Der Raritätenladen. Vierundsechzigstes Kapitel
Auf seinem heißen, unbequemen Lager sich hin und her wälzend, von einem heftigen, durch nichts zu beschwichtigenden Durst gequält, unfähig durch was immer für eine Veränderung seiner Lage auch nur einen Augenblick Ruhe oder Behaglichkeit zu finden, an einem fort durch Gedankenwüsten schweifend, wo es keinen Ruheort, keinen Anblick, keinen Ton gab, der Erfrischung oder Erleichterung hoffen ließ, nichts als eine abstumpfende ewige Ermüdung, ohne einen Wechsel, als das ruhelose Umhertreiben seines elenden Körpers und das abmattende Umherschweifen seines Geistes, stets nach einem immer gegenwärtigen Ziele der Besorgnisse ringend – nämlich nach einem Gefühle, daß etwas ungeschehen geblieben sei, daß irgend ein fürchterliches Hinderniß sich in den Weg lege, daß irgend eine nagende Sorge ihn umschwebe, die sich nicht vertreiben lassen wollte und sein krankes Hirn bald in dieser bald in jener Form bedrängt – immer schattenhaft und düster, aber in jeder ihrer Gestaltungen sich als dasselbe Phantom zu erkennen gebend, jedes Traumbild wie ein böses Gewissen verdüsternd und den Schlummer mit Schrecke« erfüllend; in diesen langsamen Qualen seiner schrecklichen Krankheit lag der unglückliche Richard da, Zoll um Zoll dahinschwindend und sich abzehrend, bis er endlich unter der Vorstellung, als kämpfe und mühe er sich aufzustehen, und als würde er von bösen Geistern niedergehalten, in einen tiefen Schlaf versank, in welchem er nicht mehr träumte.
Er erwachte; und mit einem Gefühle der glücklichsten Ruhe, die noch beseligender war, als der Schlaf selbst, begann er nachgerade sich an einiges von seinem Leiden zu erinnern, darüber nachzudenken, welch' eine lange Nacht es gewesen sei, und ob er nicht zwei- oder dreimal delirirt habe. Inmitten dieser Gedanken zufällig seine Hand erhebend, war er nicht wenig erstaunt, zu finden, wie schwer sie schiene, obgleich sie in Wirklichkeit doch so abgezehrt und leicht war. Er machte sich jedoch nicht viel daraus und fühlte sich glücklich; auch blieb er, da er nicht geneigt war, die Sache weiter zu verfolgen, eine Weile in demselben wachen Schlummer liegen, bis seine Aufmerksamkeit durch einen Husten geweckt wurde. Dieß erregte in ihm Zweifel, ob er auch Nachts zuvor seine Thüre geschlossen habe, und er fühlte sich etwas überrascht, daß Jemand bei ihm in seiner Kammer sein sollte. Es fehlte ihm jedoch an Kraft, diesem Gedankenzuge zu folgen, und er versank unwillkürlich, schwelgerisch seiner Ruhe sich erfreuend, in ein Stieren auf einige grüne Streifen der Bettvorhänge, die er wundersam mit Strecken grünen Rasens in Verbindung brachte, während ihm der gelbe Grund dazwischen wie Kieswege vorkam, die das Ganze zu einer langen Perspektive von zierlich aufgestutzten Gärten umwandeln halfen.
Seine Phantasie führte ihn auf den Terrassen umher, und er hatte sich bereits ganz in denselben verloren, als er abermals husten hörte.
Bei diesem Tone wandelte sich alles wieder in einen gestreiften Vorhang um, welchen er jetzt, nachdem er sich im Bette ein wenig aufgerichtet hatte, bei Seite drückte, um hinaussehen zu können.
Es war gewiß ganz dasselbe Gemach und noch immer bei Kerzenlicht; aber mit welchem gränzenlosen Erstaunen erblickte er alle jene Flaschen, Becken, Leinenstoffe, die an dem Feuer trockneten; und sonstige Ausstattungen eines Krankenzimmers – alles sehr reinlich und nett, aber doch so ganz anders, als es bei seinem Zubettegehen gewesen war! Auch die Atmosphäre mit einem kühlenden Geruch von Kräuteressig erfüllt; der Fußboden frisch besprengt; die – was? – die Marquise? Ja, sie spielte am Tische mit sich selbst Cribbage. Da saß sie, nur auf ihr Spiel achtend, nur hin und wieder gedämpft hustend, als scheue sie sich, ihn zu stören – Karten mischend, abhebend, ausgebend, spielend, zählend, marquirend, kurz, alle Geheimnisse des Cribbagespieles durchmachend, als hätte sie von ihrer Wiege an nichts anderes getrieben!«
Herr Swiveller betrachtete diese Dinge eine kurze Zeit, ließ dann den Vorhang wieder in seine frühere Lage fallen, und legte seinen Kopf auf das Kissen zurück.
»Es ist klar, daß ich träume,« dachte Richard. »Als ich zu Bette ging, waren meine Hände nicht aus Eierschalen gemacht, und jetzt kann ich fast durch dieselben sehen. Wenn dieß kein Traum ist, so bin ich durch irgend ein Mißverständniß statt in einer Londoner in Tausend und einer Nacht aufgewacht. Aber ich zweifle nicht, daß ich schlafe. Nicht im geringsten.«
Hier hustete die kleine Magd abermals.
»Sehr merkwürdig!« dachte Herr Swiveller. »Ich habe doch früher nie von einem Husten so täuschend geträumt. In der That, ich kann mich nicht erinnern, daß ich je von Husten oder Niesen träumte. Vielleicht gehört es mit zur Theorie der Träume, daß man es nie thut. Jetzt wieder – und noch einmal – wahrlich ich muß sagen, daß ich etwas schnell träume.«
Um sich von der wahren Sachlage zu überzeugen, kniff sich Herr Swiveller nach einiger Ueberlegung in den Arm.
»Noch sonderbarer!« dachte er. »Ich legte mich doch ziemlich bei Fleisch zu Bette, und jetzt ist gar nichts vorhanden, was ich anfassen könnte. Ich muß doch einmal zusehen.«
Das Resultat dieser weitern Inspektion lief darauf hinaus, Herrn Swiveller zu überzeugen, daß die Gegenstände, welche ihn umgaben, wirklich wären, und daß er sie ohne alle Frage mit wachendem Auge sehe.
»Ich sagte es ja,« meditirte Richard weiter, »es ist Tausend und eine Nacht. Ich bin in Damaskus oder Groß Kairo. Die Marquise ist ein Geist und hat mit einem andern Geiste gewettet, wer der schönste lebende junge Mann und am würdigsten sei, sich mit der Prinzessin von China zu vermählen, weßhalb sie mich mit Zimmer und Allem wegführte, um Vergleichungen anstellen zu können. »Vielleicht,« sagte Herr Swiveller, indem er sich matt auf seinem Kissen umdrehte und auf die Seite seines Bettes wandte, welche der Wand am nächsten war, »ist die Prinzessin immer noch – nein, sie ist fort.«
Nicht ganz zufrieden mit dieser Erklärung, da sie, selbst im Falle, daß sie richtig war, jedenfalls noch ein Bischen Geheimniß und Bedenken in sich faßte, erhob Herr Swiveller abermals den Vorhang, fest entschlossen, die erste günstige Gelegenheit zu benützen und seine Gefährtin anzureden. Diese Gelegenheit bot sich bald. Die Marquise gab aus, schlug einen Buben und vergaß, den gewöhnlichen Vortheil dafür zu benützen, worauf Herr Swiveller, so laut als er konnte, rief:
»Zwei für seine Fersen!«
Die Marquise sprang rasch auf und schlug ihre Hände zusammen.
»Zuverlässig Tausend und eine Nacht,« dachte Herr Swiveller. »Sie schlugen dort immer die Hände zusammen; statt die Klingel zu ziehen. Nun werden die zweitausend schwarzen Sklaven kommen, mit Gefäßen voll Juwelen auf ihren Köpfen.«
Es stellte sich jedoch heraus, daß sie nur in der Freude ihres Herzens die Hände zusammengeschlagen hatte; denn unmittelbar darauf fing sie an, zu lachen und dann zu weinen, wobei sie nicht im gewählten Arabisch, sondern in ganz ordinärem Englisch erklärte, »sie sei froh, daß sie nicht wisse, was sie anfangen solle.«
»Marquise,« sagte Herr Swiveller gedankenvoll, »möge es Ihnen belieben, ein wenig näher zu kommen. Zuvörderst – wollen Sie die Güte haben, mich zu unterrichten, wo ich meine Stimme wieder finden werde; und zweitens – erweisen Sie mir die Geneigtheit, zu sagen, was aus meinem Fleisch geworden ist?«
Die Marquise schüttelte nur traurig ihren Kopf und weinte auf's Neue, worauf Herr Swiveller, der sich schwach befand, seine eigenen Augen in gleicher Weise afficirt fühlte.
»Ich fange an, aus Ihrem Benehmen und aus diesen äußeren Merkmalen zu schließen, Marquise,« fuhr Richard nach einer Pause fort, während ein Lächeln seine bebenden Lippen umzog, »daß ich krank gewesen bin?«
»Freilich sind Sie krank gewesen!« versetzte die kleine Magd. »Und was Sie dabei nicht Unsinn herausgeschwatzt haben!«
»Also wohl sehr krank, Marquise?« fragte Dick.
»Auf den Tod,« entgegnete die kleine Magd. »Ich meinte, es wolle gar nimmer besser gehen. Dem Himmel sei Dank, daß es wieder so ist!«
Herr Swiveller blieb eine geraume Zeit stumm, und als er wieder zu sprechen begann, fragte er zuerst, »wie lange er sich hier befinde.«
»Morgen werden's drei Wochen,« erwiederte die kleine Magd.
»Was, drei –?« sagte Dick.
»Wochen,« versetzte die Marquise nachdrücklich. »Drei lange, langsame Wochen.«
Schon der Gedanke, so weit draußen gewesen zu sein, veranlaßte Richard zu einem weitern Schweigen. Er streckte sich der vollen Länge nach auf seinem Lager aus. Die Marquise rückte ihm das Bettzeug bequemer, und als sie fühlte, daß Hände und Stirne ganz kühl waren – eine Entdeckung, ob der sie ganz entzückt wurde – weinte sie noch ein wenig, worauf sie sich anschickte, den Thee zu bereiten und eine dünne Brodschnitte zu rösten.
Während sie so beschäftigt war, sah ihr Herr Swiveller mit dankerfülltem Herzen zu, nicht wenig erstaunt, als er bemerkte, wie ganz und gar sie sich hier heimisch gemacht hatte, indem er diese Aufmerksamkeit ursprünglich Sally Braß zuschrieb, welcher er, wie er meinte, sich nicht verpflichtet genug fühlen konnte. Nachdem die Marquise ihr Röstbrod fertig gebracht hatte, breitete sie ein reines Tuch über ein Theebrett und legte ihm einige kleine Schnitten nebst einem großen Napfe schwachen Thee's vor, womit sie ihn, wie sie sagte, der Erlaubniß des Doktors zu Folge bei seinem Erwachen erfrischen durfte. Sie unterstützte ihn, wenn auch nicht so geschickt, als ob sie ihr ganzes Leben über eine Krankenwärterin gewesen wäre, so doch mit eben so viel Zartheit, durch Kissen und sah mit unaussprechlicher Freude zu, während der Patient – hin und wieder inne haltend, um ihr die Hand zu drücken – sein ärmliches Mahl mit einem Appetit und einem Hochgenuß zu sich nahm, den unter andern Umständen die größten Leckereien der Welt nicht hervorzurufen vermocht hätten. Nachdem sie wieder aufgeräumt und das Bettzeug gemächlich um ihn her gerückt hatte, setzte sie sich an dem Tische nieder, um ihren eigenen Thee einzunehmen.
»Marquise,« sagte Herr Swiveller, »was macht Sally?«
Die kleine Magd schraubte ihr Gesicht zu einem Ausdruck äußerster Verschmitztheit zusammen und schüttelte den Kopf.
»Wie, hast du sie in der letzten Zeit nicht gesehen?« fragte Dick.
»Sie gesehen?« rief die kleine Dienstmagd. »Gott behüte mich; ich bin weggelaufen!«
Herr Swiveller legte sich sogleich ganz flach in seinem Bett wieder zurück und verblieb ungefähr fünf Minuten in dieser Lage. Nach Verfluß dieser Zeit brachte er sich langsam wieder in eine sitzende Stellung und fragte:
»Und wo wohnen Sie, Marquise?«
»Wo ich wohne?« entgegnete die kleine Magd. »Hier!«
»Oh!« rief Herr Swiveller.
Und mit diesem Ausruf sank er wieder zurück, so plötzlich, als ob er erschossen worden wäre. Auch blieb er sprach« und regungslos, bis sie ihr Mahl beendigt, alles an seinen Ort gestellt und den Herd abgefegt hatte, worauf er ihr winkte, einen Stuhl an sein Bett zu rücken, und sobald er mit Kissen wieder aufgerichtet war, eröffnete er ein weiteres Gespräch.
»Und so bist du also weggelaufen?« fragte Dick.
»Ja,« entgegnete die Marquise, »und sie haben mich vertisirt.«
»Ver – – ich bitte um Verzeihung,« sagte Dick; »was haben sie gethan?«
»Mich vertisirt – vertisirt, wissen Sie – in den Zeitungen,« erwiederte die Marquise.
»Ja, ja,« sagte Dick, »avertisirt.«
Die kleine Magd nickte und blinzelte. Ihre Augen waren vom Wachen und Weinen so roth geworden, daß selbst die tragische Muse nicht nachdrücklicher hätte blinzeln können. Und auch Dick fühlte dieß.
»Aber sage mir,« sprach er, »wie konnte es dir einfallen, hieher zu kommen?«
»Warum? ja, sehen Sie,« versetzte die Marquise; »als Sie fort waren, hatte ich keine Freude mehr, weil der Miethsmann auch nicht wieder zurückkam, und Sie können sich denken, daß ich nicht wußte, ob ich ihn oder Sie je wieder auffinden würde. Aber eines Morgens, als ich – –«
»Vor dem Schlüsselloch stand?« ergänzte Herr Swiveller, da er ihr Stocken bemerkte.
»Nun ja denn,« entgegnete die kleine Magd mit dem Kopfe nickend; »als ich vor dem Schlüsselloch des Bureaus stand – wissen Sie, wie sie mich gesehen haben – hörte ich eine Frauensperson sagen, sie wohne hier und sei die Besitzerin des Hauses, in welchem Sie Ihr Logis hätten; Sie seien sehr krank, und es komme Niemand, um Sie zu verpflegen. Herr Braß sagte dann, ›es geht mich nichts an‹, und Miß Sally sagte, ›er ist ein schnurriger Kauz, aber es geht mich nichts an‹; und die Frau ging fort und schlug die Thüre hinter sich zu, kann ich Ihnen sage«. Ich entlief dann in derselben Nacht, um hieher zu kommen, und sagte ihnen, Sie wären mein Bruder, und sie glaubten mir, und so bin ich seitdem hier gewesen.«
»Und diese arme kleine Marquise hat sich fast zum Tode abgemüht!« rief Dick.
»Oh, nicht doch,« versetzte sie, »nicht im Geringste«. Kümmern Sie sich nicht um mich. Ich bleibe gern auf, und Gott behüte, ich habe oft auf einem von diesen Stühlen ein Schläfchen gemacht. Aber wenn Sie hätten mit ansehen können, wir Sie versuchten; aus dem Fenster zu springen, und wenn Sie gehört hätten, wie Sie gesungen und Reden gehalten haben, Sie würden's nicht glauben.
Jetzt bin ich eben so froh, daß es Ihnen besser geht, Herr Liverer« [Fußnote].
»In der That, Liverer!« sagte Dick gedankenvoll. »Es ist gut, daß ich noch ein Liverer bin. Es kommt mir bedeutend vor; ich wäre gestorben, Marquise, ohne dich.«
Herr Swiveller nahm abermals die Hand der kleinen Dienstmagd in die seinige, und da es ihm, wie wir gesehen haben, noch sehr elend war, so hätte er vielleicht in der Bemühung, seinen Dank auszudrücken, seine Augen eben so sehr geröthet, als die ihrigen, wenn sie nicht schnell auf etwas anderes übergegangen wäre, indem sie ihn; drängte, sich niederzulegen und sich recht ruhig zu verhalten.
»Der Doktor sagte,« fuhr sie fort, »Sie müßten sich ganz ruhig verhalten, und es dürfe durchaus kein Lärm oder etwas der Art um Sie sei«. Legen Sie sich also, und dann wollen wir wieder mit einander sprechen. Sie wissen, ich bleibe bei Ihnen auf. Wenn Sie die Augen schließen, so kommen Sie vielleicht zum Schlafen. Es ist nur um so besser, wenn Sie es thun.«
Nach diesen Worten rückte die Marquise einen kleinen Tisch an das Bett, setzte sich dabei nieder und schickte sich an, mit der Gewandtheit eines halben Schocks von Chemikern einen kühlenden Trank zu bereiten. Richard Swiveller, der in der That erschöpft war, verfiel in einen Schlummer, aus dem er nach einer halben Stunde wieder erwachte; dann fragte er, wie es an der Zeit sei.
»Gerade halb sieben vorbei,« versetzte seine kleine Freundin, indem sie ihm im Bette wieder aufhalf.
»Marquise,« sagte Richard, mit der Hand über seine Stirne fahrend und sich plötzlich umwendend, als ob ihm dieser Gegenstand eben erst eingefallen wäre, »was ist aus Kit geworden?«
»Er sei zu vielen Jahren Deportation verurtheilt worden,« lautet« die Antwort.
»Ist er fort?« fragte Dick. – »Seine Mutter – wie geht es ihr – was ist aus ihr geworden?«
Seine Wärterin schüttelte den Kopf und erwiederte, daß sie nichts von ihnen wisse.
»Aber wenn ich glauben könnte,« fügte sie langsam bei, »daß Sir ruhig bleiben und sich nicht in ein anderes Fieber hetzen würden, so könnte ich ihnen etwas sagen – aber ich will jetzt nicht.«
»O, thue es,« sagte Dick. »Es wird mich unterhalten.«
»Ach würde es wirklich?« versetzte die kleine Magd mit einem entsetzten Blick. »Nein, ich weiß dieß besser. Warten Sie, bis Sie sich mehr erholt haben, und dann will ich es Ihnen sagen.«
Dick blickte sehr ernst auf seine kleine Freundin, und der Ausdruck seiner in Folge der Krankheit großen, hohlen Augen erschreckte dieselbe so sehr, daß sie ihn ängstlich bat, nicht mehr daran zu denken. Was ihr jedoch bereits entfallen war, hatte nicht nur seine Neugierde gestachelt sondern ihn auch ernstlich beunruhigt, weshalb er in sie drang, ihm Alles zu sagen, und wenn es das Schlimmste wäre.
»O, es ist nichts so gar Schlimmes daran,« versetzte die kleine Magd. »Es hat nichts mit Ihnen zu schaffen.«
»Hat es zu schaffen oder steht es in Verbindung mit Etwas, was du durch Ritzen oder Schlüssellöcher gehört hast, und was eigentlich für deine Ohren nicht berechnet war?« fragte Dick in einem athemlosen Zustand.
»Ja,« entgegnete die kleine Magd.
»In – in Bevis Marks?« fuhr Dick hastig fort. »Unterhaltungen zwischen Braß und Sally?«
Die kleine Magd antwortete abermals bejahend.
Richard Swiveller streckte seinen hagern Arm aus dem Bette, ergriff den ihrigen bei dem Handgelenk, zog sie näher heran und befahl ihr, und zwar freimüthig damit herauszurücken, sonst könne er für die Folge nicht stehen, da er gänzlich außer Stand sei, diesen Zustand von Aufregung und Erwartung zu ertragen. Sobald sie jedoch den Sturm in seinem Innern bemerkte und die Entdeckung machte, daß die Wirkungen einer Verzögerung ihrer Mittheilung weit nachtheiliger sein würden, als Alles, was eine schleunige Enthüllung möglicherweise veranlassen könnte, so versprach sie unter der Bedingung zu willfahren, daß sich der Kranke vollkommen ruhig verhalte und durchaus nicht auffahren und sich umherwerfen wolle. »Wenn Sie aber etwas der Art zu thun anfangen,« sagte die kleine Magd bei, »so höre ich auf. Lassen Sie sich's also gesagt sein.«
»Du kannst nicht aufhören, ehe du angefangen hast,« sagte Dick. Also heraus damit, mein Schatz! Sprich, Schwester, sprich. Hübsches Mariechen, rede, – o, sage mir, wenn, und sage mir; wo, ich bitte, Marquise, flehendlichst.«
Unfähig, solchen glühenden Ueberredungen zu widerstehen, die Richard so leidenschaftlich ausschüttete, als handle es sich um die feierlichste und ergreifendste Angelegenheit, begann seine Gefährtin folgendermaßen:
»Wohlan! Ehe ich weglief, pflegte ich in der Küche zu schlafen – Sie wissen, wo wir Karten spielten. Miß Sally trug gewöhnlich den Schlüssel zu der Küchenthüre in der Tasche und kam immer des Nachts herunter, um das Licht wegzunehmen und das Feuer auszulöschen. Wenn sie dieß gethan hatte, ließ sie mich im Dunkeln zu Bette gehen, schloß die Thüre von außen ab, steckte den Schlüssel wieder in ihre Tasche und hielt mich eingesperrt, bis sie des Morgens – sehr früh, kann ich Ihnen sagen – wieder herunterkam und mich herausließ. Ich fürchtete mich ganz entsetzlich, so gehalten zu werden, weil ich dachte, wenn einmal Feuer auskäme, so würden sie mich vergessen und nur für sich Sorge tragen. So oft ich daher irgendwo einen alten, rostigen Schlüssel wahrnahm, so las ich ihn auf und probirte, ob er nicht zu der Thüre passe, bis ich endlich im Aschenkeller einen fand, der für meinen Zweck geeignet war.«
Hier machte Herr Swiveller eine ungestüme Demonstration mit seinen Beinen; da jedoch die kleine Magd sogleich zu sprechen aufhörte, so gab er sich wieder zufrieden, entschuldigte sich, daß er einen Augenblick des gegenseitigen Vertrags vergessen hatte, und bat sie, fortzufahren.
»Sie hielten mich sehr kurz,« sagte die kleine Magd. »O, Sie können gar nicht glauben, wie kurz sie mich hielten. Ich pflegte daher Nachts, wenn sie zu Bette gegangen waren, heraufzukommen und im Finstern nach Zwiebackbrocken oder Sandwiches, welche sie in dem Bureau gelassen hatten, oder auch nur nach einem Stückchen Orangenschale zu suchen, um es in kaltes Wasser zu legen und mir weiß zu machen, daß es Wein sei. Haben Sie je Orangenschale in Wasser gekostet?«
Herr Swiveller erwiederte, daß er dieß feurige Getränk nie versucht habe, und drängte auf's Neue seine Freundin, den Faden ihrer Erzählung wieder aufzunehmen.
»Wenn man der Einbildungskraft um ein Namhaftes nachhilft, so ist es gar nicht übel,« fuhr die kleine Magd fort; »andern Falls aber, Sie wissen wohl, könnte es scheinen, als ob es noch ein Bischen mehr Zeitigung ertragen könne. Nun, bisweilen kam ich heraus, nachdem sie bereits zu Bette gegangen waren, bisweilen auch, wie sie wissen, früher; und eine oder zwei Nächte, ehe jener köstliche Lärm in den Bureau vorging – als der junge Mensch gesetzt wurde, – meine ich – kam ich die Treppe herauf, während Herr Braß und Miß Sally bei dem Feuer der Schreibstube saßen. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich kam nur wieder, um wegen des Schlüssels zum Speiseschrank zu lauschen.«
Herr Swiveller zog seine Knie an sich, daß die Bettdecke einen großen Kegel bildete, und legte in sein Gesicht einen Ausdruck der angelegentlichsten Spannung. Da jedoch die kleine Magd wieder inne hielt und ihren Finger erhob, da sank der Kegel ganz sachte wieder zusammen, obschon der Ausdruck seines Antlitzes Bestand hatte.
»Er und sie saßen beim Feuer da,« erzählte die kleine Magd, »und sprachen leise miteinander. Herr Braß sagte zu Miß Sally: ›auf mein Wort,‹ sagte er, ›es ist ein gefährlich Ding, das uns in eine Welt voll Ungelegenheiten bringen kann, und es gefällt mir nur halb.‹ Sie sagte – Sie kennen ihre Weise – sie sagte: ›du bist der hasenherzigste, schwächste und verzagteste Mann, den ich je gesehen habe, und ich denke‹ sagte sie, ›daß ich hätte der Bruder, und du hättest die Schwester werden sollen. Ist nicht Quilp unsere Hauptstütze?‹ sagte sie. ›Gewiß ist er es,‹ sagte Herr Braß. ›Und müssen wir nicht,‹ sagte sie, ›ohne Unterlaß Diesen oder Jenen auf dem Wege des Geschäftsganges zu Grunde richten?‹ ›Gewiß müssen wir das,‹ sagte Herr Braß. ›Was hat es denn zu bedeuten,‹ sagte sie, ›wenn man, Quilp's Wunsche gemäß, diesen Kit ruinirt?‹ ›Es hat natürlich nichts zu bedeuten,› sagte Braß. Dann flüsterten und lachten sie darüber, daß keine Gefahr vorhanden sei, wenn man es gut ausführe, und dann zog Herr Braß sein Taschentuch heraus und sagte: ›Gut,‹ sagte er, ›da ist es – Quilp's eigene Fünfpfundnote. So wollen wir's also in dieser Weise ausführen,‹ sagte er. ›Ich weiß, daß Kit morgen früh kömmt. Wenn er die Treppe hinaufgeht, so gehst du aus dem Wege, und ich will Herrn Richard fortschaffen. Habe ich Kit allein, so halte ich ihn durch ein Gespräch hin und praktizire diese Banknote in seinen Hut. Ich will außerdem die Einleitung treffen,‹ sagte er, ›daß Richard sie darin finden und Zeugniß ablegen muß. Und wenn auf diese Weise Christoph nicht aus Herrn Quilp's Weg geräumt und das Brummen des Herrn Quilp zufriedengestellt wird,‹ sagte er, ›so muß der Teufel sein Spiel darin haben.‹ Miß Sally lachte und sagte: ›das wäre der Plan;‹ und da es den Anschein hatte, als ob sie fortgehen wollten, so wagte ich es nicht, mich länger aufzuhalten, sondern begab mich wieder die Treppe hinunter. – So!«
Die kleine Magd hatte sich allmählich in eine eben so große Aufregung hineingearbeitet, als Herr Swiveller, und versuchte daher nicht, ihn zurückzuhalten, als er sich im Bette aufrichtete und hastig fragte, ob sie diese Geschichte schon irgend Jemand erzählt habe.
»Wie hätte ich können?« versetzte seine Wärterin. »Ich scheute mich fast, nur daran zu denken, und hoffte, der junge Mensch würde losgelassen werden. Als ich sie sagen hörte, man habe ihn trotz seiner Unschuld für schuldig erklärt, da waren Sie fort, und deßgleichen auch der Miethsmann – obgleich ich glaube, ich wäre nicht so keck gewesen, es ihm zu sagen, selbst wenn er da gewesen wäre. Seit ich hier bin, sind Sie nie bei Verstande gewesen, und was wäre Gutes dabei herausgekommen, wenn ich's Ihnen dann mitgetheilt hätte?«
»Marquise,« sagte Herr Swiveller, indem er seine Nachtmütze abriß und sie in das andere Ende der Kammer schleuderte, »wenn du mir einen Gefallen erweisen willst, so ziehe dich einige Minuten zurück und siehe zu, was es für eine Art von Nacht ist; ich will aufstehen.«
»Ach, Sie dürfen nicht an so Etwas denken,« rief seine Wärterin.
»Ich muß in der That,« sagte der Patient, im Zimmer umherschauend. »Wo sind meine Kleider?«
»O, wie bin ich so froh – Sie haben keine,« versetzte die Marquise.
»Ma'am!« rief Herr Swiveller in großer Ueberraschung.
»Ich habe sie alle nach einander verkaufen müssen, um die Sachen zu bezahlen, welche der Doctor für Sie verordnet hat. Aber lassen Sie sich das nicht kümmern,« bat die Marquise, als Dick auf sein Kissen zurücksank. »Sie sind ja in der That zu schwach zum Stehen.«
»Ich fürchte,« sagte Richard mit einer Jammermiene, »daß du Recht hast. Was soll ich thun? Was kann geschehen?«
Nach kurzer Erwägung fiel ihm natürlich ein, daß der erste Schritt darin bestehen müßte, auf der Stelle mit einem von den Herren Garlands in Verkehr zu treten. Es war sehr möglich, daß Herr Abel das Bureau des Notars noch nicht verlassen hatte. In eben so kurzer Zeit, als unser Bericht in Anspruch nimmt, war für die kleine Magd die Adresse mit Bleistift auf ein Stück Papier geschrieben; dann folgte eine mündliche Beschreibung von Vater und Sohn, welche sie in den Stand setzte, jeden von Beiden ohne Schwierigkeit zu erkennen, und eine spezielle Warnung, gegen Herrn Chuckster vorsichtig zu sein, wegen der bekannten Antipathie dieses Gentleman gegen Kit.
Mit diesen gebrechlichen Streitkräften ausgerüstet eilte sie von hinnen, um sich ihres Auftrags, entweder den alten Herrn Garland oder Herrn Abel persönlich nach diesem Gemach zu bringen, zu entledigen.
»So ist also,« sagte Dick, als sie die Thüre langsam schloß, dann aber noch einmal in's Zimmer schaute, um sich zu überzeugen, daß er sich leidlich befinde; »so ist also gar nichts übrig geblieben, – nicht einmal eine Weste?«
»Nein, nichts.«
»Das könnte mich in Verlegenheit bringen, wenn Feuer auskäme,« sagte Herr Swiveller. »Selbst ein Regenschirm würde etwas sein – aber du thatest ganz recht, liebe Marquise. Ohne dich wäre ich gestorben.«