Madame Grandet dachte gar nichts, als sie schlafen ging. Durch die Tür, die ihr Zimmer mit dem des Geizhalses verband, hörte sie ihn drüben unablässig auf und ab gehen. Wie alle schüchternen Frauen hatte sie den Charakter ihres Eheherrn genau studiert und kannte alle seine Schwankungen. So wie die Seemöwe den Sturm vorausempfindet, ahnte sie an allerlei kaum merklichen Zeichen den Orkan voraus, der in Grandet tobte, und aus Vorsicht verhielt sie sich nun totenstill. Grandet blickte auf die Tür, die in sein Geheimkabinett führte und die innen mit Eisenblech beschlagen war, und dachte: ›Welch verrückte Idee meines Bruders, mir sein Kind zu vermachen. Schöne Erbschaft das! Ich habe keine zwanzig Taler zu verschenken. Aber was sind zwanzig Taler für so einen Gecken? Wie er mein Barometer anstarrte, so, als wollte er es gleich in den Ofen stecken.‹
Als Grandet jetzt über die Konsequenzen dieses leidvollen Testamentes nachdachte, war er vielleicht aufgeregter, als sein Bruder gewesen sein mochte, als er das Testament verfaßte.
›Ich werde das goldene Kleid bekommen? . . .‹ dachte Nanon, die sich im Traum mit dem Altartuch bekleidet sah und von Blumen und Stoffen, Damast und Brokat träumte – zum erstenmal in ihrem Leben, wie Eugénie zum erstenmal von der Liebe träumte.
Im reinen und einförmigen Leben der jungen Mädchen kommt einmal eine köstliche Stunde, da die Sonne ihre Strahlen in ihre Seele gießt, da die Blumen ihnen wie lebende Gedanken sind und das Blut des Herzens wie warme befruchtende Kraft zum Hirn strömt und den Gedanken umformt zu unbestimmtem Wünschen – ein Tag voll unschuldiger Melancholie und lieblicher Freuden! Wenn die Kinder sehen gelernt haben, so lächeln sie; wenn ein junges Mädchen die Sentimentalität in der Natur empfindet, lächelt sie dieses Kinderlächeln. Wenn das Licht die erste Liebe des Lebens ist, ist nicht die Liebe das Licht des Herzens? Für Eugénie war der Augenblick gekommen, die Dinge des Lebens klar zu sehen.