Der Raritätenladen. Siebenundvierzigstes Kapitel
Kit's Mutter und der ledige Herr – deren Fährte wir eiligen Fußes verfolgen müssen, damit man unserer Geschichte nicht das Vergehen zur Last lege, daß sie ihre handelnden Personen gerne in ungewissen und bedenklichen Lagen stecken lasse – Kit's Mutter also und der ledige Herr flogen in der vierspännigen Postkutsche, die wir von des Notars Hause haben abfahren sehen, von hinnen, hatten bald die Stadt hinter sich und ließen die Funken aus den Kieseln der breiten Landstraße sprühen. Die gute Frau, die ob der Neuheit ihrer Lage nicht wenig verlegen war und auch von gewissen mütterlichen Beängstigungen gequält wurde, der kleine Jakob oder das Büblein, oder vielleicht Beide seien in's Feuer gefallen, die Treppe hinuntergestürzt, hinter Thüren geklemmt worden, oder hätten sich bei einem Versuche, den Durst aus der Röhre des kochenden Theekessels zu löschen, die Kehlen verbrannt – verharrte in einem unruhigen Schweigen; und wenn sie durch das Kutschenfenster den Augen der Schlagbaumwärter, der Omnibuskutscher und Anderer begegnete, so fühlte sie sich in ihrer neuen Würde so ziemlich in der Stellung eines Leidtragenden bei einem Leichenbegängniß, der, nicht sehr betrübt über den Verlust des Hingeschiedenen, aus seinem Trauerwagen heraus seine Alltagsfreunde erkennt, aber eine anständige Feierlichkeit bewahren und dergleichen thun muß, als sei er gegen seine ganze Umgebung gleichgültig.
Um übrigens gegen die Gesellschaft des ledigen Herrn gleichgültig zu bleiben, hätte man nothwendig mit Nerven von Stahl begabt sein müssen. Nie führten Chaise und Pferde einen so rastlosen Mann, als er war. Er blieb nie zwei Minuten lang in der gleichen Haltung sitzen, sondern stieß ohne Unterlaß mit Armen und Beinen um sich, zog die Schiebfenster auf, ließ sie dann ungestüm wieder hinunter, oder steckte den Kopf zu einer Seite des Schlages hinaus, um ihn alsbald wieder hereinzuziehen und zu der andern hinauszustecken. Auch führte er in seiner Tasche ein Feuerzeug von geheimnisvoller und unbekannter Construction, und Kits' Mutter durfte nur die Augen schließen, so ging es sicherlich – ritsch, ratsch, tzschih – und der ledige Herr zog bei dem Lichte des Feuers seine Uhr zu Rath, wobei er die Funken auf das Stroh hinunterfallen ließ, als ob gar keine Möglichkeit vorhanden wäre, daß er selbst und Kit's Mutter lebendig gebraten würden, bevor noch die Postillone ihre Pferde zum Haltmachen bewegen konnten. So oft wegen des Pferdewechsels angehalten wurde, sprang er, ohne den Tritt hinunterzulassen, aus dem Wagen, fuhr wie ein angezündeter Schwärmer in dem Wirthshaushof herum, zog bei dem Lampenlichte seine Uhr heraus und vergaß darauf zu sehen, ehe er sie wieder einsteckte – kurz, er beging so viele Schwindeleien, daß Kit's Mutter sich eigentlich vor ihm fürchtete. Waren dann die Pferde wieder eingespannt, so hüpfte er wie ein Harlequin wieder herein, und ehe sie eine Meile zurückgelegt hatten, kam schon wieder die Uhr und das Feuerzeug heraus, und Kit's Mutter wachte wieder hell auf, ohne die Hoffnung, sich während dieser Station einem kleinen Schläfchen hingeben zu können.
»Fühlen Sie sich auch behaglich?« konnte dann der ledige Herr nach einer oder der andern dieser Großthaten fragen, wobei er sich rasch an seine Begleiterin wandte.
»Vollkommen, Sir; ich danke Ihnen.«
»Ist's auch gewiß? Kömmt es ihnen nicht fröstelig vor?«
»Es ist freilich ein Bischen kühl, Sir,« lautete dann die Antwort von Kit's Mutter.
»Dacht' ich's ja!« rief der ledige Herr und ließ dabei eines der Vorderfenster herunter. »Ich sollte natürlich etwas Branntwein und Wasser für Sie mitgenommen haben; wie könnt ich's auch vergessen. Holla, Schwager! Am nächsten Wirthshaus wird Halt gemacht; ich muß ein Glas heißen Branntweins mit Wasser haben.«
Kit's Mutter betheuerte vergeblich, daß sie derartiger Stärkungen nicht benöthigt sei. Der ledige Herr war unerbittlich; und so oft er sich in allen Arten und Weisen von Unruhe erschöpft hatte, fiel ihm unabänderlich bei, daß Kit's Mutter Wasser und Branntwein brauche.
So reisten sie ungefähr bis um Mitternacht fort und hielten dann an, um ein Abendessen einzunehmen, zu welchem Ende der ledige Herr Alles, was die Speisekammer bot, auftragen ließ; und weil Kit's Mutter nicht von Allem zumal und überhaupt auch nicht Alles ganz aufaß, so setzte er sich in den Kopf, daß sie krank sein müsse.
»Sie sind unwohl,« sagte der ledige Herr, obgleich er selbst nichts that, als in der Stube aus und ab spazieren. »Ich sehe jetzt, woran der Fehler liegt, Ma'am. Sie sind unwohl.«
»Sie sind allzugütig, Sir; aber ich bin es in der That nicht.«
»Ich weiß, Sie sind es. Ich lasse mir's nicht nehmen. Schleppe ich da diese arme Frau aus dem Schooße ihrer Familie, ohne ihr eine Minute Zeit zu lassen, und nun wird sie vor meinen Augen immer schwächer und elender. Ja ich bin ein feiner Bursche! Wie viele Kinder haben Sie, Ma'am?«
»Zwei, Sir, außer Kit.«
»Knaben, Ma'am?«
»Ja, Sir.«
»Sind sie getauft?«
»Noch nicht gehöriger Form, Sir.«
»Ich will Pathe sein für Beide. Vergessen Sie das nicht. Ich glaube, es würde gut sein, wenn Sie etwas Glühwein nähmen.«
»Ich könnte in der That keinen Tropfen anrühren, Sir.«
»Sie müssen,« sagte der ledige Herr. »Ich sehe, Sie haben es nöthig. Ich hätte schon früher daran denken sollen.«
Sofort flog der ledige Herr nach der Glocke und rief so ungestüm nach Glühwein, als brauche man ihn augenblicklich, um eine aus dem Wasser gezogene scheintodte Person wieder zu sich zu bringen; dann mußte Kit's Mutter einen Kelch dieses Getränks so heiß hinunterschlucken, daß ihr die Zähren über die Wangen rannen; und dann transportirte er sie wieder nach der Chaise, wo sie – vielleicht in Folge dieses angenehmen Beschwichtigungsmittels – bald gegen sein unruhiges Treiben unempfindlich wurde und in tiefen Schlaf verfiel. Auch waren die glücklichen Wirkungen dieses Arzneimittels nicht von rasch vorübergehender Natur, denn obgleich die Entfernung größer war und die Reise sich länger hinauszog, als der ledige Herr vermuthet hatte, so erwachte sie doch erst, als es am hellen Tage holpernd über das Pflaster einer Stadt ging.
»Dieß ist der Ort!« rief der ledige Herr, indem er alle Fenster herabließ. »Fahrt nach dem Wachsfigurencabinet!«
Der Postillon auf dem Leitgaule berührte seinen Hut und spornte sein Pferd, damit sie mit dem gebührenden Anstand in die Stadt einführen, worauf alle vier einen hübschen Galopp anschlugen und durch die Straßen dahinsausten, daß die guten Leute verwundert an Thüren und Fenster traten und man nichts von den nüchternen Tönen der Stadtglocken hören konnte, welche eben die Stunde halb neun Uhr ausriefen. Sie fuhren auf eine Thüre zu, um welche eine Menge Menschen versammelt war, und machten daselbst halt.
»Was ist das?« rief der ledige Herr, indem er den Kopf hinausstreckte. »Was giebt's denn hier?«
»Eine Hochzeit! Eine Hochzeit!« antworteten mehrere Stimmen. »Hurrah!«
Der ledige Herr stieg, einigermaßen verblüfft, sich in dem Mittelpunkte eines so lärmenden Gedränges zu sehen, mit Beihülfe eines der Postillons aus und reichte Kit's Mutter die Hand. Als der Pöbelhaufen dessen ansichtig wurde, rief er: »Da giebt's noch eine Hochzeit!« und dann ging ein Gebrülle los; und Alles hüpfte vor Freuden.
»Die Welt ist, glaube ich, toll geworden,« sagte der ledige Herr, als er sich mit seiner angeblichen Braut durch den Haufen drängte. »Macht ein wenig Platz und laßt mich anklopfen.«
Alles, was Lärm macht, ist dem Pöbel willkommen. Ein paar Dutzend schmutziger Hände erhoben sich im Augenblick, um für ihn zu klopfen, und selten hat wohl ein Thürklopfer von gleichem Umfang betäubendere Töne hervorgebracht, als der in Frage stehende bei gegenwärtiger Gelegenheit. Nach Leistung dieses freiwilligen Dienstes zog sich der Haufen bescheiden ein wenig zurück indem er es herzlich gerne dem ledigen Herrn überließ, die Folgen allein zu tragen.
»Nun, Sir, was wollen Sie?« fragte ein Mann mit einer großen weißen Schleife in seinem Knopfloch, welcher die Thüre öffnete und mit einer sehr stoischen Miene dem ledigen Herrn entgegentrat.
»Wer hat hier geheirathet, mein Freund?« fragte der ledige Herr.
»Ich.«
»Sie? Und wem, in's Teufels Namen?«
»Welch ein Recht haben Sie, zu fragen,« entgegnete der Bräutigam, den Andern vom Wirbel bis zur Zehe messend.
»Welch ein Recht?« rief der ledige Herr, indem er den Arm von Kit's Mutter dichter durch den seinigen zog, denn die gute Frau war augenscheinlich im Begriffe, davonzulaufen. »Ein Recht, von dem Sie sich wenig träumen lassen! Ihr guten Leute! ich rufe euch zu Zeugen auf, wenn dieser Bursche da eine Minderjährige geheirathet hat – doch nein, nein, das kann nicht sein. Wo ist das Kind, das Ihr hier habt, mein guter Mann? Nell heißt sie – wo ist sie?«
Sobald er diese Frage vorgebracht hatte, zu welcher Kit's Mutter das Echo abgab, stieß Jemand in einem nahegelegenen Zimmer einen Schrei aus, und eine stämmige Dame in weißer Kleidung kam gegen die Thüre gelaufen, stützte sich sofort auf den Arm des Bräutigams und rief:
»Wo ist sie? Was bringen Sie mir für Neuigkeiten? Was ist aus ihr geworden?«
Der ledige Herr trat verblüfft zurück und sah mit Blicken, in denen Besorgniß, getäuschte Hoffnung und Zweifel mit einander um die Oberhand kämpften, auf das Gesicht der vormaligen Madame Jarley, welche sich diesen Morgen mit dem philosophischen George verehelicht hatte – zur ewigen Wuth und Verzweiflung Herrn Slums, des Poeten. Endlich stotterte er:
»Ich frage Sie, wo sie ist. Wie muß ich Sie verstehen?«
»Ach, Sir!« rief die Braut, »wenn Sie hieher kommen, um etwas Gutes zu erweisen, warum haben Sie es nicht eine Woche früher gethan?«
»Sie ist doch nicht – nicht todt?« entgegnete der Angeredete erblassend.
»Nein, so schlimm ist's wohl nicht.«
»Gott sei Dank!« rief der ledige Herr mit matter Stimme. »Lassen Sie mich eintreten.«
Man zog sich zurück, um ihn einzulassen, und hinter ihm schloß sich die Thüre.
»Meine guten Leute,« sagte er, zu dem neuvermählten Paare sich wendend, »Ihr seht in mir einen Mann, dem das Leben selbst nicht theurer ist, als die zwei Personen, welche ich suche. Sie kennen mich zwar nicht und meine Züge sind ihnen fremd; aber wenn sie hier sind, oder auch nur eines von ihnen hier ist, so bitte ich, zuerst diese gute Frau vorzustellen, welche Beiden bekannt ist. Wolltet Ihr aus mißverstandener Rücksicht oder Furcht für sie die Gesuchten verleugnen, so mögt Ihr meine Absichten aus der Art beurtheilen, wie sie diese ihre alte, bescheidene Freundin aufnehmen werden.«
»Ich habe es immer gesagt!« rief die Braut. »Ich wußte es ja, daß es kein gemeines Kind ist! Aber leider, Sir, steht es nicht in unserer Macht, Ihnen zu dienen, denn wir haben schon Alles, was in unseren Kräften stand, versucht, ohne daß es etwas fruchtete.«
Hierauf erzählten sie ihm unumwunden, was sie über Nell und ihren Großvater wußten, von der Zeit ihres ersten Zusammentreffens an bis herab auf die ihres plötzlichen Verschwindens; sie fügten der Wahrheit gemäß bei, daß sie sich alle nur erdenkliche Mühe gegeben hätten, ihre Spur aufzufinden, ohne zu einem Resultate zu gelangen, und sagten, sie seien anfangs in großer Besorgniß wegen ihrer Sicherheit sowohl, als wegen des Verdachts gewesen, der eines Tages wegen ihres plötzlichen Verschwindens auf sie fallen könnte. Sie verbreiteten sich noch weiter über die Geistesschwäche des altes Mannes, über die Unruhe, welche das Kind immer an den Tag gelegt hatte, wenn er abwesend war, über die Gesellschaft, wegen der man ihn beargwöhnte, und über die stets sich steigernde Niedergeschlagenheit, welche Nell befallen und sowohl ihre Gesundheit, als ihren Frohsinn zerstört habe. Ob sie den alten Mann bei Nacht vermißt habe und ihn, weil sie entweder seinen Aufenthalt kannte oder vermuthete, nachgegangen sei, oder ob sie miteinander das Haus verlassen hätten – hierüber konnten sie durchaus keine Auskunft ertheilen; auch betrachteten sie es für ausgemacht, daß nur wenig Hoffnung vorhanden sei, wieder Etwas von ihnen zu hören, und daß man aus ihre Rückkehr keines Falls rechnen dürfe, mochte nun der Vorschlag zur Flucht von dem alten Manne oder von dem Kinde ausgegangen sein.
Auf all' Dieß horchte der ledige Herr mit der Miene eines von Gram und gebeugter Hoffnung niedergedrückten Mannes. Er vergoß Thränen, als sie von dem Großvater sprachen, und schien auf's Tiefste betrübt zu sein.
Um diesen Theil unserer Erzählung nicht in die Länge zu ziehen und die Geschichte in kurze Worte zu fassen, wollen wir nur ganz gelegentlich andeuten, daß der ledige Herr, noch ehe das Gespräch zum Schlusse kam, hinreichende Ueberzeugung gewann, man habe ihm die reine Wahrheit mitgetheilt; auch suchte er der Braut und dem Bräutigam als dankbare Anerkennung ihrer Güte gegen das freundlose Kind einige Geschenke aufzuzwängen, deren Annahme jedoch auf's Entschiedenste abgelehnt wurde. Endlich fuhr das glückliche Paar in seinem Cabinetswagen fort, um die Flitterwochen des Ehestandes auf dem Lande zuzubringen, indeß der ledige Herr und Kit's Mutter mit betrübten Gesichtern bei ihrer eigenen Postkutsche zurückblieben.
»Wo sollen wir jetzt hinfahren, Sir?« fragte der Postillon.
»Ei, so fahrt meinetwegen zum – –«
Der ledige Herr hatte wohl nicht im Sinne, das Wörtchen »Wirthshaus« beizufügen, that es aber doch um Kit's Mutter willen; und so ging es denn nach dem Wirthshause.
Es hatte sich schnell das Gerücht verbreitet, das kleine Mädchen, welches das Wachsfigurencabinet zu zeigen pflegte, sei das Kind vornehmer Leute, welches von der Wiege weg seinen Eltern gestohlen worden, und dem man eben jetzt erst auf die Spur gekommen sei. Die Ansichten, ob ihr Vater ein Prinz, ein Herzog, ein Graf, ein Viscount oder ein Baron wäre, standen zwar nicht ganz im Einklange, aber doch hielt man die Hauptthatsache für ausgemacht und den ledigen Herrn für ihren Vater, weßhalb denn auch Alles herandrängte, um etwas von ihm, wäre es auch nur die Spitze seiner edlen Nase, zu sehen, als er in seiner vierspännigen Kutsche trostlos von hinnen fuhr.
Was würde er dafür gegeben haben und wie viel Kummer und Sorgen wären erspart geblieben, wenn er gewußt hätte, daß in jenem Augenblicke Kind und Großvater bei dem alten Kirchenportale saßen und geduldig die Rückkehr des armen Schulmeisters erwarteten!