»Der arme junge Mann!« rief Madame Grandet aus.
»Ja, arm!« wiederholte Grandet; »er besitzt nicht einen Sou mehr.«
»Nun, er schläft, als sei er der Herr der Erde«, bemerkte Nanon sanft.
Eugénie konnte nicht essen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Das Mitgefühl mit dem Unglück dessen, den sie liebt, wird eine Frau immer auch körperlich ergreifen. Das junge Mädchen weinte.
»Du hast deinen onkel doch gar nicht gekannt, weshalb weinst du?« sagte ihr Vater und warf ihr einen flammenden Blick zu – den lauernden Tigerblick, mit dem er wohl auch sein Gold anblitzte.
»Aber, Monsieur«, sagte die Magd, »wer wird nicht Mitleid haben mit dem armen jungen Mann, der sein Schicksal noch gar nicht ahnt, sondern schläft wie ein Murmeltier?«
»Ich habe nicht mit dir gesprochen, Nanon, halt den Mund.«
Eugénie erfuhr und lernte jetzt, daß das liebende Weib seine Gefühle verbergen muß. Sie gab keine Antwort.
»Ich erwarte, Madame Grandet, daß Sie ihm nichts davon sagen, bis ich wieder zu Hause bin«, fuhr der Alte fort. »Ich muß zu meinen Wiesen hinunter und die Anlegung eines Grabens beaufsichtigen. Zum zweiten Frühstück bin ich wieder hier, und dann werde ich mit meinem Neffen von seinen Angelegenheiten sprechen. – Was dich betrifft, Eugénie, wenn es dieser Laffe ist, für den deine Tränen fließen, so laß es nun genug sein, mein Kind. Er wird fortreisen – nach Indien. Du wirst ihn nicht wiedersehen . . .«
Der Vater nahm seine Handschuhe, die wie immer auf dem Hutrand lagen, zog sie mit gewohnter Ruhe an und schob sie fest, indem er die gespreizten Finger beider Hände ineinanderdrückte; dann ging er.
»Ach, Mama, ich ersticke!« rief Eugénie, als sie mit ihrer Mutter allein war. »Ich habe noch nie einen solchen Schmerz gefühlt!«
Madame Grandet, die ihre Tochter erbleichen sah, öffnete das Fenster und ließ sie die frische Luft einatmen. »Ich fühle mich besser«, sagte Eugénie nach einem Weilchen.
Diese nervöse Aufregung bei einer sonst ruhigen und kühlen Natur machte auf Madame Grandet Eindruck. Mit dem verständnisvollen Mitgefühl, das alle Mütter für den Gegenstand ihrer Zärtlichkeit empfinden, blickte sie auf ihre Tochter – und erriet alles. Denn in Wahrheit: das Leben jener weltberühmten ungarischen Zwillingsschwestern, die durch einen Irrtum der Natur aneinandergefesselt waren, konnte nicht inniger gewesen sein als das Leben Eugénies und ihrer Mutter, die immer zusammen in dieser Fensternische saßen, zusammen in die Kirche gingen und selbst im Schlaf dieselbe Luft einatmeten.