Jeder findet hier so viel vom großen Ganzen des Lebens, als ihm homogen ist. Je reichlicher genährt eine Erfahrung, je stärker eine Einbildungskraft ist, desto mehr werden sie sich mit diesen Büchern einlassen. Hier braucht keiner etwas von sich draußen zu lassen. Alle seine Emotionen, ungereinigt wie sie sind, kommen hier ins Spiel. Hier findet er seine eigene innere und äußere Welt, nur gedrängter, seltsamer, von innen heraus durchleuchtet. Hier sind die Mächte, die ihn bestimmen, und die Hemmungen, unter denen er erlahmt. Hier sind die seelischen Krankheiten, die Begierden, die halb sinnlosen Aspirationen, die verzehrenden Eitelkeiten; hier sind alle Dämonen, die in uns wühlen. Hier ist vor allem die große Stadt, die wir gewohnt sind, oder die Provinz, in ihrem bestimmten Verhältnis zur großen Stadt. Hier ist das Geld, die ungeheure Gewalt des Geldes, die Philosophie des Geldes, in Gestalten umgesetzt, der Mythos des Geldes. Hier sind die sozialen Schichtungen, die politischen Gruppierungen, die mehr oder weniger noch die unseren sind, hier ist das Fieber des Emporkommens, das Fieber des Gelderwerbs, die Faszination der Arbeit, die einsamen Mysterien des Künstlers, des Erfinders, alles, bis herab zu den Erbärmlichkeiten des kleinbürgerlichen Lebens, zur kleinen Geldmisere, zum mühsam und oft geputzten Handschuh, zum Dienstbotenklatsch.
Die äußere Wahrheit dieser Dinge ist so groß, daß sie sozusagen getrennt von ihrem Objekt sich zu erhalten und wie eine Atmosphäre zu wandern vermochte, das Paris von Louis Philipp ist weggeschwunden, aber gewissen Konstellationen, der Salon in der Provinz, in dem Rubempré seine ersten Schritte in die Welt tut, oder der Salon der Madame de Bargeton in Paris, sind heute von einer verblüffenden Wahrheit für Österreich, dessen sozialer und politischer Zustand vielleicht dem des Julikönigtums sehr ähnlich ist; und gewisse Züge aus dem Leben von Rastignac und de Marsay sind vielleicht heute für England wahrer als für Frankreich. Aber der Firnis dieser für uns greifbaren, aufregenden »Wahrheit«, – diese ganze erste große Glorie des »Modernen« um dieses Werk wird vergehen: jedoch die innere Wahrheit dieser aus der Phantasie hervorgeschleuderten Welt (die sich nur einen Augenblick lang in tausend nebensächlichen Punkten mit der ephemeren Wirklichkeit berührte) ist heute stärker und lebendiger als je. Diese Welt, die kompletteste und vielgliedrigste Halluzination, die je da war, ist wie geladen mit Wahrheit. Ihre Körperhaftigkeit löst sich dem nachdenklichen Blick in ein Nebeneinander von unzähligen Kraftzentren auf, von Monaden, deren Wesen die intensivste, substantiellste Wahrheit ist. Im Auf und Ab dieser Lebensläufe, dieser Liebesgeschichten, Geld- und Machtintrigen, ländlichen und kleinstädtischen Begebenheiten, Anekdoten, Mo
nographien einer Leidenschaft, einer seelischen Krankheit oder einer sozialen Institution, im Gewirr von etwa dreitausend menschlichen Existenzen, wird ungefähr alles berührt, was in unserem bis zur Verworrenheit komplizierten Kulturleben überhaupt einen Platz einnimmt. Und fast alles, was über diese Myriaden von Dingen, Beziehungen, Phänomenen gesagt ist, strotzt von Wahrheit. Ich weiß nicht, ob man es schon unternommen hat (aber man könnte es jeden Tag unternehmen), ein Lexikon zusammenzustellen, dessen ganzer Inhalt aus Balzac geschöpft wäre. Es würde fast alle materiellen und alle geistigen Realitäten unseres Daseins enthalten. Es würden darin Küchenrezepte ebensowenig fehlen als chemische Theorien; die Details über das Geld- und Warengeschäft, die präzisesten, brauchbarsten Details würden Spalten füllen; man würde über Handel und Verkehr vieles erfahren, was veraltet, und mehreres, was ewig wahr und höchst sachgemäß ist, und daneben wären unter beliebige Schlagworte die kühnsten Ahnungen und Antizipatio
nen von naturwissenschaftlichen Feststellungen späterer Jahrzehnte aufzunehmen; die Artikel, die unter dem Schlagwort »Ehe« oder »Gesellschaft« oder »Politik« zusammenzufassen wären, wären jeder ein Buch für sich und jeder ein Buch, das unter den Publikatio
nen der Weltweisheit des neunzehnten Jahrhunderts seinesgleichen nicht hätte. Das Buch, welches den Artikel »Liebe« enthielte und in einem kühn gespannten Bogen von den unheimlichsten, undurchsichtigsten Mysterien (Une passion dans le désert) durch ein strotzendes Chaos aller Menschlichkeiten zur seelenhaftesten Engelsliebe sich hinüberschwänge, würde das eine berühmte Buch gleichen Namens, das wir besitzen und das von der Hand eines Meisters ist, durch die Größe seiner Konzeption, durch den Umfang seiner Skala in den Schatten stellen. Aber schließlich existiert dieses Lexikon. Es ist in eine Welt von Gestalten, in ein Labyrinth von Begebenheiten versponnen, und man blättert darin, indem man dem Faden einer prachtvoll erfundenen Erzählung folgt. Der Weltmann wird in diesen Bänden die ganze Reihe der so scheinhaften und doch so wirklichen Situatio
nen umgewandelt sehen, aus denen das Soziale besteht. Die tausend Nuancen, wie Männer und Frauen einen anderen gut und schlecht behandeln können; die unmerklichen Übergänge; die unerbittlichen Abstufungen, die ganze Skala des wahrhaft Vornehmen, zum Halbvornehmen, zum Gemeinen: dies alles abgewandelt und in der wundervollsten Weise vom Menschlichen, vom Leidenschaftlichen durchbrochen und für Augenblicke auf sein Nichts reduziert. Der Mensch des Erwerbs (und wer hat nicht zu erwerben oder zu erhalten oder zu entbehren?) hat seine ganze Welt da: alles in allem. Den großen Börsenmann, den verdienenden Arzt, den hungernden und den triumphierenden Erfinder, den großen und kleinen Faiseur, den emporkommenden Geschäftsmann, den Heereslieferanten, den Geschäfte vermittelnden Notar, den Wucherer, den Strohmann, den Pfandleiher, und von jedem nicht einen, so
ndern fünf, zehn Typen, und was für welche! und mit allen ihren Handwerksgriffen, ihren Geheimnissen ihrer letzten Wahrheit. Die Maler halten unter sich die Legende aufrecht, daß von Delacroix herrühren müsse, was im »Chef d'œuvre inconnu« an letzten Intimitäten über die Modellierung durch das Licht und den Schatten gesagt ist; diese Wahrheiten sind ihnen zu substantiell, als daß jemand sie gefunden haben dürfte, der nicht Maler, und ein großer Maler gewesen wäre. Der Denker, dem man »Louis Lambert« in die Hand gegeben hat, als die Mo
nographie über einen Denker, mag den biographischen Teil schwach finden und an der Realität der Figur zweifeln: aber sobald er zu dem in Briefen und Notizen übermittelten Gedankenmaterial kommt, so wird die Ko
nsistenz dieser Gedanken, die substantielle Kraft dieses Denkers so überzeugend, daß jeder Zweifel an der Figur weggeblasen ist. Dies sind Gedanken eines Wesens, dies Hirn hat funktioniert, – man mag im übrigen die Gedanken, diese Philosophie eines spiritualistischen Träumers ablehnen oder nicht. Und der verheiratete Mann, dem in einer nachdenklichen Stunde die »Physiologie der Ehe« in die Hand fällt, wird in diesem so
nderbaren und vielleicht durch einen gewissen halbfrivolen Ton unter den Werken Balzacs ein wenig deklassierten Buch auf einige Seiten stoßen, deren Wahrheiten so zart als tief und beherzigenswert sind, wahrhafte Wahrheiten, Wahrheiten, die sich, wenn man sie in sich aufnimmt, gewissermaßen ausdehnen und mit einer sanften, strahlenden Kraft im Innern fortwirken. Allen diesen Wahrheiten haftet nichts Esoterisches an. Sie sind in einem weltlichen, manchmal in einem fast leichtfertigen Ton vorgetragen. Verflochten unter Begebenheiten und Schilderungen, bilden sie die geistigen Elemente im Körper einer Erzählung, eines Romans. Sie sind uns entgegengebracht, wie das Leben selbst uns seinen Gehalt entgegenbringt: in Begegnungen, in Katastrophen, in den Entfaltungen der Leidenschaften, in plötzlichen Aussichten und Einsichten, blitzhaft sich auftuenden Durchschlägen durch den dichten Wald der Erscheinungen. Hier ist zugleich die leidenschaftlichste und vollständigste Malerei des Lebens und eine höchst überraschende, scharfsinnige Philosophie, die bereit ist, jedes noch so niedrig scheinende Phänomen des Lebens zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. So ist durch das ganze große Werk, dessen Weltbild ebenso finster ist als das Shakespeares, und dabei um so viel wuchtender, trüber, schwerer durch seine eigene Masse, dennoch eine geistige Lebendigkeit ergossen, ja eine geistige Heiterkeit, ein tiefes Behagen: wie wäre es anders zu nennen, was uns, wenn einer dieser Bände uns in die Hand gerät, immer wieder nach vorwärts, nach rückwärts blättern macht, nicht lesen, so
ndern blättern, worin eine subtilere, erinnerungsvolle Liebe liegt, – und was uns die bloße Aufzählung der Titel dieser hundert Bücher oder das Register der Figuren, die in ihnen auftreten, gelegentlich zu einer Art von summarischer Lektüre macht, deren Genuß komplex und heftig ist, wie der eines geliebten Gedichtes?
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