Charles fühlte sich hier in diesem öden Saal so bedrückt, so himmelweit entfernt von dem prächtigen Landschloß und dem festlichen Leben, das er bei seinem onkel vermutet hatte, daß er beim Anblick von Madame des Grassins schließlich immerhin etwas empfand, als sähe er das schwache Abbild einer Pariserin. Er dankte liebenswürdig für die halbe Einladung, die ihm soeben zuteil geworden war, und es entspann sich nun eine Unterhaltung, in deren Verlauf Madame des Grassins ihre Stimme leiser und leiser werden ließ, um sie mit der Diskretion ihrer Bekenntnisse in Einklang zu bringen. Sowohl sie als auch Charles hatten ein Bedürfnis, sich mitzuteilen. Nachdem sie eine Zeitlang kokett geplaudert und einander Schmeicheleien gesagt hatten, gelang es der gewandten Provinzlerin, während die andern vom Verkauf der Weinernte, dem Hauptgesprächsgegenstand von ganz Saumur, redeten und sie sich also unbeobachtet glaubte, ihm folgende Mitteilung zu machen: »Wenn Sie uns die Ehre Ihres Besuches geben würden, Monsieur, so würden Sie sicherlich meinem Mann ebenso wie mir eine große Freude machen. Unser Haus ist das einzige in Saumur, wo Sie sowohl die Spitzen der Kaufmannschaft als auch den Adel antreffen werden. Wir gehören beiden Gesellschaftskreisen an, und weil man sich gut unterhält bei uns, so gibt man sich da gern ein Stelldichein. Mein Mann – ich sage es mit Stolz – ist sowohl in diesen wie jenen Kreisen hochgeschätzt. Also wir wollen versuchen, in die Langeweile Ihres hiesigen Aufenthalts Abwechslung zu bringen. Wenn Sie nur bei Monsieur Grandet blieben, – großer Gott! was sollte da mit Ihnen werden? Ihr onkel ist ein alter Knauser, der nichts als seinen Gewinn im Auge hat; Ihre Tante ist ein devotes Geschöpf, das nicht zwei Gedanken auf einmal fassen kann, und Ihre Cousine ist ein Gänschen, ohne Erziehung und ohne Mitgift, die ihr Leben damit zubringt, alte Kleider und Wäsche zu putzen und zu flicken.«
›Sie ist famos, diese Frau‹, dachte Charles Grandet bei sich, während er auf die Schöntuerei von Madame des Grassins einging.
»Du scheinst Monsieur für dich allein mit Beschlag zu belegen, Frau«, sagte lachend der große dicke Bankier.
Diese Äußerung veranlaßte den Notar und den Präsidenten zu einigen mehr oder weniger bissigen Bemerkungen. Der Abbé aber sah ihnen listig zu, und indem er eine Prise nahm und die Dose anbietend weiterreichte, faßte er die Gedanken der andern zusammen. »Wer anders als Madame«, sagte er, »könnte Monsieur die Honneurs von Saumur machen?«
»Ah! Wie meinen Sie das, Monsieur l'Abbé?« fragte Monsieur des Grassins.
»Ich meine das, Monsieur, im schmeichelhaftesten Sinne für Sie, für Madame, für Saumur und für den jungen Monsieur«, ergänzte der durchtriebene Alte, sich an Charles wendend.
Ohne den Anschein, auf die Unterhaltung zwischen Madame des Grassins und Charles geachtet zu haben, hatte der Abbé dennoch ihren Inhalt erraten.