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美国纪行:Aufzeichnungen aus Amerika-6. Kapitel New York
日期:2017-12-05 09:50  点击:208
Die schöne Metropole Amerikas ist keineswegs eine so saubere Stadt wie Boston, doch haben manche ihrer Straßen dieselben Eigentümlichkeiten, ausgenommen, daß die Häuser nicht ganz so frisch angestrichen, die Firmenschilder nicht ganz so bunt, die vergoldeten Buchstaben nicht ganz so golden, die Ziegel nicht ganz so rot, die Steine nicht ganz so weiß, die Jalousien und Hausgeländer nicht ganz so grün, die Knöpfe und Schilder an den Haustüren nicht ganz so hell und glänzend sind. Man sieht hier viele Nebenstraßen, die fast ebensowenig reine Farben und ebensoviel schmutzige haben wie die Seitengassen in London; und es gibt einen Stadtteil, gewöhnlich die Five Points genannt, der sich in bezug auf Schmutz und Unsauberkeit getrost neben Seven Dials oder einen andern Teil des berüchtigten St. Giles's stellen kann.
Die große Promenade und Hauptstraße, wie die meisten Leute wissen, ist der Broadway, eine breite, geräuschvolle Straße, die von den Battery Gardens bis zu ihrem entgegengesetzten Ausgang auf eine Landstraße vier englische Meilen lang sein mag. Wollen wir uns, lieber Leser, in einer oberen Etage des Carlton House Hotel (welches im besten Teile dieser Hauptschlagader von New York liegt) niedersetzen und, wenn wir es müde sind, auf das Leben und Treiben unten hinabzublicken, Arm in Arm hinausgehen und uns unter die Menschenmenge mischen?
*
Es ist heiß! Die Sonne sticht uns an diesem offenen Fenster auf die Köpfe, als ob ihre Strahlen durch ein Brennglas fielen; allein der Tag ist in seinem Zenit und die Jahreszeit ungewöhnlich schön. Kann es wohl eine sonnigere Straße geben als diesen Broadway? Die Pflastersteine sind von den ewigen Fußtritten glänzend poliert, die roten Ziegel der Häuser sehen aus, als wären sie noch auf der Darre, und die Dächer der Omnibusse sehen aus, daß man glaubt, sie müßten zischen, rauchen und wie halb gelöschtes Feuer riechen, wenn man sie mit Wasser begösse. Die Omnibusse nehmen gar kein Ende! In ein paar Minuten sind wenigstens ein halbes Dutzend vorbeigefahren. Auch eine Masse Mietkabriolets und Kutschen, Gigs, Phaetons, großrädrige Tilburys und Privatequipagen, die etwas plump gebaut sind und sich nicht sehr von Diligencen unterscheiden, aber auch für die schwierigeren Wege außerhalb des Straßenpflasters berechnet sind. Weiße sowohl wie Negerkutscher, in Strohhüten, schwarzen und weißen Hüten, in Lederkappen und Pelzmützen, in hellgrauen, schwarzen, braunen, grünen, blauen Röcken, in Anzügen aus Nanking oder gestreiftem Barchent und Leinen; und da, das einzige Beispiel – seht ihn euch an, ehe er vorübergeht –, ein Livreebedienter. Es muß ein Republikaner aus dem Süden sein, der seine Schwarzen in Uniform steckt und sich mit sultanischem Pomp aufbläht. Dort, wo jener Phaeton hält, bei den wohlgestutzten Grauen – den Zügel in der Hand – steht ein Yorkshirer Stallknecht, der sich eben nicht lang in diesem Weltteil zu befinden scheint und mit ängstlicher Sehnsucht sich umsieht, ob er nicht irgendwo einen Genossen erblicke, der auch Stulpenstiefel trägt. Ach, er mag ein halbes Jahr die Stadt durchwandern, und seine Sehnsucht wird nicht erfüllt. Und wie die Damen gekleidet gehn, der Himmel sei ihnen gnädig! Wir haben seit zehn Minuten mehr bunte Farben gesehen als sonst irgendwo in ebenso vielen Tagen. Was für verschiedenartige Parasols! was für regenbogenfarbige Seiden- und Atlaskleider! Was für dünne, geschweifte und gezackte kleine Schuhe und Strümpfe, was für flatternde Bänder und Troddeln, was für reiche Mäntel mit prunkendem Futter und Kragen! Die jungen Herren, seht ihr, schlagen gern ihre Hemdkragen um und kultivieren den Bart, besonders unter dem Kinn. Ihr Byrons vom Kontor und Zähltisch, vorbei! Laßt sehen, was für Leute hinter euch sind! Zwei Arbeiter in ihren Sonntagskleidern, von denen der eine ein zerknittertes Papier in der Hand hält und einen schweren Namen darauf zu entziffern bemüht ist, den der andere an allen Türen und Fenstern sucht.
Beide Iren! Man würde sie erkennen, auch wenn sie ihr Gesicht maskierten, an ihren langschößigen blauen Röcken mit den hellen Knöpfen und an ihren hellgrauen Beinkleidern, die sie wie Menschen tragen, welche nur an Arbeitskleider gewöhnt sind und in andern sich nicht wohl befinden. Eure Musterrepubliken könnten gar nicht bestehen ohne die Landsleute und Landsmänninnen dieser beiden Arbeiter. Denn wer sonst würde graben und schaufeln, sich placken mit Hausarbeit, mit Kanal- und Landstraßenbau und alle Unternehmungen zum Besten des materiellen Fortschritts im Innern ausführen? Beide sind Iren und in großer Verlegenheit, das zu finden, was sie suchen. Wir wollen hinabgehen und ihnen helfen, um der Liebe zur Heimat und um jenes Geists der Freiheit willen, der es für keine Schande hält, ehrlichen Leuten einen ehrbaren Dienst zu erweisen sowie für seine ehrliche Arbeit, sei sie welcher Art sie wolle, sein Brot in Ehren zu essen.
So ist's recht! Wir haben endlich die Adresse richtig gefunden, obgleich es wahrhaft rätselhafte Schriftzüge waren, die ebensogut mit dem stumpfen Spatenstiel geschrieben sein konnten, den der Schreiber vermutlich besser zu handhaben wußte als die Feder. Ihr Weg geht nach der andern Seite dort. Aber was führt sie dahin? Sie tragen erspartes Geld, um es anzulegen und zu sammeln? Nein. Es sind Brüder, diese beiden Leute. Der eine war allein übers Meer herübergekommen und arbeitete ein halbes Jahr mit angestrengtem Fleiß und lebte noch sparsamer dabei, bis er so viel erspart hatte, daß er auch seinen Bruder kommen lassen konnte. Dann arbeiteten sie zusammen, einer an der Seite des andern, und teilten mit zufriedenem Sinn harte Arbeit und dürftiges Leben miteinander, bis sie auch ihre Schwestern, dann noch einen dritten Bruder und endlich ihre alte Mutter zu sich kommen lassen konnten. Und nun? Die arme Alte hat keine Ruh im fremden Land und sehnt sich danach, wie sie sagt, unter ihrem Volk auf dem alten Friedhof ihrer Heimat ihr Gebein in die Erde zu legen; und nun gehen sie, um die Rückfahrt für sie zu bezahlen: und so helfe Gott ihr und ihnen und jedem Herzen voll Einfalt und allen, die nach dem Jerusalem ihrer Jugendtage zurückkehren und denen auf dem kalten Herd ihrer Väter noch ein Altarfeuer brennt.
Dieser enge Durchgang, glühend und brennend im Sonnenschein, ist die Wall Street: die Lombard Street und Börse von New York. Mancher hat in dieser Straße rasend schnell sein Glück gemacht, mancher hat sich da nicht minder schnell ruiniert. Manche von diesen Kaufleuten, die ihr da umherlungern seht, hatten ihr Geld in eiserne Kisten geschlossen, wie der Mann in Tausendundeiner Nacht, und als sie die verschlossene Truhe wieder öffneten, fanden sie welkes Laub darin. Hier unten an der Wasserseite, wo die Bugspriete der Schiffe über das Trottoir hinwegragen und beinahe die Fenster einstoßen, da liegen die edlen amerikanischen Fahrzeuge, die ihren Paketbootdienst zum schönsten in der Welt gemacht haben. Sie haben die Fremden hierhergebracht, von denen alle Straßen voll sind: nicht etwa, daß hier mehr wären als in andern Handelsstädten; aber anderswo haben sie ihre besondern Sammelplätze, und man muß sie erst aufsuchen; hier durchströmen sie fortwährend die ganze Stadt.
Wir müssen noch einmal über den Broadway; wie erfrischend wirkt bei der Hitze der Anblick der großen, sauberen Eisstücke, die in die Kaufläden und Schenken getragen werden, und die Ananas und Wassermelonen, die in reicher Fülle zum Verkauf ausgelegt sind. Schöne Straßen mit geräumigen Häusern sind das – die Wall Street hat manche davon oft aufgebaut und dann noch einmal niedergerissen –, und da liegt ein Square, reich an dunkelgrüner Belaubung. Gewiß, dies muß ein recht gastfreundliches Haus sein, mit Bewohnern, deren sich jeder, der sie kennt, stets liebend erinnern wird; dort, wo die Haustür offensteht und die schönen Blumenstöcke drinnen zu sehen sind und wo das Kind mit den lachenden Äuglein auf den kleinen Hund unten zum Fenster herausguckt. Ihr wundert euch wohl, was dieser hohe Flaggenstock in der Seitengasse bedeuten mag, auf dessen Spitze so etwas wie eine Freiheitsmütze ragt? Ich auch. Indessen, es scheint hier eine besondere Manie für diese Flaggenstöcke zu herrschen, und wenn ihr wollt, so könnt ihr in fünf Minuten einen Zwillingsbruder des vorigen sehen.
Gehen wir noch einmal über den Broadway, und so – an der buntfarbigen Menge und den glitzernden Kramläden vorbei – kommen wir in eine andere lange Hauptstraße, die Bowery. Seht dort, eine Eisenbahn, auf der ein paar stämmige Pferde zwanzig oder vierzig Personen und einen großen hölzernen Kasten spielend fortziehen. Die Kaufläden sehen hier ärmlicher aus, die Spaziergänger weniger fröhlich. Hier sind fertige Kleider und gekochtes Fleisch zu kaufen, und statt des lebhaften Equipagengerassels hören wir das dumpfe Rollen und Rumpeln von Karren und beladenen Wagen. Jene Aushängeschilder, die in solcher Menge wie runde Bojen oder Luftballons, mit Stricken an Stangen befestigt, in der Luft baumeln, kündigen, wie ihr selbst sehen könnt, »Austern von jeder Sorte!« an. Sie führen den Hungrigen am meisten bei Nacht in Versuchung; denn dann brennen inwendig trübe Kerzen, welche die leckern Worte beleuchten, daß dem Müßigen, der davor stehenbleibt und liest, der Mund danach wässert.
Was soll aber dieses Gebäude im ägyptischen Bastardstil mit der unheilvoll aussehenden Fassade, das dem Palast eines Zauberers in einem Melodram gleicht? – ein berüchtigtes Gefängnis, »die Gräber« genannt. Wollen wir hineingehen?
Ein langes, schmales, hohes Gebäude, wieder wie überall mit Öfen geheizt, mit vier Galerien, die, eine über der andern, rundum gehen und durch Treppen miteinander zusammenhängen. In der Mitte sind beide Seiten jeder Galerie, zur größeren Bequemlichkeit beim Hinüber- und Herübergehn, durch eine Brücke miteinander verbunden. Auf jeder dieser Brücken sitzt ein Gefangenenwärter: träumend, lesend oder mit einem müßigen Kameraden plaudernd. Auf jeder Galerieseite befinden sich, einander gegenüber, zwei Reihen kleiner eiserner Türen. Sie sehen wie Ofentüren aus, nur daß sie kalt und dunkel sind, als wäre das Feuer darin ganz erloschen. Zwei oder drei davon stehen auf, und einige Weiber, mit auf die Brust gesenkten Köpfen, reden mit den Gefangenen. Das Ganze wird durch ein Gewölbefenster von oben her beleuchtet; es ist aber fest geschlossen, und vom Dach hängen, schlaff und matt, zwei nutzlose Luftsegel herunter.
Ein Kerl erscheint mit dem Schlüsselbund, um uns herumzuführen. Er hat ein gutmütiges Gesicht und ist in seiner Art höflich und gefällig.
»Jene schwarzen Türen, das sind die Zellen?«
»Ja.«
»Sind sie alle besetzt?«
»I nu, es sind so ziemlich alle besetzt, das ist eine Tatsache und nichts anderes.«
»Die Zellen unten sind wohl sehr ungesund, wie?«
»Ja wir stecken auch nur Farbige hinein. Das ist die Sache.«
»Wann werden die Gefangenen herausgelassen, um sich Bewegung zu machen?«
»Das brauchen sie gar nicht; sie halten's schon aus.«
»Dürfen sie nie in den Hof heraus?«
»Sehr selten.«
»Aber doch manchmal?«
»Na, das kommt selten vor. Sie fühlen sich recht wohl dabei.«
»Aber gesetzt, daß einer hier ein ganzes Jahr lang bleibt. Ich weiß, dies Gefängnis ist nur für schwere Verbrecher bestimmt, die auf ihr Verhör warten, aber die Gesetze machen es dem Verbrecher hier leicht, Aufschub und Fristen zu erlangen, so daß ein Gefangener, wenn er auf ein neues Verhör oder auf sein Urteil wartet, wohl sein volles Jahr hier sitzen kann. Oder meint Ihr nicht?«
»O ja, das kann schon sein.«
»Und wie, wollt Ihr behaupten, daß er in dieser ganzen Zeit nicht zu dieser kleinen eisernen Tür herauskommen soll, um frische Luft zu schöpfen und sich Bewegung zu machen?«
»Ja, ein bißchen vielleicht – nicht viel.«
»Wollt Ihr nicht eine dieser Türen aufmachen?«
»Alle, wenn Sie wollen.«
Die Riegel knarren, und eine jener Türen dreht sich langsam in den Angeln. Laßt uns hineinsehen. Eine kleine Zelle mit nackten Wänden; das Licht dringt nur durch eine Spalte hoch in der Mauer ein. Ein Tisch, eine Bettstatt und dürftiges Waschgerät. Auf der Bettstelle sitzt ein sechzigjähriger Mann und liest. Er schaut einen Augenblick auf; schüttelt ungeduldig und trotzig den Kopf und sieht wieder starr in sein Buch. Als wir wieder den Kopf zurückzogen, ging die Türe hinter ihm zu und ward fest verschlossen. Dieser Mann hat sein Weib ermordet und wird vermutlich gehängt werden.
»Wie lange sitzt er schon?«
»Einen Monat.«
»Wann kommt er zum Verhör?«
»Beim nächsten Gerichtstermin.«
»Wann ist das?«
»Kommenden Monat.«
»In England hat ein Verbrecher, selbst wenn er zum Tode verurteilt ist, zu gewissen Tagesstunden den Genuß der freien Luft.«
»Ist es möglich?«
Mit welch erstaunlicher und unbeschreiblicher Gleichgültigkeit er dies sagt, und wie behaglich er mit uns nach der Frauenabteilung hinschlendert; und im Gehen macht er mit dem Schlüssel auf dem Treppengeländer eine Art von eherner Kastagnettenmusik!
Jede Zellentür auf dieser Seite hat eine viereckige Öffnung. Einige von den Verbrecherinnen gucken beim Schall unserer Fußtritte neugierig heraus; andere ziehen sich mit einem Gefühl von Scham zurück. – Was mag jenes Kind von zehn oder zwölf Jahren verbrochen haben, daß es hier eingeschlossen ist? Oh! Der Junge? Er ist der Sohn des Verbrechers, den wir eben gesehen haben; ist ein Zeuge gegen seinen Vater und wird bis zum Verhör hier festgehalten; das ist alles.
Aber dies ist ein entsetzlicher Aufenthalt für ein Kind, das da seine langen Tage und Nächte zubringen soll. Das ist eine etwas harte Behandlung für einen jungen Zeugen, wie? – Was sagt unser Führer dazu?
»Na, ein liederliches Leben ist's freilich nicht, das ist eine Tatsache!«
Wieder rasselt er mit seinen ehernen Kastagnetten und führt uns lässig weiter. Ich muß ihn noch etwas fragen.
»Bitte, warum nennt Ihr dies Gefängnis ›Die Gräber‹?«
»Oh, so heißt's im Cant.«
»Das weiß ich. Aber warum?«
»Es haben sich einige das Leben genommen, wie es fertig war. Ich meine, es wird wohl daher kommen.«
»Da seh ich eben, daß der eine seine Kleider auf dem Fußboden seiner Zelle herumliegen hat. Haltet Ihr denn die Gefangenen nicht an, ein wenig ordentlich zu sein und ihre Kleider wegzulegen?«
»Wo sollten sie sie hintun?«
»Doch gewiß nicht auf die Erde. Was meint Ihr, wenn man die Kleider aufhängen ließe?«
Er bleibt stehen, sieht sich um und antwortet mit Nachdruck. »Ja, das ist's gerade. Wie sie noch Haken in der Mauer hatten, da haben sie sich daran gehängt, darum hat man sie aus allen Zellen weggenommen und nur die Löcher in der Wand gelassen, worin sie früher gesteckt haben!«
Der Gefängnishof, in welchem er jetzt stehenbleibt, ist der Schauplatz schrecklicher Tragödien gewesen. In diesen engen, gruftähnlichen Raum werden die Verurteilten herausgeführt. Der arme Sünder steht auf der Erde, mit dem Strick um den Hals, unter dem Galgen; auf ein gegebenes Zeichen rollt mit dem andern Ende des Seiles ein schweres Gewicht herab und schwingt ihn in die Luft empor – als Leiche.
Diesem grauenhaften Schauspiel müssen nach dem Gesetz der Richter, die Geschworenen und fünfundzwanzig Bürger als Zeugen beiwohnen. Vor der Genossenschaft des Verbrechers bleibt es verborgen. Für die Bösen und Verworfenen ist es ein furchtbares Geheimnis; die Gefängnismauer ist der dicke, finstere Schleier, der den Verurteilten vor ihren Blicken verbirgt. Sie ist der Vorhang an seinem Totenbett, sein Leichenhemd und Grab. Sie sondert ihn von allen Lebendigen ab und entfernt allen jenen Reiz zur reuelosen Verstocktheit in der Todesstunde, den oft der bloße Anblick und die Gegenwart des Volkes geben. Da sind keine kühnen Augen, um ihn kühn zu machen; keine trotzigen Bösewichter, vor denen er sich des Namens Bösewicht würdig zu bezeigen streben könnte. Außer der mitleidslosen steinernen Mauer ist alle Welt für ihn unsichtbar.
Gehen wir wieder hinaus in die heiteren Straßen. Noch einmal auf den Broadway! Wieder dieselben Damen in buntfarbigen Kleidern gehen paarweise oder einzeln hin und her; dort schwebt derselbe hellblaue Sonnenschirm, der schon zwanzigmal am Hotelfenster vorüberspazierte, während wir da saßen. Hier wollen wir auf die andere Seite der Straße hinübergehen. Aber nehmt euch in acht vor den Schweinen. Zwei stattliche Säue treiben hinter dieser Kutsche her, und eine feine Gesellschaft von einem halb Dutzend Gentlemenschweinen ist soeben dort um die Ecke gebogen.
Siehe, da wandelt ein einsames Schwein nach Hause. Es hat nur ein Ohr, das andere hat es auf seinen Stadtspaziergängen den umherstreifenden Hunden überlassen. Aber es behilft sich auch mit einem Ohre und führt ein gentlemännisches, flanierendes freies Leben, nach Art unserer englischen Klubmänner. Jeden Morgen geht es zu einer bestimmten Stunde aus, stürzt sich in das Gewühl der Stadt, verbringt seinen Tag auf eine ihm selbst gewissermaßen recht angenehme Weise und erscheint regelmäßig jeden Abend wieder vor seiner Haustüre, wie der mysteriöse Herr des Gil Blas. Es ist ein recht ungeniertes, sorg- und harmloses Schwein, welches zwar unter den andern Schweinen von demselben Kaliber sehr viele Bekannte zählt, dieselben aber mehr vom Sehen als aus genauerem Umgang kennt; denn nur selten nimmt es sich die Mühe, stehenzubleiben und Komplimente zu wechseln; vielmehr geht es grunzend seiner Wege den Rinnstein hinab, stöbert ein wenig Neuigkeiten und Stadtklatsch in Gestalt von Kohlstengeln und Abfall auf und führt keinen andern »Schweif« mit sich herum als den eigenen; und selbst dieser Schweif ist sehr kurz, denn seine alten Feinde, die Hunde, waren stets darüber her und haben ihm kaum mehr als ein kleines Endchen gelassen, welches gerade groß genug ist, um dabei zu schwören. Es ist in jeder Beziehung ein republikanisches Schwein, geht, wohin es ihm beliebt, und steht mit der besten Gesellschaft auf gleichem, wo nicht höherem Fuß, denn alles macht ihm Platz, wo es sich zeigt, und die stolzesten Herren und Damen räumen ihm gern den Bürgersteig ein. Es ist auch ein großer Philosoph und läßt sich selten durch etwas außer Fassung bringen, es müßten denn die obenerwähnten Hunde sein. Zuweilen kann man es wohl mit den kleinen Augen zwinkern sehen, wenn es einen geschlachteten Freund erblickt, dessen Leichnam dem Türpfosten eines Fleischers zur Verzierung dient; dann grunzt es: »Das ist der Lauf der Welt: alles Fleisch ist Schweinefleisch!« steckt seine Nase wieder in den Kot und watschelt die Gosse hinab, indem es sich mit dem Gedanken tröstet, daß wenigstens eine Schnauze weniger auf der Welt ist, die ihm einen Kohlstengel vor der Nase wegkapern könnte.
Diese Schweine sind die Gassenkehrer der Stadt. Es sind häßliche Tiere; sie haben größtenteils einen magern, braunen Rücken, der dem Deckel eines alten, mit Roßhaaren überzogenen Koffers gleicht, und abscheuliche schwarze Finnen. Sie haben lange, dürre Beine und so gespitzte Schnauzen, daß, wenn man sie dahin bringen könnte, sich im Profil zeichnen zu lassen, niemand ein anderes Porträt als das eines Schweines erkennen würde. Sie werden nie gepflegt oder gefüttert oder getrieben, sondern sind von frühester Jugend an auf sich selbst angewiesen und werden daher unnatürlich gescheit. Jedes Schwein weiß, wo es logiert, besser, als es ihm jemand sagen könnte. Um diese Zeit – es wird gerade Abend – könnt ihr sie zu zwanzigen nach Hause ins Bett eilen sehen, auf dem ganzen Weg bis zum letzten Schritt essend. Dann und wann hat ein unerfahrener Jüngling unter ihnen sich überfressen oder ist von den Hunden sehr gequält worden und geht daher etwas zögernd heim, wie ein verlorener Sohn; doch ist dies ein seltener Fall, denn Selbstbeherrschung, Selbstvertrauen und unerschütterliche Ruhe sind ihre Haupttugenden.
Jetzt sind die Gassen und Kaufläden erleuchtet; und wenn man das Auge über die lange Straße hinabschweifen läßt, die mit hellen Gaslichtern besät ist, wird man an Oxford Street oder Piccadilly erinnert. Hier und da sieht man eine breite, steinerne Kellertreppe, und ein farbiges Lampenlicht zeigt den Weg zu einem Billardzimmer oder einer Ten-Pins-Kegelbahn: Zehn-Kegel, ein Spiel, bei welchem es sowohl auf Glück wie auf Geschick ankommt, wurde erfunden, als die Nine-Pins gesetzlich verboten wurden. Andere Treppen sind mit Lampen versehen, welche zu Austernkellern den Weg zeigen – freundlichen Asylen, nicht bloß weil es daselbst wunderbare, große Austern gibt, sondern weil unter allen Sorten von Essern, Fisch-, Fleisch- oder Geflügelessern, die Austernschlinger allein nicht herdenweise zusammenkommen, sondern sich gleichsam der zarten, spröden Natur dessen, was sie in sich aufnehmen, anschmiegen und in besondern, mit Gardinen versehenen Abteilungen allein oder höchstens zu zweien sitzen.
Aber wie still ist es auf den Straßen! Sind denn keine umherziehenden Musikkapellen zu sehen, hört man keine Blas- oder Saiteninstrumente? Nein, nicht ein einziges. Gibt es hier keine Hanswurste, tanzenden Hunde, Gaukler, Wahrsager, Taschenspieler, Dudelsäcke oder auch nur Drehorgeln? Nein, nichts von alledem. Doch ich entsinne mich – eine Drehorgel und einen tanzenden Affen sah ich, der zwar von Natur spaßig genug war, aber immer mehr den Charakter eines einfältigen, unbehilflichen Affen von der utilitarischen Schule annahm. Außer dem nicht das geringste Leben; nein, nicht einmal ein weißes Mäuschen in einem Drehkäfig.
Gibt es denn gar keine Unterhaltungen da? O ja. Quer über der Straße befindet sich eine Predigerstube, aus welcher just das Licht dort hervorscheint; und da wird für die Damen dreimal wöchentlich oder noch öfter abendlicher Gottesdienst gehalten. Die jungen Herren finden Unterhaltung genug im Kontor, in der Warenniederlage oder in der Schenkstube: die letztere ist ziemlich voll, wie man durch diese Fenster da sehen kann. Horcht auf den Schall der Hämmer, mit denen man das Eis zerschlägt, und auf das kühle Rieseln der zermalmten Stücke, wenn sie bei der Mischung aus einem Glas ins andere gegossen werden! – Keine Belustigungen, keine Unterhaltungen? Was tun denn jene Herren mit den Zigarren im Munde und den starken Getränken neben sich anders, als sich belustigen? Was sollen jene fünfzig Zeitungen, die der naseweise Junge da durch die Straßen ausruft und die in den Gaststuben haufenweise herumliegen, was sollen sie anders als unterhalten? Und dies sind nicht etwa schale, wässerige Unterhaltungen, sondern tüchtiger, drastischer Stoff, da werden Schmähungen und Schimpfnamen ausgeteilt und die Dächer von den Häusern gerissen, wie es der hinkende Teufel in Spanien machte; jede Art von verkehrtem Geschmack wird gekitzelt und der gefräßigste Magen mit frisch geschmiedeten Lügen vollgepfropft; jedem öffentlichen Charakter werden die gemeinsten und niedrigsten Beweggründe unterschoben, jeder mitleidige Samariter wird mit seinem guten Gewissen von der herabgewürdigten Politik abgeschreckt und unter seinem Schreien, Pfeifen und Händeklatschen das niedrigste Gezücht und die schlechtesten Raubvögel aufgehetzt. – Das sollten keine Unterhaltungen sein!
Gehen wir weiter. Wir gehen in dieser Wildnis an einem Hotel vorbei, in dessen Erdgeschoß sich, wie bei manchem Theater auf dem europäischen Kontinent, Warenniederlagen befinden, und gelangen in die Five Points. Allein es wird erst nötig sein, daß wir zu unsrer Eskorte jene zwei Herren von der Polizei mit uns nehmen, die man als scharfsichtige, ausgebildete Beamte erkennen würde, und wenn man ihnen in der Wüste Sahara begegnete. So wahr ist es, daß gewisse Beschäftigungen überall den Menschen dasselbe Gepräge aufdrücken. Diese beiden könnten recht gut in der Bow Street gezeugt, geboren und erzogen sein.
Weder bei Nacht noch bei Tage haben wir Bettler in den Straßen getroffen, aber andere Strolche in Menge. Armut, Elend und Laster gedeihen üppig genug, wo wir uns jetzt hinwenden.
Jetzt sind wir an Ort und Stelle: sieh da zur Rechten und linken die engen Gäßchen; sie stinken alle von Schmutz und Unflat. Das Leben, welches hier geführt wird, trägt hier dieselben Früchte wie anderswo. Die groben aufgedunsenen Gesichter an den Türen und Fenstern finden ihre Seitenstücke in England und in der ganzen Welt. Vor lauter Ausschweifung scheinen sogar die Häuser vor der Zeit gealtert. Seht, wie die verfaulten Balken einzustürzen drohen, wie die zerbrochenen und beklebten Fensterscheiben uns finster anschielen, gleich Augen, die in einer Prügelei braun und blau geschlagen worden sind. Viele jener Schweine residieren hier. Wundern sie sich denn niemals, daß ihre Herren aufrecht gehen, statt auf allen vieren zu kriechen? Und daß sie reden, statt zu grunzen?
Bis hierher ist fast jedes Haus eine elende Kneipe; an den Wänden der Gaststuben sieht man buntgemalte Bilder von Washington, der Königin Victoria von England und dem amerikanischen Adler. Zwischen den Fächern, worin die Flaschen stecken, erblickt man Stücke Fensterglas und buntes Papier, denn selbst hier ist ein gewisser Sinn für Putz und Dekoration zu finden. Und da die Matrosen diese Orte besuchen, gibt es daselbst Seebilder zu Dutzenden, zum Beispiel Trennungsszenen zwischen Matrosen und ihren Liebchen; Porträts von William und seiner schwarzäugigen Susanne, nach der Ballade gezeichnet, von Will Watch, dem kühnen Schmuggler, von Paul Jones, dem Seeräuber usw., auf welche die gemalten Augen der Königin Victoria und Washingtons obendrein mit ebenso großer Befremdung zu blicken scheinen wie auf die Szenen, die in ihrer Gegenwart vorgehen.
Was ist das für ein Ort, zu dem diese schmutzige Straße führt? Eine Art Square von aussätzigen Häusern, von denen einige nur durch außen befindliche verfallene, hölzerne Treppen zugänglich sind. Wohin gelangen wir über diese wankende Treppe, die unter unserem Fußtritt knarrt? In eine nur von einem einzigen düstern Lichte erhellte Stube, entblößt von allen Bequemlichkeiten, außer der, die ein elendes Bett gewähren kann. Daneben sitzt ein Mann, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht mit den Händen bedeckt. »Was fehlt diesem Mann?« fragte der erste Polizeibeamte. »Das Fieber«, erwiderte er mürrisch, ohne aufzublicken. Nun mache man sich einen Begriff von den Phantasien eines fiebernden Hirns an einem solchen Orte.
Jetzt steige diese pechfinstern Treppen hinauf, aber nimm dich in acht, daß du keinen falschen Tritt auf den wankenden Brettern tust, und suche dich in diese Wolfshöhle zu finden, wohin weder Licht noch Luft dringen zu können scheint. Ein Negerjunge, durch des Beamten Stimme – die er wohl kennt – vom Schlafe aufgeschreckt, allein beruhigt durch die Versicherung des letztern, daß er nicht in Geschäften komme, springt dienstfertig auf, um ein Licht anzuzünden. Das Schwefelhölzchen flackert einen Augenblick hell auf und läßt große Haufen schmutziger, schwarzer Lumpen auf dem Boden sehen; dann verlischt es wieder und läßt eine noch dichtere Finsternis zurück als vorher. Der Junge stolpert die Treppe hinab und kommt sogleich mit einer flackernden Kerze wieder, die er mit der Hand verdeckt, damit sie nicht ausgehe. Jetzt sehen wir, wie sich die Lumpen regen und langsam erheben: der ganze Fußboden ist mit Negerweibern bedeckt, die von ihrem Schlaf erwachen. Ihre weißen Zähne klappern hörbar, und ringsum glänzen und blinken ihre funkelnden Augen wie die unzählige Vervielfachung eines erstaunten afrikanischen Gesichts in einem Zauberspiegel.
Nun steige die nächste Treppe mit nicht geringerer Vorsicht wie die vorige (denn für die, welche keine so gute Eskorte wie wir haben, gibt es da Schlingen und Fallgruben) zu der obersten Dachkammer hinauf, wo sich über uns die obersten Dachbalken und Sparren zusammenfügen und durch die Spalten im Dache die ruhige Nacht hereinblickt, öffne die Tür eines dieser Löcher voll schlafender Neger. Sieh da, sie haben ein Kohlenfeuer angezündet; es riecht nach verbrannten Kleidern oder versengter Haut, so dicht drängen sie sich an die Kohlenpfanne; und Dünste steigen aus diesen Höhlen, die fast blenden und ersticken. Aus jedem Winkel siehst du eine halb erwachte Gestalt hervorkriechen, als wenn die Stunde des Jüngsten Gerichts geschlagen hätte und jedes scheußliche Grab seine Toten ausspie. Hunde würden heulen, müßten sie hier über Nacht liegen, und doch legen sich Weiber, Männer und Kinder hier zum Schlafen nieder und zwingen die vertriebenen Ratten, sich ein besseres Quartier zu suchen.
Auch in diesem Stadtteil gibt es Gassen und Gäßchen mit knietiefem Kot; unterirdische Räume, wo getanzt und gespielt wird; Wände, bedeckt mit unzähligen rohen Zeichnungen von Schiffen, Festungen, Flaggen und amerikanischen Adlern; eingestürzte Häuser, nach der Straße zu offen, durch deren weite Mauerspalten uns wieder andere Ruinen entgegendüstern, als ob die Welt des Lasters und Elendes nichts andres zu zeigen hätte; scheußliche Wohnungen, die ihre Namen von Raub und Mord herleiten – kurz alles, was ekelhaft, widrig und verworfen ist, hier siehst du es.
Unser Führer hat die Hand auf der Türklinke zu »Almack's« und ruft uns aus der Tiefe entgegen; denn das Versammlungszimmer der Honoratioren von Five Points liegt unter der Erde. Wollen wir hinab? Es ist ja nur ein Augenblick.
Heda! wie ist die Wirtin von Almack's gut beieinander! Eine hübsche, dicke Mulattin mit hellen Augen, die ein buntfarbiges Tuch zierlich um ihren Kopf gewunden hat. Der Wirt steht ihr in seinem Putz durchaus nicht nach; er trägt eine hellblaue Jacke wie ein Schiffssteward, einen dicken goldenen Ring um den kleinen Finger und eine glänzende goldene Uhrkette um den Hals. Wie er sich freut, uns bei sich zu sehen! »Was ist Ihnen gefällig, meine Herren? Ein Tänzchen? Augenblicklich, Sir, gleich sollen Sie was erleben!«
Der korpulente schwarze Geiger und sein Freund, der das Tambourin spielt, stampfen mit den Füßen auf den Fußboden ihres kleinen Orchesters, auf dem sie sitzen, und spielen ein lustiges Stückchen auf. Fünf oder sechs Paare kommen heran, von einem lebhaften jungen Neger, dem Witzbold der Versammlung und dem besten Tänzer unter ihnen, angeführt. Er schneidet in einem fort Grimassen und ist das Ergötzen aller übrigen, die unaufhörlich von einem Ohr bis zum andern grinsen. Unter den Tänzerinnen befinden sich zwei junge Mulattinnen mit großen schwarzen, zu Boden gesenkten Augen und einem Kopfputze gleich dem der Wirtin; sie sind so schüchtern oder tun wenigstens so, als wenn sie in ihrem Leben noch nicht getanzt hätten, und blicken zur Erde, daß man nichts als ihre langen Augenwimpern sehen kann.
Doch der Tanz beginnt; jeder Tänzer springt so lange, wie es ihm gefällt, auf seine Dame los, und die Dame auf ihn, und dies geht so lange fort, bis sie matt werden; und dann stürmt der lebhafte Held in ihre Mitte. Der Geiger beginnt zu grinsen und geigt mit neuem Mute; in das Tambourin kommt neue Kraft, neues Gelächter unter die Tänzer, neues Lächeln auf das Gesicht der Wirtin, neues Vertrauen in den Wirt, neue Heiterkeit selbst in die Lichter. Der junge Neger vollführt mehrere Sprünge und Schneller, schnalzt mit den Fingern, verdreht die Augen, wendet seine Knie herum und zeigt die Hinterseite seiner Beine nach vorn, dreht sich wie ein Kreisel auf Zehen und Hacken, tanzt mit zwei linken Beinen, zwei rechten Beinen, zwei hölzernen Beinen, zwei Drahtbeinen – allen Sorten von Beinen und keinen Beinen – 's ist ihm alles eins. Endlich, nachdem er seine Tänzerin und sich obendrein ganz erschöpft hat, springt er großartig an den Schenktisch und verlangt, schnatternd wie Millionen unechte Jim Crows, mit unnachahmlichen Lauten etwas zu trinken!
Nach der erstickenden Atmosphäre jener Häuser bedünkt uns die Luft frisch, selbst in diesem unsauberen Kellerloch; und jetzt, da wir in eine breitere Straße kommen, bläst sie uns reiner und wohltuender entgegen, und die Sterne blicken wieder freundlich hernieder. Hier sind wir wieder an den »Gräbern«; das Stadtwachthaus ist ein Teil des Gebäudes. Es ist die natürlichste Fortsetzung der Schauspiele, denen wir eben beigewohnt haben. Dies wollen wir noch ansehen, und dann zu Bett!
Wie? wirft man hier die Leute wegen leichter Polizeivergehen in solche Löcher? Müssen denn Männer und Weiber, gegen die noch kein Verbrechen erwiesen ist, wirklich hier die ganze Nacht zubringen, in den widrigen Dünsten, welche die düstere Lampe, womit uns geleuchtet wird, umgeben? So ekelhafte, scheußliche Kerker wie diese Zellen würden dem despotischsten Lande in der Welt Schande machen! Betrachte sie, Mann, der du die Schlüssel dazu hast und sie alle Nächte siehst. Siehst du, was das ist? Weißt du, wie die Abzugskanäle unter den Straßen gebaut sind und worin sie sich von den Menschenkloaken hier unterscheiden?
Gut, er weiß es nicht. Er sagt, er habe schon fünfundzwanzig junge Frauenzimmer auf einmal hier eingeschlossen und man könne sich kaum denken, was für schöne Gesichter darunter gewesen wären.
So schließ denn in Gottes Namen die Tür hinter dem elenden Geschöpf, das jetzt darin ist, und verbirg ja das Dasein eines Ortes, der von allem Laster, von aller jämmerlichen Teufelei der schlechtesten alten Stadt in Europa nicht übertroffen werden kann.
Werden die Leute denn wirklich die ganze Nacht unverhört in diesen schwarzen Sauställen gelassen? – Jede Nacht. Die Wache stellt sich um sieben Uhr abends ein. Der Magistrat öffnet den Gerichtshof um fünf Uhr morgens. Dies ist die früheste Stunde, zu welcher der Gefangene erlöst werden kann, und wenn ein Beamter gegen ihn zeugt, so kommt er erst um neun oder zehn Uhr heraus. – Aber wenn nun einer inzwischen, wie es jüngst der Fall war, stirbt? – Dann wird er, wie es in jenem Falle geschah, innerhalb von einer Stunde von den Ratten halb aufgefressen, und damit basta!
Was soll denn das unerträgliche Glockengeläut, das Rädergerassel und das Schreien in der Ferne bedeuten? Eine Feuersbrunst. Und was ist das für ein roter Schein in der entgegengesetzten Richtung? Eine andere Feuersbrunst. Und was sind das hier für halbverkohlte, schwarze Wände? Das ist ein Haus, worin eine Feuersbrunst gewütet hat. Vor kurzem wurde in einem amtlichen Bericht mehr als bloß angedeutet, daß diese Feuersbrünste nicht ganz zufällig seien und daß der Spekulations- und Unternehmungsgeist selbst im Feuer einen Spielraum sucht. Doch dem sei, wie ihm wolle; in der letzten Nacht war Feuer, diese Nacht ist zweimal Feuer, und ich will wetten, daß es morgen wenigstens einmal irgendwo brennen wird. So wollen wir denn uns dies zu unserm Troste dienen lassen, gute Nacht sagen und zu Bett gehen.
*
Während meines Aufenthalts in New York besuchte ich auch eines Tages die verschiedenen öffentlichen Einrichtungen auf Long Island. Eine derselben ist ein Irrenhaus. Das Gebäude ist hübsch und wegen seiner breiten, eleganten Treppe bemerkenswert. Obgleich noch nicht vollendet, ist es schon von beträchtlichem Umfange und kann eine sehr große Anzahl von Patienten aufnehmen.
Ich kann nicht sagen, daß die Besichtigung dieser Anstalt mir viel Tröstliches zeigte. Die verschiedenen Abteilungen hätten reinlicher und besser geordnet sein können; ich sah nichts von dem zweckmäßigen System, das schon an andern ähnlichen Orten einen so günstigen Eindruck auf mich gemacht hatte; alles hatte ein peinliches, unordentliches, echt tollhäuslerisches Aussehen. Den träumenden, in sich zusammengekauerten Irrsinnigen mit langem, wirrem Haar; den Unsinn schnatternden Tollen mit seinem scheußlichen Gelächter und seinem ausgestreckten Finger; das wilde Gesicht, den nichtssagenden Blick, das düstere Herumnagen an Lippen und Händen, das Beknabbern der Fingernägel – alles sah ich hier in seiner nackten Schrecklichkeit. Im Speisesaale, einem kahlen, traurigen Raum, wo das Auge nur auf nackte Wände blicken konnte, war eine Frau allein eingesperrt. Sie hatte sich, wie man mir sagte, in den Kopf gesetzt, sich ums Leben zu bringen. Wenn irgend etwas sie in ihrem Entschlusse bestärken konnte, so war es gewiß die traurige Eintönigkeit eines solchen Aufenthalts.
Der scheußliche Anblick, den der in diesen Hallen und Sälen sich umherdrängende Haufe bot, schreckte mich so zurück, daß ich meinen Aufenthalt so viel als möglich abkürzte und von dem Anerbieten, mich in diejenige Abteilung des Gebäudes zu führen, wo die Widerspenstigen und Rasenden unter schärferer Aufsicht gehalten wurden, keinen Gebrauch machte. Ich zweifle gar nicht, daß der Mann, der zu der Zeit, da ich dies niederschreibe, die Oberaufsicht über diese Anstalt führt, zu ihrer Leitung befähigt war und alles, was in seiner Macht stand, getan hat, um ihre Nützlichkeit zu erhöhen; allein, wird man es glauben, daß der elende Parteienstreit selbst bis in diesen traurigen Zufluchtsort der entwürdigten Menschheit hinabgeführt wird? Wird man es glauben, daß das Auge, welches über die Verirrung der Seelen – die schrecklichste Heimsuchung, welche die menschliche Natur treffen kann – wachen und sie heilen soll, daß dieses Auge die Brille einer oder der andern politischen Partei tragen muß? Wird man es glauben, daß der Direktor einer solchen Anstalt ernannt, abgesetzt und fortwährend gewechselt wird, je nachdem die eine oder die andere Partei die mächtigere ist? Hundertmal in jeder Woche kam eine neue unwürdige Äußerung dieses engherzigen, schadenbringenden Parteigeistes – des Samums von Amerika, der alles gesunde Leben in seinem Bereiche unterdrückt und verletzt – mir zu Ohren; doch nie wandte ich ihm mit so tiefem Abscheu und so unbegrenzter Verachtung den Rücken wie damals, als ich die Schwelle des Irrenhauses auf Long Island verließ.
In geringer Entfernung von diesem Gebäude steht ein anderes, das Almosenhaus, das heißt Arbeitshaus, von New York genannt. Auch dieses ist eine weitläufige Anstalt und gewährte, glaube ich, zur Zeit, als ich dort war, fast tausend Armen Obdach. Sie war indes schlecht gelüftet, hatte nur wenig Licht, war nicht allzu reinlich und machte im ganzen einen sehr ungünstigen Eindruck auf mich. Man darf jedoch nicht vergessen, daß New York als ein großes Handelszentrum und als ein Ort, wohin sich nicht nur aus allen Staaten, sondern aus den meisten Teilen der Welt eine große Menge Menschen flüchten, immer für eine beträchtliche Anzahl Arme zu sorgen hat und daher in dieser Hinsicht unter eigentümlichen Schwierigkeiten leidet. Ebensowohl muß man auch bedenken, daß New York eine große Stadt ist und daß in allen großen Städten Gutes und Böses auf die großartigste Weise einander aufwiegen.
In der Nähe befindet sich auch die »Long Island Farm«, wo Waisenkinder verpflegt und erzogen werden. Ich sah zwar diese Anstalt nicht, doch glaube ich, sie wird gut verwaltet, um so mehr als ich weiß, wie sehr man in Amerika gewöhnlich jene schöne Stelle in der Litanei vor Augen hat, die aller Kranken und Kinder gedenkt.
Ich fuhr nach diesen Anstalten zu Wasser, in einem Boot, das dem Gefängnis von Long Island gehörte und mit Gefangenen bemannt war, die eine schwarz und gelb gestreifte Uniform trugen, in der sie wie Tiger aussahen. Sie ruderten mich in demselben Boot nach dem Gefängnis selbst.
Es ist ein altes Gefängnis, eine Gründung der Pionierzeit, nach dem schon beschriebenen Plan errichtet. Ich freute mich, als ich dies hörte, denn es ist ohne Frage ziemlich schlecht. Jedoch wird das meiste aus seinen eigenen Mitteln bestritten, und es ist so gut eingerichtet, wie solch ein Ort es nur sein kann.
Die Frauen arbeiten in gedeckten Schuppen, die zu diesem Zweck eigens errichtet sind. Wenn ich mich recht entsinne, sind für die Männer keine Schuppen vorhanden; der größere Teil von ihnen arbeitet in gewissen Steinbrüchen, die sich in der Nähe befinden. Da es jedoch sehr nasses Wetter war, hatte man die Arbeit eingestellt, und die Verbrecher blieben in ihren Zellen. Man denke sich diese Zellen, etwa zwei- oder dreihundert an der Zahl, und in jeder einen Mann eingeschlossen: da steht einer an der Türe, um Luft zu schöpfen, und steckt die Hände durchs Gitter; dort liegt einer im Bett (um Mittag nämlich); und jener liegt der Länge nach auf dem Boden, mit dem Kopf gegen die geschlossene Tür wie eine wilde Bestie. Dabei gießt draußen der Regen in Strömen nieder. Denkt euch in die Mitte den ewigen Ofen, heiß zum Ersticken und dampfend wie ein Hexenkessel: und dann eine Fülle zarter Gerüche, wie sie aus tausend modrigen, ganz durchnäßten Regenschirmen und eintausend Waschkörben voll halb gewaschener schmutziger Wäsche aufsteigen würden – und da habt ihr das Gefängnis, wie es an jenem Tage war.
Das Staatsgefängnis zu Sing Sing hingegen ist ein wahres Mustergefängnis. Dieses und das von Mount Auburn sind die größten und besten Beispiele von Gefängnissen, in denen das Schweigesystem herrscht.
In einem andern Stadtteil befindet sich das Asyl für die Hilflosen, eine Anstalt, welche jugendliche Übeltäter, männliche und weibliche, schwarze und weiße, ohne Unterschied aufnimmt, um sie ein nützliches Gewerbe oder Handwerk zu lehren, bei ehrbaren Meistern in die Lehre zu geben und so allmählich zu würdigen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Die Tendenz dieser Anstalt ist, wie man sieht, der der Bostoner Anstalt ähnlich und nicht weniger bewundernswert und verdienstlich. Während ich diese wahrhaft christliche Anstalt besichtigte, konnte ich mich nicht des Verdachts erwehren, daß der Direktor vielleicht nicht die gehörige Welt- und Menschenkenntnis besitze; ich fragte mich, ob er nicht einen großen Mißgriff machte, indem er mehrere junge Mädchen, die ihren Jahren und Erlebnissen nach in jeder Beziehung schon richtige Frauen waren, wie kleine Kinder behandelte, was auf mich und, wenn ich nicht sehr irre, auch auf die Mädchen selbst einen komischen Eindruck machte. Da jedoch die Anstalt stets unter der wachsamen Oberaufsicht eines Komitees von sehr verständigen und erfahrenen Männern steht, so muß sie wohl gut geleitet werden; und ob ich in dieser speziellen Kleinigkeit recht oder unrecht habe, ist am Ende für die Verdienste und den Charakter dieser nicht genug zu schätzenden Anstalt ohne Bedeutung.
Außer diesen Instituten sind in New York auch ausgezeichnete Spitäler und Schulen, literarische Anstalten und Bibliotheken; eine bewundernswerte Feuerwehr (sie muß allerdings vortrefflich sein, da sie fortwährend Übung hat) und wohltätige Anstalten jeder Art noch außerdem. In den Vorstädten ist ein sehr geräumiger Friedhof, der zwar noch nicht fertig ist, aber täglich Fortschritte macht. Die traurigste Gruft, die ich sah, hieß »Fremdengruft – gewidmet den verschiedenen Hotels dieser Stadt«.
In New York gibt es drei Theater. Zwei, das Park- und das Bowery-Theater, sind große, elegante und schöne Gebäude, aber leider großenteils leer. Das dritte, das Olympic, ist ein winziger Guckkasten für Vaudevilles und burleske Possen. Es wird ausgezeichnet geleitet von Mr. Mitchell, einem Komiker von großer Originalität und viel stillem Humor; Londoner Theaterliebhaber werden sich seiner noch mit Liebe und Achtung erinnern. Es freut mich, von diesem verdienstvollen Künstler melden zu können, daß seine Vorstellungen stets ein volles Haus machen und daß sein Theater allabendlich von lautem Frohsinn widerhallt. Ich hätte beinahe vergessen, ein kleines Sommertheater zu erwähnen, welches Niblo's genannt wird und Gärten hat, worin man im Freien Vorstellungen gibt; allein ich glaube, es leidet auch an der allgemeinen Gedrücktheit des ganzen Theaterwesens.
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Die Gegenden um New York sind ausnehmend malerisch. Das Klima gehört, wie ich schon angedeutet, zu den wärmsten. Wer weiß, wie glühend es wäre, würde es nicht durch die sanften Seewinde gemildert, die um die Abendzeit aus der schönen Bucht herüberwehen.
In der guten Gesellschaft herrscht hier ungefähr derselbe Ton wie in Boston; mag sein, daß er hie und da schon mehr den Einfluß des merkantilen Geistes verrät, doch im allgemeinen herrscht ein höflicher, feiner und stets sehr gastfreundlicher Ton. Es wird großes Haus und guter Tisch geführt; die Gesellschaftsstunden sind später und etwas weniger solid; und in bezug auf äußern Schein und Pomp, auf das Prunken mit Vermögen und Aufwand herrscht mehr Rangstreit und Wetteifer. Die Frauen sind ausnehmend schön.
Ehe ich New York verließ, traf ich meine Vorkehrungen, um mir für die Heimfahrt einen Platz auf dem Paketschiff »George Washington« zu sichern, welches, wie die Ankündigung besagte, im Juni abgehen sollte; und dies war gerade der Monat, in dem ich mir vorgenommen hatte, Amerika zu verlassen, falls mich kein Zufall auf meinen Streifzügen daran hindern sollte.
Ich hätte nie gedacht, daß die Heimkehr nach England, die Rückkehr zu allem, was mir teuer ist, und zu Beschäftigungen und Bestrebungen, die mir unmerklich zur zweiten Natur geworden sind, mir je so viel Kummer verursachen würde, wie ich später erfahren mußte, als ich endlich an Bord jenes Schiffes von meinen Freunden aus New York, die mich begleitet hatten, Abschied nahm. Ich hätte nie gedacht, daß der Name eines so weit entlegenen und jüngst zum ersten Male besuchten Ortes je in meinem Herzen einen Platz neben der Masse teuerer Erinnerungen, die es erfüllen, einnehmen würde. Aber in New York leben jetzt Freunde von mir, und sie gehören zu jenen Seelen, die mir selbst den dunkelsten Wintertag, der je in Lappland auf- und unterging, erhellen könnten; Freunde, vor denen mir selbst der Gedanke an die Heimat verdämmerte und schwächer ward, als wir jenes schmerzvolle Wort uns zuriefen, welches sich mit all unserem Tun und Denken vermischt, welches unsere Häupter schon in frühester Kindheit grüßt und im Greisenalter die letzte Aussicht unseres Lebens schließt. 

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11/28 15:56