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Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band-36
日期:2018-01-05 15:08  点击:280
Der Raritätenladen. Siebenundzwanzigstes Kapitel
Als sie eine kurze Strecke langsam weiter gereist waren, wagte es Nell, sich verstohlen in dem Wagen umzusehen und ihn genauer zu betrachten. Die eine Hälfte desselben, wo zur Zeit die behagliche Eigenthümerin Platz genommen hatte, war mit Teppichen belegt und an dem äußersten Ende so abgetheilt, daß sie eine Art Schlafgemach, nach Weise der Kojen auf einem Schiffe, bildete, welches, wie die kleinen Fenster, mit schönen weißen Vorhängen beschattet war und gemächlich genug aussah, obgleich es als ein unerklärliches Geheimniß erscheinen mochte, durch welche Art gymnastischer Uebung es der Caravanendame je möglich wurde, hineinzukommen. Die andere Hälfte diente als Küche und war mit einem Ofen ausgestattet, dessen Kamin durch das Dach ging; auch enthielt sie einen Speiseschrank, mehrere Truhen, einen großen Krug mit Wasser, Kochgeräthschaften und einige Töpferwaaren. Die letzteren Utensilien hingen an den Wänden, welche in der für die Caravanendame bestimmten Abtheilung mit einigen heiteren und leichteren Ornamenten, zum Beispiel einem Triangel und einem Paar sehr abgegriffener Tambourinen verziert waren.
Die Dame selber saß in vollem Stolze und in aller Poesie dieser musikalischen Instrumente an dem einen Fenster, während die kleine Nell und ihr Großvater in der ganzen Demuth des Kessels und der Pfannen an dem andern ihren Platz hatten; und mittlerweile holperte, die immer dunkler werdende Aussicht nur sehr langsam kürzend, der Wagen weiter. Anfangs sprachen unsere zwei Wanderer wenig und nur in flüsternden Lauten; als sie aber allmählig mit dem Orte vertrauter wurden, wagten sie es mit größter Freimüthigkeit sich zu unterhalten, denn sie sprachen nur von der Gegend, durch welche sie fuhren, und den verschiedenen Gegenständen, welche sich ihre Augen verdarben, bis der alte Mann einschlief. Als die Caravanendame dieß bemerkte, lud sie Nell ein, heranzukommen und an ihrer Seite Platz zu nehmen.
»Nun, Kind,« sagte sie, »wie gefällt dir diese Art zu reisen?«
Nell versetzte, daß sie dieselbe in der That für sehr angenehm halte, und die Dame pflichtete ihr für den Fall bei, daß die Leute noch gehörig Lebensgeister besäßen. »Sie, für ihre Person,« sagte sie, wäre in dieser Beziehung mit einer Herabgestimmtheit heimgesucht, welche ein unaufhörliches Reizmittel fordere,« obgleich sie sich nicht darüber auszudrücken beliebte, ob das genannte Reizmittel aus der verdächtigen Flasche, deren wir bereits erwähnt haben, oder aus andern Quellen flösse.
»Das ist das Glück von euch jungen Leuten,« fuhr sie fort; »ihr wißt nicht, was eine Abspannung der Gefühle ist. Auch habt ihr stets einen guten Appetit – und was liegt nicht hierin für ein Trost?«
Nell dachte, sie könnte zuweilen ihres Appetites recht bequem entbehren, und meinte auch außerdem, es sei in der äußern Erscheinung der Dame oder in ihrer Art Thee zu trinken. Nichts zu finden, was zu der Folgerung berechtigte, daß ihr natürlicher Geschmack für Speise und Trank besonders nothgelitten habe. Sie nickte jedoch pflichtschuldigst zu den Worten der Dame eine stumme Bejahung und wartete, bis sie fortfahren würde.
Statt aber zu sprechen, sah sie das Kind geraume Zeit schweigend an, stand dann auf und holte aus einem Winkel eine sehr lange und ellenbreite Rolle Leinwand, welche sie auf den Boden legte und mit dem Fuße ausbreitete, bis sie fast von einem Ende des Wagens bis zum andern reichte.
»Da, mein Kind,« sagte sie, »lies mir dieses.«
Nell trat an das Ende der Rolle und las laut die mit schwarzen Riesenbuchstaben gemalte Inschrift:
» JARLEY'S WACHSFIGURENCABINET.«
 
»Lies es noch einmal,« sagte die Dame selbstgefällig.
»Jarley's Wachsfigurencabinet,« wiederholte Nell.
»Das bin ich,« sagte die Dame. »Ich bin Madame Jarley.«
Während die Caravanendame Nelly einen ermuthigenden Blick zuwarf, welcher ihr die Versicherung geben sollte, daß sie, obgleich sie in der Gegenwart der eigentlichen Madame Jarley stehe, doch nicht ganz überwältigt und niedergedrückt zu sein brauche, entfaltete sie eine andere Rolle mit der Inschrift: »Einhundert Figuren in voller Lebensgröße,« und dann wieder eine, auf welcher geschrieben war: »Die staunenerregende Sammlung von wirklichen Wachsfiguren, die einzige in der Welt,« und dann mehrere kleine Rollen mit Inschriften, wie: »Wird eben innen gezeigt« – »Die ächte und einzige Jarley« –»Jarley's unvergleichliche Sammlung« – »Jarley ist das Entzücken des hohen Adels und des verehrlichen Publikums« – »Die königliche Familie gehört zu Jarley's Gönnern.« Nachdem sie diese Wunderthiere von Placaten dem erstaunten Kinde gezeigt hatte, brachte sie die Specimina von geringerer Brut in der Gestalt von Handzetteln zum Vorschein, deren Inhalt zum Theil in die Form von Parodien auf Volkslieder gebracht war, zum Beispiel: »Glaube mir, denn Jarleys sind so selten« – »Ich schaute deine Pracht in meinen Jugendjahren« – »Ueber's Meer zu Jarley«, – während andere, um jedem Geschmack zuzusagen, in scherzender Weise als Parodie auf das beliebte Liedchen: »Oh, hätt' ich einen Esel,« abgefaßt waren: eines derselben fing folgendermaßen an:
»Hört' irgendwo ich einen Esel schrei'n: 
›Geht nicht in Jarley's Cabinet hinein‹; 
Glaubt ihr, ich achtet' sein? O nein, o nein! 
D'rum lauft zu Jarley's.«
 
Außer diesen kamen noch mehrere Compositionen in Prosa, als zum Beispiel: angebliche Dialoge zwischen dem Kaiser von China und einer Auster, oder dem Erzbischof von Canterbury und einem Dissenter über die Kirchensteuer, die aber alle zu dem gleichen Schlußsatz führten, nämlich, daß der Leser zu Jarley eilen solle, und daß Kinder und Dienstboten nur die Hälfte bezahlen. Nachdem Madame Jarley alle diese Belege für ihre wichtige Stellung in der Gesellschaft vorgezeigt hatte, um auf ihre Gefährtin den gehörigen Eindruck zu machen, rollte sie dieselben wieder zusammen, verwahrte sie sorgfältig, setzte sich nieder und warf einen triumphirenden Blick auf das Kind.
»Jetzt darfst du aber nie mehr mit schmutzigen Polichinellen Kameradschaft machen,« sagte Madame Jarley.
»Ich habe noch nie ein Wachsfigurencabinet gesehen, Madame,« entgegnete Nelly. »Ist es possierlicher, als der Polichinell?«
»Possierlicher?« rief Madame Jarley mit schriller Stimme. »Es ist ganz und gar nicht possierlich.«
»Oh!« erwiederte Nell mit allermöglichen Demuth.
»Es ist durchaus nicht possierlich,« wiederholte Madame Jarley. »Es ist ruhig und – wie heißt doch nur das Wort – kritisch? Nein – classisch? Ja, das ist es, es ist ruhig und classisch. Kein gemeines Klopfen und Prügeln, keine Possenreißerei und Krakelei, wie bei deinen unvergleichlichen Polichinellen, sondern stets dasselbe, mit der nie wechselnden Miene von Kaltblütigkeit und Anstand – und so ganz Leben, daß du, wenn die Wachsfiguren sprächen und umhergingen, kaum einen Unterschied merktest.
Ich will zwar nicht so weit gehen, um zu sagen, daß ich Wachsfiguren, ganz dem Leben gleich, gesehen habe; das aber kann ich mit Bestimmtheit behaupten, daß mir schon lebende Menschen vorgekommen sind, die ganz wie Wachsfiguren aussahen.«
»Sind sie hier, Madame?« fragte Nell, deren Neugierde durch die Beschreibung geweckt war.
»Wen meinst du, Kind?«
»Die Wachsfiguren, Madame.«
»Barmherziger Himmel! Kind, was fällt dir ein – wie könnte eine solche Sammlung hier sein, wo du alles sehen kannst, ausgenommen das Innere von einem kleinen Speiseschrank und einigen Koffern? Sie sind in den andern Wagen nach den Cabinetszimmern vorausgegangen, wo sie übermorgen ausgestellt werden. Du gehst nach derselben Stadt und wirst sie hoffentlich auch sehen. Ich finde es ganz natürlich, daß du darauf gespannt bist, und zweifle nicht, daß du kommen wirst. Gewiß, du könntest nicht wegbleiben, und wenn du es auch so sehr versuchtest.«
»Ich werde mich, glaube ich, nicht in der Stadt aufhalten, Madame,« sagte das Kind.
»Nicht dort?« rief Madame Jarley. »Und wo wollt ihr denn hin?«
»Ich – ich weiß es selber nicht genau. Wir sind noch unschlüssig.«
»Du willst damit doch nicht sagen, daß ihr im Lande herumreist, ohne zu wissen, wohin?« sagte die Caravanendame. »Seid ihr nicht wunderliche Leute! In welcher Branche arbeitet ihr? Du kamst mir bei dem Pferderennen vor, als ob du garnicht in deinem Element und nur zufällig dort wärest.«
»Wir waren auch nur zufällig dort,« entgegnete Nell verwirrt über diese verfängliche Frage. »Wir sind arme Leute und wandern eben so umher. Wir haben nichts zu thun – wir hätten –«
»Du setzest mich immer mehr und mehr in Erstaunen,« erwiederte Madame Jarley, nachdem sie eine Weile eben so stumm, als eine ihrer Figuren dagesessen hatte. »Was seid ihr denn eigentlich? Doch nicht Bettler?«
»In der That, Madame, ich weiß nicht, was wir anders sind,« versetzte das Kind.
»Ei du mein Himmel!« rief die Caravanendame; »so etwas habe ich doch in meinem Leben nicht gehört! Wer hätte auch das gedacht?«
Nach diesem Ausruf folgte eine so lange, stumme Pause, daß Nell fürchtete, die Dame halte es für eine Verletzung ihrer Würde, die durch nichts mehr gut gemacht werden könne, daß sie sich hatte bewegen lassen, so arme Leute mit ihrem Schutz und ihrer Unterhaltung zu beglücken. Diese Besorgniß wurde auch ziemlich durch den Ton bestätigt, worin ihre bisherige Wohlthäterin endlich das Schweigen unterbrach.
»Und doch kannst du lesen,« sagte sie. »Vermuthlich auch schreiben – es sollte mich nicht wundern.«
»Ja, Madame,« versetzte das Kind, welches durch dieses Bekenntniß neuen Anstoß zu geben fürchtete.
»Nun, und was das nicht hübsch ist,« entgegnete Madame Jarley. »Ich kann's nicht!«
Nell entgegnete ein »das wäre« in einem Tone, der vielleicht andeuten mochte, daß sie sich mit Grund wundere, wie die ächte und einzige Jarley, das Entzücken des hohen Adels und des verehrlichen Publikums und das besondere Schooßkind der königlichen Familie, mit solchen allgemeinen Fertigkeiten unbekannt sein sollte, vielleicht aber auch, daß sie annahm, eine so große Dame könne kaum einer so ordinären Kunst benöthigt sein. In welchem Sinne aber auch Madame Jarley diese Antwort nehmen mochte, – keines Falls gab sie zur Zeit Anlaß zu weiteren Fragen oder sonstigen Bemerkungen, denn die Besitzerin des Wachsfigurencabinets verfiel in ein gedankenvolles Schweigen und verblieb so lange in diesem Zustand, daß Nell an das andere Fenster zu ihrem Großvater sich zurückzog, der inzwischen erwacht war.
Endlich schüttelte die Caravanendame ihre contemplative Stimmung wieder ab und rief den Fuhrmann an ihr Fenster, mit dem sie sich lange flüsternd besprach, als ob sie hinsichtlich eines wichtigen Punktes seinen Rath einhole, und dabei das pro und contra eifrig erwäge. Als endlich diese Rücksprache ein Ende genommen hatte, zog sie den Kopf wieder zurück und winkte Nell, heranzukommen.
»Und der alte Herr auch,« sagte Madame Jarley, »denn ich habe ein Wörtchen mit ihm zu sprechen. Wünschten Sie wohl eine gute Stellung für ihre Enkelin? Wenn das der Fall ist, so kann ich Gelegenheit dazu verschaffen. Was sagen Sie dazu?«
»Ich kann sie nicht verlassen,« antwortete der alte Mann. »Wir können uns nicht trennen. Was würde aus mir werden ohne sie?«
»Ich dächte, wenn je Einer, so wären Sie alt genug, für sich selber zu sorgen,« entgegnete Madame Jarley in scharfem Tone.
»Ach nein,« sagte das Kind mit angelegentlichem Flüstern; »ich fürchte, er wird es nie wieder können. Bitte, reden Sie nicht hart mit ihm. Wir sind Ihnen sehr zu Danke verpflichtet,« fügte sie laut bei, »aber Keines von uns kann sich von dem Andern trennen, und wenn alle Reichthümer der Welt zwischen uns getheilt würden.«
Madame Jarley war etwas verblüfft über diese Aufnahme ihres Vorschlags und blickte den alten Mann, welcher Nell's Hand zärtlich in der seinigen hielt, in einer Weise an, als könnte sie recht wohl seiner oder überhaupt seines irdischen Daseins entbehren. Nach einer bedrückenden Pause steckte sie abermals den Kopf zum Fenster hinaus und hielt mit dem Kutscher eine weitere Zwiesprache über den gleichen Punkt, obgleich sie jetzt nicht so bald einig zu werden schienen, als vorhin; endlich kam es aber doch zu einer Entscheidung, und sie redete auf's Neue den Großvater an.
»Wenn Sie wirklich geneigt sind, ein Geschäft zu übernehmen,« sagte Madame Jarley, »so gibt es eine Menge für Sie zu thun; Sie können die Figuren ausstäuben helfen, die Billets abnehmen und so weiter. Ihre Enkelin würde sich dazu qualifiziren, der Gesellschaft das Cabinet zu zeigen; sie würde das bald loskriegen und hat überhaupt eine Weise an sich, die den Leuten nicht unangenehm sein dürfte, obgleich sie nach mir auftritt, denn ich war stets gewohnt, meine Gäste selbst herumzuführen, was ich auch jetzt noch thun sollte, wenn meine Lebensgeister nicht absolut einer kleinen Ruhe bedürften. Bedenken Sie sich wohl, es ist kein gewöhnliches Anerbieten,« sagte die Dame, ganz in den Ton verfallend, womit sie ihr Publikum anzureden pflegte; »es ist Jarley's Wachsfigurencabinet – das nicht zu vergessen! Die Verrichtung ist ganz leicht und anständig. Die Gesellschaft auserlesen und die Vorstellung findet in Versammlungssälen, Rathhäusern, großen Gasthofsgelassen oder Auctionsgallerien statt. Wohl zu merken, bei Jarley's gibt es kein Vagabondiren auf offener Straße; auch findet sich, nicht zu vergessen, bei Jarley's weder Leinwand noch Sägemehl. Jede durch die Zettel verheißene Erwartung wird im höchsten Grade gerechtfertigt, und das Ganze macht einen Effekt von imponirendem Glanz, der bisher in dem Königreiche nicht seines Gleichen hatte. Bemerken Sie, daß der Eintrittspreis nur sechs Pence beträgt, und daß sich eine solche Gelegenheit vielleicht nie wieder finden wird.«
Sobald Madame Jarley diese sublime Höhe erreicht hatte, stieg sie wieder zu den Einzelnheiten des gemeinen Lebens herunter, indem sie bemerkte; hinsichtlich des Gehaltes könne sie sich zu keiner bestimmten Summe verpflichten, bis sie sich hinreichend von Nell's Fähigkeiten überzeugt und die Art, wie sich dieselbe ihrer Obliegenheiten entledige, sorgfältig beobachtet habe; sie mache sich jedoch anheischig, das Mädchen und den Großvater zu verköstigen und für ihre Wohnung zu sorgen; auch gebe sie noch außerdem ihr Wort, daß die Kost stets in guter Qualität und in reichlicher Quantität vorhanden sein solle. –
Während Nell und ihr Großvater mit einander zu Rathe gingen, spazierte Madame Jarley, die Hände auf den Rücken gelegt, mit ungemeiner Würde und Selbstschätzung in dem Wagen auf und ab, wie sie es nach dem Theetrinken auf der schlechten Erde gethan hatte. Jedenfalls ist dies kein so geringfügiger Umstand und verdient recht wohl der Erwähnung, wenn man bedenkt, daß der Wagen die ganze Zeit über in einer sehr unruhigen Bewegung war, und daß unter solchen Umständen nur eine Person von großer, natürlicher Stattlichkeit und erworbener Grazie das Stolpern vermeiden konnte.
»Nun, Kind,« rief Madame Jarley, Halt machend, sobald Nelly sich zu ihr wandte.
»Wir sind Ihnen sehr verpflichtet, Madame, und nehmen dankbar Ihr Anerbieten an.«
»Und es soll dich gewiß nie reuen,« entgegnete Madame Jarley; »davon bin ich überzeugt. Nun aber die Sache abgemacht ist, wollen wir einen Bissen zu Mittag speisen.«
Der Wagen holperte inzwischen fort, als ob er auch Doppelbier getrunken hätte und schläfrig wäre, bis er endlich das Straßenpflaster einer Stadt erreichte, wo kein Mensch sich mehr sehen ließ und Alles eine tiefe Ruhe bekundete, denn es war jetzt fast Mitternacht und die Einwohnerschaft sammt und sonders in ihren Betten. Da es zu spät war, um nach dem Ausstellungslocale zu gehen, so bogen sie nach einem Stück unbebauten Grundes ein, welches gerade innerhalb des alten Stadtthores lag, und schlugen daselbst ihr Nachtquartier auf – hart neben einem andern Wagen, welcher, trotz dem, daß er auf der gesetzlichen Tafel den großen Namen Jarley trug und außerdem die Wachsfiguren, den Stolz des Landes, von Ort zu Ort führen mußte, von einem niedrigdenkenden Steueramte als »gemeiner Frachtwagen« bezeichnet und sogar nummerirt – sieben tausend und etliche hundert – worden war, als ob seine kostbare Last aus eitel Mehl oder Kohlen bestände!
Da diese mißhandelte Equipage leer war (sie hatte nämlich ihren Inhalt bereits an das Ausstellungslocal abgeliefert, und wartete hier nur, bis ihre Dienste wieder in Anspruch genommen wurden), so erhielt der alte Mann die Weisung, dort seine Schlafstelle einzurichten, und in seinen hölzernen Wänden besorgte ihm Nell ein so gutes Bette, als dies bei den verhandenen Materialien möglich war. Sie selbst sollte in Madame Jarley's eigenem Reisewagen schlafen – zum ausdrücklichen Zeichen der Gunst und des Vertrauens, worin sie bei jener Dame stand.
Sie hatte ihren Großvater verlassen und wollte eben zu dem andern Wagen zurückkehren, als sie sich durch die liebliche Kühle der Nacht versuchen ließ, noch ein wenig in der freien Luft zu verweilen. Der Mond schien auf das alte Stadtthor nieder, den niedrigen Bogendurchgang ganz im Dunkeln lassend, und mit einem gewissen Gefühl von Neugierde und Furcht näherte sie sich langsam demselben, blieb stehen und wunderte sich, wie finster, grauenhaft, alt und kalt es darin aussah.
Es war eine leere Nische vorhanden, aus der vielleicht vor Jahrhunderten irgend eine Statue heruntergefallen oder weggeführt worden war, und Nell machte sich eben ihre Gedanken, auf was für wunderliche Leute dieselbe, als sie noch oben gestanden hatte, herabgesehen haben mochte, wie sie vielleicht Zeuge mancher schweren Kämpfe hatte sein müssen, und wie viele Mordthaten möglicher Weise an diesem stummen Orte geschehen waren, als plötzlich aus dem schwarzen Schatten des Bogens eine männliche Gestalt auftauchte. Sie erkannte dieselbe augenblicklich – wer hätte auch nicht im Nu den häßlichen, mißgestalteten Quilp erkennen sollen?
Die Straße war so schmal und die Schatten der Häuser auf der einen Seite so tief, daß er aus der Erde gestiegen zu sein schien. Aber da war er! Nell schlüpfte in einen dunkeln Winkel und sah ihn hart an ihr vorbeigehen. Er hatte einen Stock in der Hand, und als er aus dem Dunkel des Durchgangs herauskam, lehnte er sich auf denselben, sah zurück – wie es schien, genau nach der Stelle, wo das Mädchen stand – und winkte.
Ihr? – Oh nein, Gott sei Dank, nicht ihr; denn als sie in Todesängsten dastand und nicht wußte, ob sie um Hilfe rufen, oder aus ihrem Verstecke entfliehen sollte, tauchte, ehe er noch näher kommen konnte, langsam eine andere Gestalt aus dem Bogen auf, nämlich die eines Knaben, welcher auf seinem Rücken einen Pack trug.
»Geschwinder, Schlingel!« rief Quilp, indem er an dem alten Thore hinaufblickte und im Mondlichte wie irgend ein monströses Bild aussah, das aus der Nische herabgekommen war und nun nach seinem alten Hause zurückschaute. »Geschwinder!«
»Es ist eine schrecklich schwere Last, Sir,« entschuldigte sich der junge Mensch. »Wenn man dieß berücksichtigt, so bin ich sehr schnell gegangen.«
»So, du bist also schnell gegangen?« entgegnete Quilp; »du kriechst ja, du schleichst, du legst einen Weg zurück, wie ein Wurm, du Galgenstrick. Da tönen jetzt die Glocken – halb ein Uhr.«
Er hielt inne, um zu horchen, wandte sich dann so plötzlich und wüthend an den Jungen, daß derselbe zusammenfuhr und fragte, um welche Stunde die Londoner Kutsche an der Straßenecke vorbeikomme. Der Junge antwortete, um Ein Uhr.
»So komm denn,« sagte Quilp, »oder es wird zu spät. Schneller – hörst du? – schneller!«
Der Junge sputete sich aus Leibeskräften, und Quilp ging voran, wobei er sich beständig drohend umwandte und seinen Begleiter zu größerer Eile drängte. Nell wagte es nicht, sich zu rühren, bis sie nichts mehr von den Beiden sehen und hören konnte, und dann eilte sie nach dem Orte zurück, wo sie ihren Großvater verlassen hatte; denn es war ihr, als ob schon die Nähe des Zwerges ihn mit Schrecken und Unruhe erfüllt haben müßte. Er schlief jedoch fest, und so zog sie sich leise wieder zurück.
Während sie sich nach-ihrem Nachtlager begab, beschloß sie, des Vorfalles nicht zu erwähnen; denn was immer auch der Grund von des Zwerges Anwesenheit sein mochte (und sie fürchtete, er habe nach ihnen gespäht), so erhellte doch aus seiner Frage nach der Londoner Kutsche, daß er auf dem Heimwege begriffen sei, und da er an diesem Orte bereits gewesen, so ließ sich mit Fug annehmen, daß sie jetzt hier weit eher, als an jedem andern Orte vor seinen Nachforschungen gesichert waren. Diese Betrachtungen vermochten jedoch nicht, ihre eigene Unruhe zu verscheuchen, denn sie war zu sehr erschrocken, um sich so leicht wieder fassen zu können; und es war ihr, als würde sie von einer ganzen Legion Quilpen umschwärmt und als wäre sogar die Luft voll davon.
Das Entzücken des hohen Adels und des verehrlichen Publikums, und das gehegte Schoßkind der königlichen Familie war inzwischen durch irgend einen, nur ihr bekannten Selbstverkleinerungsprozeß in ihr Reisebette gelangt, wo sie friedlich schnarchte, während der große Hut, sorgfältig auf der Trommel niedergelegt, seine Herrlichkeit in dem trüben Lichte einer Lampe entfaltete, die von der Decke herabhing. Nelly's Bett war bereits auf dem Boden ausgebreitet und es gewährte ihr eine große Beruhigung, als sie unmittelbar nach ihrem Eintritt die Treppe wegnehmen hörte und daher der Ueberzeugung leben durfte, daß jeder unmittelbare Verkehr zwischen außen befindlichen Personen und dem Messingklopfer durch diese Vorkehrung wirksam abgeschnitten war. Außerdem bekundeten gewisse Kehllaute, welche von Zeit zu Zeit durch den Boden des Wagens heraufkamen, und das Rasseln von Stroh in derselben Richtung, daß der Fuhrmann auf der Erde unter dem beweglichen Hause sein Lager aufgeschlagen hatte, wodurch gleichfalls ihr Gefühl von Sicherheit erhöht wurde.
Aber ungeachtet eines solchen Schutzes wurde doch ihr Schlaf die ganze Nacht über durch häufiges schreckhaftes Auffahren unterbrochen; denn Quilp zog sich durch ihre unruhigen Träume und erschien irgendwie in Verbindung mit dem Wachsfigurencabinet, bald selbst als Wachsfigur, bald als Madame Jarley und Wachsfigur zugleich, oder als er selbst, als Madame Jarley, als Wachsfigur und als Drehorgel, Alles in einem, und doch wieder keines von Allem ganz. Endlich gegen Anbruch des Tages kam jener tiefe Schlaf über sie, welcher gewöhnlich der Ermattung und dem Nachtwachen folgt, und der nur das Bewußtsein eines überwältigenden und unwiderstehlichen Genusses mit sich führt. 

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