungrig sein, lieber Cousin«, sagte Eugénie; »setzen Sie sich zu Tisch.«
»Aber ich frühstücke nie vor zwölf, das ist sonst meine Aufstehzeit. Ich habe jedoch auf der Reise so schlecht gelebt, daß ich mich fügen will. Übrigens . . .« Er zog die entzückendste Uhr hervor, die Bréguet jemals gemacht hat. »Da, es ist erst elf Uhr; ich bin ja heute ein Frühaufsteher.«
»Frühaufsteher? . . .« sagte Madame Grandet.
»Ja; aber ich wollte ja auch meine Sachen auspacken. Also, ich würde ganz gern etwas genießen . . . eine Kleinigkeit, etwas Geflügel . . . ein Rebhuhn!«
»Heilige Jungfrau!« rief Nanon, als sie diese Worte hörte.
›Ein Rebhuhn‹, überlegte Eugénie, die gar zu gern von ihrem Taschengeld ein Rebhuhn beschafft hätte.
»Kommen Sie, nehmen Sie Platz«, forderte seine Tante ihn auf.
Der Dandy ließ sich in den Fauteuil gleiten, graziös, wie eine schöne Frau sich auf den Diwan bettet. Eugénie und ihre Mutter nahmen ihre Stühle und setzten sich zu ihm ans Feuer.
»Sie leben immer hier?« fragte Charles, der den Saal jetzt bei Tag noch häßlicher fand als gestern beim Kerzenlicht.
»Immer«, antwortete Eugénie, ihn anblickend; »ausgenommen zur Weinlese. Dann gehen wir Nanon helfen und wohnen alle in der Abtei von Noyers.«