Der Raritätenladen. Fünfundfünfzigstes Kapitel
Von dieser Zeit an erwachte in der Seele des alten Mannes eine ängstliche Besorgtheit um das Kind, welche nie schlummerte oder von ihm wich. Es gibt Saiten im Menschenherzen – fremdartige wechselnde Accorde – die nur der Zufall zum Ertönen bringt und oft gegen die leidenschaftlichste und feierlichste Ansprache stumm und gefühllos bleiben, während sie vielleicht endlich auf die leichteste gelegentliche Berührung anschlagen. In den empfindlichsten oder zerstreutesten Gemüthern findet sich bisweilen ein Zug von Beschaulichkeit, den selten die Kunst leiten oder Gewandtheit unterstützen kann, der aber, wie es oft bei großen Wahrheiten der Fall ist, sich durch einen Zufall enthüllt, wo man sich dessen am allerwenigsten versteht. Von jener Zeit an vergaß der alte Mann keinen Augenblick die Schwäche und Aufopferung des Kindes: und jenem geringfügigen Umstande war es zuzuschreiben, daß er, der sie durch so viele Beschwerlichkeiten und Leiden an seiner Seite sich hatte durchkämpfen sehen, ohne sie für etwas anderes, als für die Theilhaberin des Elendes zu halten, welches er selbst so bitter an seiner Person fühlte und um seinetwillen wenigstens eben so sehr beklagte, als um ihretwillen, zu dem Bewußtsein dessen erwachte, was er ihr schuldig war, und was der viele Jammer aus ihr gemacht hatte. Nein, nicht ein einzigesmal – auch nicht in einem unbewachten Augenblicke, von jener Zeit an bis zum Ende, entfremdete irgend eine Sorge für sich selbst, ein Gedanke an seine eigene Gemächlichkeit oder irgend eine sonstige selbstsüchtige Rücksicht seine Gedanken dem zarten Gegenstande seiner Liebe.
Er pflegte ihr auf und ab zu folgen, und wartete bis sie müde war, damit sie sich auf seinen Arm stützen konnte – er setzte sich ihr gegenüber in die Kaminecke, zufrieden, sie anzusehen, bis sie ihr Köpfchen erhob und ihm zulächelte wie in alten Tagen – er besorgte heimlich diejenigen Haushaltungsobliegenheiten, welche ihren Kräften zu schwer fielen – er stand sogar mitten in kalter, dunkler Nacht auf, um die Schlafende athmen zu hören; und kauerte sich wohl stundenlang an ihrem Bett nieder, blos um ihre Hand berühren zu können. Nur der Allwissende war Zeuge der Hoffnungen, der Besorgnisse und der Gedanken inniger Liebe, welche in diesem einen zerrütteten Gehirne wühlten – nur er kannte die Veränderung, die mit dem armen alten Manne vorgegangen war.
Wochen waren inzwischen vergangen, und das Kind brachte bisweilen, erschöpft, obgleich von keiner sonderlichen Anstrengung, ganze Abende auf einem Ruhebette neben dem Feuer zu. Bei solchen Gelegenheiten brachte der Schulmeister Bücher und las ihr vor; auch verging selten ein Abend, ohne daß der Bachelor zu Besuch kam und ihn abwechselnd in diesem Geschäfte ablöste. Der alte Mann saß da und hörte zu, zwar wenig von den Worten verstehend, aber ohne Unterlaß seine Augen auf das Kind heftend – und wenn sie lächelte oder ihr Gesicht bei dem Gelesenen sich erheiterte, so nannte er die Geschichte schön und gewann sogar eine Vorliebe für das Buch. Wenn bei Gelegenheit ihrer Abendunterhaltungen der Bachelor eine Legende erzählte, die ihr gefiel (was gewöhnlich der Fall war), so gab sich der alte Mann alle Mühe, sie seinem Gedächtniß einzuprägen, und nicht selten, wenn sich der Bachelor entfernte, schlich er ihm nach und bat ihn demüthig, er möchte ihm irgend einen Theil derselben wieder vorsagen, damit auch er es lerne, Nell ein Lächeln abzugewinnen.
Dieß waren jedoch zum Glück nur seltene Gelegenheiten, denn Nell sehnte sich in's Freie, um in ihrem feierlichen Garten spazieren gehen zu können. Es kamen auch Gesellschaften, welche die Kirche sehen wollten, und diese erzählten Andern von dem Kinde, die dann auch kamen, so daß sie sogar um diese Zeit des Jahres fast täglich Besuche hatten. Der alte Mann folgte ihnen dann in kleiner Entfernung durch die öden Räume, horchte auf die Stimme, die er so sehr liebte, und wenn die Fremden sich von Nell verabschiedeten, so pflegte er heranzutreten, um einige Bruchstücke von ihrer Unterhaltung aufzufangen, oder er stellte sich in gleicher Absicht, das graue Haupt unbedeckt, an die Thüre, durch welche sie gehen mußten. Sie lobten stets den Verstand und die Schönheit des Kindes, und er war stolz darauf, sie so sprechen zu hören. Aber was war es, was sie so oft beifügten, was sein Herz zerriß und was ihn veranlaßte, nach irgend einem dunkeln Winkel zu schleichen und daselbst in der Einsamkeit zu schluchzen und zu weinen? Ach! selbst gleichgültige Fremde – sie, die kein anderes Gefühl, als das Interesse eines Augenblicks für sie hatten – sie, die fortgingen, und in der nächsten Woche schon vergessen hatten, daß ein solches Wesen lebte – selbst sie sahen es – selbst sie hatten Mitleiden mit ihr – selbst sie boten ihm so theilnehmend einen guten Tag und flüsterten, wenn sie vorübergingen.
Auch unter den Einwohnern des Dorfes, die alle die arme Nell liebgewonnen hatten, herrschte das gleiche Gefühl – eine Zärtlichkeit, – eine theilnehmende Rücksicht für sie, die sich mit jedem Tage mehrte. Sogar die leichtherzigen und gedankenlosen Schulknaben kümmerten sich um sie. Selbst dem rohesten darunter that es leid, wenn er sie auf seinem Wege nach der Schule nicht auf ihrem gewöhnlichen Platze sah, und er ließ sich den Umweg nicht verdrießen, an ihrem Gitterfenster nach ihr zu fragen. Saß sie in der Kirche, so blickten sie vielleicht verstohlen zu der offenen Thüre herein, aber sie redeten sie nicht an, wenn sie nicht aufstand und auf sie zukam, um mit ihnen zu sprechen. Alle fühlten es, daß Nell hoch über ihnen stehe.
Das Gleiche war der Fall, wenn der Sonntag kam. Es gab in der Kirche nichts als arme Landleute, denn das Schloß, in welchem die alte Familie gelebt hatte, war eine leere Ruine, und auf sieben Meilen im Umkreise lebte nichts, als niedriges Volk. Auch hier, wie anderswo, erweckte Nell Theilnahme. Man sammelte sich vor und nach dem Gottesdienste um sie in dem Portale; kleine Kinder klammerten sich an ihre Schöße und alte Männer und Weiber vergaßen ihr Geplauder, um sie freundlich zu begrüßen. Niemand von ihnen, Alt oder Jung, dachte daran, ohne ein liebevolles Wort an ihr vorbeizugehen. Viele, die drei oder vier Meilen weit herkamen, brachten ihr kleine Geschenke, und selbst die ärmsten und rauhesten hatten einen frommen Wunsch für sie.
Sie hatte sich aus den Kindern, die sie bei ihrem Erscheinen in dem Ort auf dem Kirchhofe spielen sah, eines ausgewählt – dasselbe, welches von seinem Bruder gesprochen hatte. Der Knabe war ihr Liebling, ihr Freund, und saß oft an ihrer Seite in der Kirche, oder klomm mit ihr zu dem Thurmkranze hinauf. Es war ihm eine Lust, wenn er ihr helfen konnte, oder zu helfen vermeinte, und so wurden sie bald fast unzertrennliche Gefährten.
Eines Tages, als Nell einsam an ihrem alten Plätzchen saß und las, kam dieser Knabe mit Thränen in den Augen auf sie zugelaufen, und nachdem er sie einen Augenblick aus scheuer Entfernung angelegentlich betrachtet hatte, schlang er leidenschaftlich seine kleinen Arme um ihren Nacken.
»Was hast du?« fragte Nell ihn beschwichtigend. »Was gibt es denn?«
»Sie ist's noch nicht!« rief der Knabe, sie noch inniger umarmend. »Nein, nein! Noch nicht!«
Sie sah ihn verwundert an, strich ihm das Haar aus dem Gesichte, küßte ihn, und fragte ihn, was er damit sagen wolle.
»Nein, du sollst keiner sein, liebe Nell,« rief der Knabe. »Wir können sie nicht sehen. Sie kommen nie, um mit uns zu plaudern oder zu spielen. Bleibe, was du bist. Es ist so besser.«
»Ich verstehe dich nicht,« versetzte Nell. »Sage mir, was du damit meinst.«
»Ei,« entgegnete der Knabe, indem er ihr in's Gesicht sah, »sie sagen, du würdest ein Engel sein, ehe die Vögel wieder singen. Aber gelt, das magst du nicht? Es ist zwar schön im Himmel, aber du mußt uns nicht verlassen!«
Nell senkte das Haupt und hielt die Hände vor ihr Antlitz.
»Nein, sie mag gar nicht daran denken!« rief der Knabe, durch seine Thränen jubelnd. »Du willst nicht gehen. Du weißt, wie wehe es uns thun würde. Liebe Nell, sage mir, du wollest bei uns bleiben. O! ich bitte, bitte, versprich mir das.«
Das kleine Wesen faltete seine Händchen und kniete zu ihren Füßen nieder.
»Sieh mich nur an, Nell,« sagte der Knabe, »und sage mir, daß du bleiben willst. Ich werde dann wissen, daß sie Unrecht haben, und will nicht mehr weinen. Magst du denn nicht ja sagen, Nell?«
Nell senkte das Haupt, bedeckte ihr Antlitz und verblieb stumm – ihr leises Schluchzen ausgenommen.
Nach einer Weile fuhr der Knabe fort, indem er ihre Hand wegzuziehen suchte:
»Die lieben Engel werden froh sein, wenn sie denken, daß du nicht unter ihnen, sondern hier bei uns geblieben bist. Willy ist auch bei ihnen, aber wenn er gewußt hätte, wie ich ihn Nachts in unserm kleinen Bette vermissen würde, so hätte er mich gewiß nicht verlassen.«
Doch Nell war zu keiner Antwort zu bewegen, denn sie schluchzte fort, als ob ihr das Herz brechen müßte.
»Warum solltest du denn gehen wollen, liebe Nell? Ich weiß, du würdest nicht glücklich sein, wenn du hörtest, daß wir, um deinen Verlust weinen. Sie sagen, Willy sei jetzt im Himmel, und dort habe man immer Sommer. Und doch weiß ich gewiß, es thut ihm leid, wenn ich drunten auf seinem Gartenbette liege und er sich nicht umwenden kann, um mich zu küssen! Aber wenn du gehst, Nell,« fügte der Knabe bei, indem er liebkosend sein Gesicht an das ihrige drückte, »so habe ihn um meinetwillen gern. Sage ihm, daß ich ihn noch immer liebe und wie sehr ich dich geliebt habe. Und wenn ich denke, daß ihr Zwei bei einander und glücklich seid, so will ich versuchen, es zu ertragen und dir nie durch Unarten wehe thun – ja, ich will es gewiß nie!«
Nell gestattete dem Knaben, ihre Hände hinwegzuziehen und sie um seinen Nacken zu schlingen. Es war ein thränenreiches Schweigen; aber es hatte noch nicht lange gedauert, als sie schon wieder den Kleinen mit einem lächelnden Blicke ansah und ihm mit ungemein weicher und ruhiger Stimme versprach, sie wolle bleiben und seine Freundin sein, so lange es der Himmel zulasse. Er schlug freudig seine Hände zusammen und dankte ihr oftmals. Sie gebot ihm sodann, keinem Menschen zu sagen, was zwischen ihnen vorgefallen sei, was er auch auf das Feierlichste versprach.
Er hielt Wort (so viel nämlich Nell davon erfahren konnte), kehrte übrigens nie wieder auf dieses Thema zurück, das ihr schmerzlich geworden zu sein schien, obgleich er sich keinen Grund denken konnte, und fuhr fort, ihr ruhiger Begleiter auf allen ihren Spaziergängen und in ihren Betrachtungsstunden zu sein. Er traute ihr aber doch nicht ganz, denn er kam oft, sogar an späten Abenden, um vor der Thüre außen mit schüchterner Stimme zu fragen, ob sie noch wohlbehalten innen sei; und wenn man ihm dann mit ja antwortete und ihn eintreten ließ, so pflegte er sich auf einen Schemel zu ihren Füßen zu setzen, wo er geduldig verblieb, bis man ihn suchte und heimnahm. Jeder kommende Morgen fand ihn unabänderlich in der Nähe des Hauses, wo er fragte, ob sie wohl sei; und Morgens, Mittags oder Abends ließ er alle seine Spielkameraden und Spiele im Stich, um ihr Gesellschaft zu leisten, wenn er wußte, daß sie irgendwohin ging.
»Und obendrein ist er ein guter, kleiner Freund,« sagte einmal der alte Todtengräber zu ihr. »Als sein älterer Bruder starb – ich sollte eigentlich das Wort alt nicht brauchen, da er erst sieben Jahre zählte – so war es nur dieser Eine, welcher sich den Todesfall sehr ernstlich zu Herzen nahm; ich erinnere mich dessen noch recht gut.«
Nell dachte an das, was der Schulmeister zu ihr gesagt hatte, und fühlte, wie sich die Wahrheit jener Worte sogar an diesem unmündigen Kinde wiederspiegelte.
»Ich glaube, er ist seitdem etwas still geworden,« fuhr der alte Mann fort, »obgleich er, was das anbelangt, zuweilen heiter genug ist. Ich wette, Sie und er haben an dem alten Brunnen etwas gehört.«
»Nein, gewiß nicht,« versetzte Nell. »Ich fürchtete mich, ihm nahe zu kommen, und gehe überhaupt nicht oft in jenen Theil der Kirche, obgleich ich keinen Grund hiefür anzugeben weiß.«
»So kommen Sie mit mir hinab,« sagte der alte Mann. »Ich kenne ihn von Jugend auf. Kommen Sie!«
Sie stiegen die schmalen Treppen hinunter, welche nach der Gruft führten, und machten unter den dunkeln Gewölben an einer finstern und düstern Stelle Halt.
»Dieß ist der Ort,« sagte der alte Mann. »Geben Sie mir Ihre Hand, damit Sie, wenn Sie den Deckel zurückwerfen, nicht stolpern und hinunterfallen. Ich bin zu alt – das heißt, es sitzt mir noch zu sehr in den Gliedern – als daß ich mich bücken könnte.«
»Ein finsterer und schrecklicher Ort!« rief die Kleine.
»Sehen Sie hinunter,« sagte der alte Mann, indem er mit dem Finger nach der Oeffnung deutete.
Nell gehorchte und schaute in die Tiefe hinab.
»Es sieht aus, wie ein leibhaftiges Grab,« sagte der alte Mann.
»Freilich,« versetzte das Kind.
»Es ist mir oft so vorgekommen,« fuhr der Todtengräber fort, »als habe man ursprünglich den Brunnen nur deßhalb gegraben, um den alten Ort noch düsterer, und die alten Mönche noch frömmer zu machen. Er soll aufgefüllt und überbaut werden.«
Das Kind blieb noch immer stehen und sah sich gedankenvoll in dem Gewölbe um.
»Wir wollen sehen,« sagte der Todtengräber, »über welchen frohen Häuptern sich die übrige Erde geschlossen haben wird, wenn es einmal hier mit dem Lichte ein Ende hat. Weiß Gott! Sie wollen den Brunnen zuwerfen – im nächsten Frühjahr.«
»Im Frühjahr singen die Vögel wieder,« dachte Nell, als sie an ihrer Fensterbrüstung lehnte und nach der niedergehenden Sonne schaute. »Der Frühling! Welch eine schöne und glückliche Zeit!«