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欧也妮葛朗台-Einleitung von Hugo von Hofmannsthal 4
日期:2018-08-02 10:01  点击:274
Die Aufhäufung einer so ungeheuren Masse von substantieller Wahrheit ist nicht möglich ohne Organisation. Die anordnende Kraft ist ebensosehr schöpferische Kraft als die rein hervorbringende. Vielmehr sind sie nur verschiedene Aspekte einer und derselben Kraft. Aus der Wahrheit der Myriaden einzelner Phänomene ergibt sich die Wahrheit der Verhältnisse zwischen ihnen: so ergibt sich eine Welt. Wie bei Goethe fühle ich mich hier in sicherem Bezug zum Gesamten. Ein unsichtbares Koordinatensystem ist da, an dem ich mich orientieren kann. Was immer ich lese, einen der großen Romane, eine der Novellen, eine der phantastisch-philosophischen Rhapsodien, und ob ich mich in die Geheimnisse einer Seele vertiefe, in eine politische Abschweifung, in die Beschreibung einer Kanzlei oder eines Kramladens, niemals falle ich aus diesem Bezug heraus. Ich fühle: um mich ist eine organisierte Welt. Es ist das große Geheimnis, daß diese lückenlos mich umschließende Welt, diese zweite, gedrängtere, eindringlichere Wirklichkeit nicht als eine erdrückende Last wirkt, als ein Alp, atemraubend. Sie wirkt nicht so: sie macht uns nicht stocken und starren, sondern ihr Anblick gießt Feuer in unsere Adern. Denn sie selber stockt nicht, sondern sie ist in Bewegung. Infinitis modis, um das Kunstwort mittelalterlicher Denker zu brauchen, ist sie in Bewegung. Die Welt ist in dieser vollständigsten Vision, die seit Dante in einem Menschenhirn entstand, nicht statisch, sondern dynamisch erfaßt. Alles ist so deutlich gesehen, daß es eine lückenlose Skala ergibt, das ganze Gewebe des Lebens, von Faden zu Faden, ab und auf. Aber alles alles ist in Bewegung gesehen. Nie wurde die uralte Weisheit des Παντα ρει grandioser erfaßt und in Gestalten umgesetzt. Alles ist Übergang. Hier scheint hinter diesen Büchern, deren Gesamtheit neben dem »Don Quixote« die größte epische Konzeption der modernen Welt bildet, die Idee der epischen Kunstform ihre Augen aufzuschlagen. Die Menschen zu schildern, die aufblühen und hinschwinden wie die Blumen der Erde. Nichts anderes tat Homer. Dantes Welt ist starr. Diese Dinge gehen nicht mehr vorüber, aber er selber wandert und geht an ihnen vorüber. Balzac sehen wir nicht. Aber wir sehen mit seinen Augen, wie alles übergeht. Die Reichen werden arm, und die Armen werden reich. Cäsar Birotteau geht nach oben und der Baron Hulot nach unten. Rubemprés Seele war wie eine unberührte Frucht, und vor unseren Augen verwandelt sie sich, und wir sehen ihn nach dem Strick greifen und seinem befleckten Leben ein Ende machen. Seraphita windet sich los und entschwebt zum Himmel. Jeder ist nicht, was er war, und wird, was er nicht ist. Hier sind wir so tief im Kern der epischen Weltanschauung, als wir bei Shakespeare im Kern der dramatischen sind. Alles ist fließend, alles ist auf dem Wege. Das Geld ist nur das genial erfaßte Symbol dieser infinitis modis vor sich gehenden Bewegung und zugleich ihr Vehikel. Durch das Geld kommt alles zu allem. Und es ist das Wesen der Welt, in dieser grandiosen und epischen Weise gesehen, daß alles zu allem kommt. Es sind überall Übergänge, und nichts als Übergänge, in der sittlichen Welt so gut wie in der sozialen. Die Übergänge zwischen Tugend und Laster – zwei mythische Begriffe, die niemand recht zu fassen weiß – sind ebenso fein abgestuft und ebenso kontinuierlich wie die zwischen reich und arm. Es stecken in den auseinanderliegendsten und widerstreitendsten Dingen gewisse geheime Verwandtschaften, wodurch alles mit allem zusammenhängt. Zwischen einem Concierge in seiner Souterrainwohnung und Napoleon in St.-Cloud kann für einen Moment eine geheime Affinität aufblitzen, die unendlich viel mehr als ein bloßer Witz ist. In der Welt wirkt schlechtweg alles auf alles: wie sollte dies nicht durch die geheimnisvollsten Analogien bedingt sein? Alles fließt; nirgends hält sich ein starrer Block, weder im Geistigen, noch im äußeren Dasein. »Liebe« und »Haß« scheinen getrennt genug und fest genug umschrieben: und ich kenne diese und jene Figur bei Balzac, in deren Brust das eine dieser Gefühle in das andere übergeht mit einer Allmählichkeit, wie die Farben des glühenden Eisens. Haßt Philomène den Albert Savarus, oder liebt sie ihn? Am Anfang hat sie ihn geliebt, am Ende scheint sie ihn zu hassen, sie handelt unter einer Besessenheit, die vielleicht Haß und Liebe zugleich ist, und vermöchte man sie zu fragen, sie könnte keine Auskunft geben, welches von beiden Gefühlen sie martert. Hier sind wir durch einen Abgrund getrennt von der Welt des achtzehnten Jahrhunderts mit ihren Begriffen, wie »Tugend«, die fest, rund und dogmatisch sind, wohl geeignet, feste und theologische Begriffe zu ersetzen. Hier ist jede Mythologie, selbst die der Worte, aufgelöst. Und nirgends sind wir Goethe näher. Hier, ganz nahe, ja im gleichen Bette, rauscht der tiefe Strom seiner Anschauung. Aber es war die Grundgebärde seines geistigen Daseins, sich hier nach der entgegengesetzten Seite zu wenden. Die fließenden Kräfte seiner Natur waren so gewaltig, daß sie ihn zu überwältigen drohten. Er mußte ihnen das Beharrende entgegensetzen, die Natur, die Gesetze, die Ideen. Auf das Dauernde im Wechsel heftete er den Blick der Seele. So sehen wir sein Gesicht, so hat sich die Maske des betrachtenden Magiers geformt. Balzacs Gesicht sehen wir nicht als eine olympische Maske, über seinen Werken thronend. Nur in seinen Werken glauben wir es manchmal auftauchen zu sehen, visionär, hervorgestoßen von chaotischen Dunkelheiten, wirbelnden Massen. Aber wir vermögen nicht, es festzuhalten. Jede Generation wird es anders sehen, eine jede wird es als ein titanisches Gesicht sehen und wird auf ihre Weise daraus ein Symbol unaussprechlicher innerer Vorgänge machen. Wir wundern uns, daß wir es nicht von der Hand dessen besitzen, der das »Gemetzel auf Chios« und die »Barke des Dante« schuf. Er hätte den dreißigjährigen Balzac als den Titanen gemalt, der er war, als einen Dämon des Lebens, oder sein Gesicht als ein Schlachtfeld behandelt. Es ist eine überraschende Lücke, daß uns die Maske des Fünfzigjährigen dann nicht von Daumier überliefert ist. Sein wunderbarer Stift und sein gleich wunderbarer Pinsel hätten das grandios Faunische des Mannes aus dem Dunkel springen lassen und es mit der wilden Einsamkeit des Genies geadelt. Aber vielleicht waren ihm diese Generationen zu nahe, und es bedurfte der Distanz, die wir um ihn haben, damit etwas wie das Gebilde Rodins entstehen konnte, dieses völlig symbolgewordene, übermenschliche Gesicht, in welchem eine furchtbare Wucht der Materie sich mit einem namenlosen Etwas paart, einer dumpfen, schweren Dämonie, die nicht von dieser Welt ist, ein Gesicht, in dem die Synthese ganz verschiedener Welten vollzogen ist: das immerhin an einen gefallenen Engel erinnert und zugleich an die maßlos dumpfe Traurigkeit uralt griechischer Erde- und Meeresdämonen. 

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