Als die Briten am Ufer der gelben Tiber erfuhren, daß ihr intelligenter Landsmann Mr. Sparkler einer der Lords des Circumlocution Office geworden, nahmen sie es als eine Nachricht auf, die sie nicht näher anging als jede andere Neuigkeit – jedes andre Ereignis oder Verbrechen – in den englischen Zeitungen. Die einen lachten, die andern sagten, als Entschuldigung, die Stelle sei eine Sinekure, und jeder Dummkopf, der seinen Namen richtig schreiben könne, sei gut genug für dieselbe: noch andre endlich, und dies waren die feierlichsten politischen Orakel, sagten, Decimus handle klug, sich zu verstärken, und der einzige konstitutionelle Zweck aller Stellen, die Decimus zu vergeben habe, sei, daß Decimus sich verstärke. Einige gallige Briten waren allerdings vorhanden, die diesen Glaubensartikel nicht unterschreiben wollten: aber ihre Einwürfe waren rein theoretischer Art. In praktischer Hinsicht ließen sie die Sache gleichgültig liegen, als wenn es die Sache andrer irgendwo oder nirgendwo befindlichen Briten wäre. In gleicher Weise behaupteten viele Briten in der Heimat, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang nachher, daß diese unsichtbaren und namenlosen Briten »die Sache in die Hand nehmen sollten« und daß, wenn sie sich's ruhig gefallen ließen, sie es auch nicht besser verdienten. Aber welcher Klasse diese trägen und gleichgültigen Briten angehörten, und wo diese unglücklichen Geschöpfe steckten, und weshalb sie sich verbargen, und woher es beständig kam, daß sie ihr Interesse vernachlässigten, während so viele andere Briten sich gar nicht erklären konnten, warum sie sich nicht um ihre Interessen kümmerten, war weder den Leuten an dem Ufer der gelben Tiber noch den Leuten am Ufer der schwarzen Themse klar.
Mrs. Merdle verbreitete die Nachricht, wie sie auch die Gratulationen empfing, mit der sorglosesten Grazie, die die Sache sehr zu ihrem Vorteil hob, wie die Fassung den Juwel. Ja, sagte sie, Edmund hat die Stelle angenommen. Mr. Merdle wünschte, daß er sie annehme, und er hat sie angenommen. Sie hoffe, die Stellung werde Edmund gefallen, aber gewiß wisse sie es nicht. Sie würde ihn einen großen Teil des Jahres in der Stadt festhalten, und er ziehe das Land vor. Es sei jedoch keine unangenehme Stellung – und es sei doch eine Stellung. Es sei nicht zu leugnen, daß es ein Kompliment für Mr. Merdle und keineswegs schlecht sei, wenn Edmund Geschmack daran finde. Es sei ganz gut, daß er etwas zu tun habe, und sei auch ganz gut, daß er etwas dafür bekäme. Ob es besser für Edmund, als wenn er in der Armee diente, das müsse man erst abwarten.
So sprach der Busen, geübt in der Kunst, scheinbar nur wenig Wert auf etwas zu legen und es dadurch gerade im Wert zu steigern. Indessen machte Henry Gowan, den Decimus abgeworfen, die Rundreise bei allen seinen bekannten, von der Porta del Popolo bis nach Albano, und beteuerte fast (wenn auch nicht ganz) mit Tränen in den Augen, daß Sparkler der gutmütigste, einfachste, kurz, der liebenswürdigste Esel sei, der jemals auf der Staatswiese gegrast: und daß nur eines ihm (Gowan) Freude bereitet, falls jener (der geliebte Esel) diesen Posten nicht bekommen, und das wäre gewesen, wenn er (Gowan) den Posten erhalten hätte. Er sagte, er passe ganz vortrefflich für Sparkler. Es sei nichts dabei zu tun und das würde er allerliebst machen, und dabei sei eine hübsche Besoldung einzustreichen und diese würde er allerliebst einstreichen; es sei eine angenehme, ganz passende, vortreffliche Stellung, und er vergab dem Verleiher derselben beinahe, daß er ihn übergangen, in der Freude darüber, daß der liebe Esel, für den er eine so große Vorliebe hatte, einen so guten Stall bekommen habe. Damit ließ sein Wohlwollen sich noch nicht genügen. Er nahm sich die Mühe, bei allen geselligen Gelegenheiten Mr. Sparkler hervorzuholen und ihn in der Gesellschaft zu zeigen; und obgleich diese rücksichtsvolle Handlung stets damit endigte, daß dieser junge Mann sich in einem traurigen und hilflosen geistigen Lichte zeigte, so ließ sich doch nicht an der freundlichen Absicht zweifeln.
Nur der Gegenstand von Mr. Sparklers Herzensneigung erlaubte sich daran zu zweifeln. Miß Fanny war nun in der schwierigen Lage, allgemein als dieser Gegenstand bekannt zu sein und Mr. Sparkler nicht verabschiedet zu haben, obgleich sie ihn sehr launisch behandelte. Daher war sie genug mit diesem Gentleman verknüpft, um sich kompromitiert zu fühlen, wenn er sich mehr als gewöhnlich lächerlich zeigte, und daher kam sie, da es ihr keineswegs an raschen Einfällen fehlte, ihm gegen Gowan zu Hilfe und leistete ihm sehr gute Dienste. Aber während sie dies tat, schämte sie sich seiner, unentschlossen, ob sie ihn gehen lassen oder ihn noch entschiedener aufreizen sollte, durch die Befürchtung in Verwirrung gesetzt, daß sie sich jeden Tag mehr in das Netz ihrer Ungewißheiten verstrickte, und gequält von dem Argwohn, daß Mrs. Merdle über ihre Verlegenheit triumphiere. Bei so stürmisch bewegtem Gemüt war es nicht zu verwundern, daß Miß Fanny eines Abends von einem Konzert und Ball bei Mrs. Merdle in großer Aufregung nach Hause kam, und als die Schwester sie liebreich trösten suchte, diese von dem Toilettentisch wegstieß, an dem sie saß, und zornig weinend mit gehobenem Busen erklärte, daß sie alle Menschen verabscheue und wünschte, sie wäre tot.
»Liebe Fanny, was gibt es? Sage es mir.«
»Was es gibt, du kleiner Maulwurf«, sagte Fanny. »Wenn du nicht die Blindeste der Blinden wärest, so brauchtest du mich nicht zu fragen. Der Gedanke, zu behaupten zu wagen, daß man Augen im Kopfe habe, und mich doch zu fragen, was es gebe?«
»Handelt es sich um Mr. Sparkler, meine Liebe?«
»Mi–ster Spark–ler!« wiederholte Fanny mit unendlicher Verachtung, als wenn er das letzte im Sonnensystem wäre, was möglicherweise ihrem Geiste nahe sein konnte. »Nein, Miß Fledermaus, das ist's nicht.«
Alsbald jedoch wieder bereuend, daß sie ihrer Schwester solche Namen gegeben, erklärte sie unter Seufzern, sie wisse, sie mache sich verhaßt, aber die Leute drängten sie dazu.
»Ich glaube, du bist heute abend nicht ganz wohl, liebe Fanny.«
»Welch ein Unsinn!« versetzte das junge Mädchen ärgerlich werdend, »ich bin so wohl wie du. Vielleicht könnte ich sagen besser, ohne damit zu prahlen.«
Die arme Klein-Dorrit, die nicht wußte, wie sie ein beruhigendes Wort anbringen sollte, ohne befürchten zu müssen, zurückgewiesen zu werden, hielt es für das beste, ruhig zu bleiben. Anfangs nahm Fanny auch dies übel auf, indem sie ihrem Spiegel versicherte, daß von allen Prüfungen, die ein Mädchen ertragen müßte, eine Schwester, die nicht begreifen wolle, die größte Prüfung sei. Sie wisse, daß sie zu Zeiten in schrecklicher Stimmung sei; sie wisse, sie mache sich verhaßt, nichts wäre so gut für sie, als wenn man es ihr offen sagte; da sie jedoch eine Schwester habe, die nichts begreifen wolle, so sage man es ihr nie, und daher komme es, daß sie geradezu gereizt und gestachelt sei, sich unangenehm zu machen. Außerdem (sagte sie zornig zu ihrem Spiegel) wolle sie nicht, daß man ihr verzeihe. Es sei doch nicht richtig, wenn sie sich immer durch die Nachsicht einer jüngern Schwester demütigen lassen müsse. Das sei die Kunst, – daß man sie immer in die Lage bringe, wo ihr vergeben werden müsse, ob sie's nun wolle, oder nicht. Zuletzt brach sie in heftiges Weinen aus, und als ihre Schwester kam und sich dicht neben sie setzte, um sie zu trösten, sagte sie: »Amy, du bist ein Engel!«
»Aber ich will dir etwas sagen, liebe Kleine«, sagte Fanny, als die Sanftmut ihrer Schwester sie etwas beruhigt hatte, »es ist jetzt an einem Punkt angekommen, daß es nicht mehr so fortgehen kann und soll, wie es im Augenblick geht, und daß auf die eine oder andere Art ein Ende gemacht werden muß.«
Da die Erklärung unbestimmt, obgleich sehr peremtorisch war, gab Klein-Dorrit zur Antwort: »Laß uns näher von der Sache sprechen.«
»Ganz recht, meine Liebe«, stimmte Fanny zu, während sie ihre Augen trocknete. »Laß uns von der Sache sprechen. Ich bin jetzt wieder vernünftig, und du sollst mir deinen Rat geben. Willst du mir deinen Rat geben, mein süßes Kind?«
Selbst Amy lächelte über diese Idee, sagte jedoch: »Ich will es, Fanny, so gut ich kann.«
»Dank dir, liebste Amy«, versetzte Fanny, indem sie sie küßte. »Du bist mein Anker.«
Nachdem sie ihren Anker mit großer Liebe geküßt, nahm Fanny einen Flacon mit feinem Parfüm vom Tisch und rief ihrem Mädchen, daß sie ihr ein feines Taschentuch bringe. Dann entließ sie die Dienerin für diese Nacht und machte sich bereit, sich Rats zu holen, indem sie von Zeit zu Zeit sich die Augen und Stirn mit dem Tuche betupfte, um sich zu kühlen.
»Meine Liebe«, begann Fanny, »unsre Charaktere und Ansichten sind sehr verschiedener Art (küsse mich wieder, mein Liebling), um es sehr wahrscheinlich zu machen, daß dich das, was ich zu sagen im Begriff bin, überraschen werde. Was ich sagen will, meine Liebe, ist, daß wir, trotz unseres großen Vermögens, sozial nicht die richtige Stellung einnehmen. Du wirst nicht verstehen, was ich meine, Amy?«
»Ich glaube doch, daß ich dich verstehen werde, wenn du noch ein paar Worte mehr sagst«, versetzte Amy mild.
»Gut, mein Liebe, was ich meine, ist dies, daß wir im ganzen Neulinge im fashionablen Leben sind.«
»Ich bin überzeugt, Fanny«, warf Klein-Dorrit in ihrem Eifer zu bewundern ein, »niemand wird dies an dir entdecken.«
»Gut, mein liebes Kind, vielleicht nicht«, sagte Fanny, »obgleich es recht freundlich und liebevoll von dir ist, du kostbares Mädchen, das zu sagen.« Hier tupfte sie die Stirn ihrer Schwester und blies ein wenig darauf. »Aber du bist, wie jedermann weiß, das liebste kleine Ding, das jemals existiert! Um jedoch wieder auf das frühere zu kommen, mein Kind. Papa ist außerordentlich vornehm in seinem Wesen und sehr gut unterrichtet; aber er ist in einigen Kleinigkeiten etwas verschieden von andern Gentlemen in seinen Vermögensumständen: teils infolgedessen, was er durchgemacht, der arme liebe Mann; teils, glaube ich, weil es ihm oft einfällt, daß andere Leute daran denken, während er mit ihnen spricht. Der Dünkel, meine Liebe, ist ganz unpräsentabel. Obgleich ein lieber Mann, dem ich sehr zugetan bin, ist er doch sozial höchst anstößig. Edward ist furchtbar verschwenderisch und liederlich. Ich sage damit nicht, daß etwas Ungentiles dabei sei – weit entfernt –, aber ich meine, daß er nichts geschickt angreift und daß er, wenn ich mich so ausdrücken darf, für den Ruf der Liederlichkeit, in den er sich setzt, nicht genug bekommt.«
»Der arme Edward!« seufzte Klein-Dorrit, und die ganze Geschichte der Familie lag in diesem Seufzer.
»Ja. Und auch du Arme und ich Arme«, versetzte Fanny ziemlich scharf. »Sehr wahr. Ferner, meine Liebe, haben wir keine Mutter, nur eine Mrs. General. Und ich sage dir noch einmal, mein Liebling, diese Mrs. General, wenn ich ein gewöhnliches Sprichwort umkehren und auf sie anwenden darf, ist eine Katze in Handschuhen, die Mäuse fangen wird. Diese Frau, davon bin ich fest überzeugt, wird unsere Stiefmutter werden.«
»Ich kann mir kaum denken, Fanny«, – Fanny unterbrach sie.
»Widersprich mir nicht, Amy«, sagte sie, »weil ich es besser weiß.« Da sie fühlte, daß sie wieder etwas scharf gewesen, tupfte sie ihrer Schwester Stirn und blies darauf. »Um jedoch wieder auf die Sache zu kommen, meine Liebe. Es entsteht jetzt für mich die Frage (aber ich bin stolz und lebhaft, Amy, wie du wohl weißt, vielleicht zu sehr), ob ich mich entschließen und es auf mich nehmen soll, der Familie durchzuhelfen.«
»Wie?« fragte Amy ängstlich.
»Ich will mich nicht von Mrs. General bestiefmuttern lassen«, sagte Fanny, ohne die Frage zu beantworten, »und ich will mich, auch in keiner Weise von Mrs. Merdle patronisieren und quälen lassen.«
Klein-Dorrit legte ihre Hand auf die Hand, die das Parfümfläschchen hielt, und sah dabei noch ängstlicher aus. Fanny, die ihre eigene Stirn mit dem heftigen Tupfen, das sie nun begann, eigentlich mehr strafte, fuhr etwas heftig fort:
»Daß er auf die eine oder andere Art – das Wie ist gleichgültig –- eine sehr gute Stellung bekommen hat, kann niemand leugnen. Daß er eine gute Partie ist, kann ebenfalls niemand leugnen. Und was die Frage betrifft, ob er gescheit oder nicht gescheit, so zweifle ich sehr, ob ein gescheiter Mann für mich taugte. Ich kann mal nicht nachgeben. Ich wäre nicht imstande, mich ihm genügend unterzuordnen.«
»Ah, meine liebe Fanny!« rief Klein-Dorrit, die eine Art von Schrecken erfaßt hatte, als sie begriff, was ihre Schwester meinte. »Wenn du jemanden liebtest, würden alle diese Gefühle sich ändern. Wenn du jemanden liebtest, würdest du nicht mehr du selbst sein, sondern dich ganz in der Hingabe an ihn aufgeben und verlieren. Wenn du ihn liebtest, Fanny«, – Fanny hatte mit Tupfen aufgehört und sah sie fest an.
«Oh, wirklich!« rief Fanny. »Wirklich? Der Tausend, wieviel gewisse Leute über gewisse Dinge wissen. Man sagte, jedermann habe einen Lieblingsgegenstand, und ich scheine wirklich den deinen berührt zu haben, Amy. Ich habe nur gescherzt, du kleines Ding«, sagte sie und betupfte dabei die Stirn ihrer Schwester; »aber sei kein albernes Kätzchen, und sprich nicht leichtsinnig und beredt von entarteten Unmöglichkeiten. So! Nun will ich aber wieder auf meine Sache zurückkommen.«
»Liebe Fanny, laß mich dir zuerst sagen, daß es mir weit lieber wäre, wenn wir für ein dürftiges Auskommen arbeiteten, als daß ich dich reich und mit Mr. Sparkler verheiratet sehen sollte.«
»Ich soll dich sagen lassen, meine Liebe?« versetzte Fanny. »Nun, ganz natürlich werde ich dich alles sagen lassen. Du brauchst dir hoffentlich keinen Zwang anzutun. Wir sind beieinander, um uns offen auszusprechen. Und was das Heiraten mit Mr. Sparkler betrifft, so habe ich nicht die geringste Absicht, es heute nacht, meine Liebe, oder morgen früh zu tun.«
»Aber irgendeinmal?«
»Niemals, soviel ich für jetzt weiß«, antwortete Fanny gleichgültig. Dann plötzlich aus ihrer Gleichgültigkeit in glühende Unruhe übergehend, fügte sie hinzu: »Du sprichst von gescheiten Männern, du kleines Ding. Es ist ganz hübsch und leicht, von gescheiten Männern zu sprechen: aber wo sind sie? Ich sehe sie nirgend in meiner Nähe!«
»Meine liebe Fanny, in der kurzen Zeit« –
»Kurze Zeit oder lange Zeit«, unterbrach Fanny, »ich bin unsrer Stellung überdrüssig, unsre Stellung ist mir zuwider, und wenig wäre nötig, um mich zu bewegen, sie zu verändern. Andre Mädchen, die anders erzogen und in andern Verhältnissen sind, würden sich vielleicht über das wundern, was ich sage oder tue. Meinetwegen, ihr Leben und ihr Charakter weist ihnen die Richtschnur an; mir weist sie mein Leben und mein Charakter an.«
»Fanny, meine liebe Fanny, du weißt, daß du Eigenschaften besitzest, die dich zur Gattin eines Mr. Sparkler weit überlegenen Mannes befähigen.«
»Amy, meine liebe Amy«, versetzte Fanny, ihre Worte parodierend, »ich weiß, daß ich eine entschiedenere, bestimmtere Stellung in der Gesellschaft einnehmen möchte, durch die ich mich mit größerem Nachdruck gegen diese insolente Frau behaupten könnte,«
»Würdest du dann – vergib mir die Frage, Fanny – ihren Sohn heiraten?«
»Nun, vielleicht«, sagte Fanny mit triumphierendem Lächeln. »Es kann viel weniger versprechende Wege geben, zu seinem Ziele zu kommen als diese, meine Liebe. Diese insolente Person denkt jetzt vielleicht, daß es ein großer Erfolg ihrer Taktik wäre, wenn sie ihren Sohn an mich losschlüge und mich losschälte. Aber es fällt ihr vielleicht wenig ein, wie ich's ihr vergelten würde, wenn ich ihren Sohn heiratete. Ich würde ihr in allem opponieren und ihr den Rang streitig machen. Ich würde mir dies als Lebensaufgabe stellen.«
Fanny setzte das Riechfläschchen nieder, als sie soweit gekommen war, und ging im Zimmer auf und ab: sie blieb jedoch immer stehen, sobald sie sprach.
»Eines, mein Kind, könnte ich sicher tun: ich könnte sie älter machen, und ich würde es auch tun!«
Sie ging wieder auf und nieder.
»Ich würde von ihr als von einer alten Frau sprechen. Ich würde tun, als wüßt' ich – wenn ich's auch nicht wüßte, aber ich wüßt' es von ihrem Sohne –, wie alt sie sei. Und sie sollte mich sagen hören, liebevoll, ganz wie es mir gebührt, und voll Hingebung, wie gut sie aussehe, wenn man ihr Alter in Anschlag bringe. Ich könnte sie älter aussehen machen, sofern ich weit jünger neben ihr wäre. Ich bin vielleicht nicht so hübsch wie sie, ich bin keine Autorität in dieser Beziehung, wie ich glaube: aber ich weiß, ich bin hübsch genug, um ihr ein Dorn im Auge zu sein. Und ich wäre es auch wirklich.«
»Aber, meine liebe Schwester, möchtest du dich auf solche Weise zu einem unglücklichen Leben verurteilen?«
»Das wäre ja kein unglückliches Leben für mich, Amy. Das wäre das Leben, wie ich's brauche. Sei es nun, daß meine Disposition oder meine Umstände mich darauf hinweisen, das gilt gleich: ich brauche mal ein solches Leben mehr als ein anderes.«
Es klang eine gewisse Verzweiflung aus diesen Worten heraus, aber mit einem kurzen stolzen Lachen begann sie aufs neue im Zimmer auf und ab zu gehen, und nachdem sie vor einem großen Spiegel vorübergekommen, begann sie abermals stehenzubleiben. »Figur! Figur, Amy! Wohl, die Frau hat eine hübsche Figur. Ich will ihr geben, was ihr gebührt, und leugne es nicht. Aber ist sie darin allen andern so sehr überlegen, daß sie geradezu unnahbar wird? Auf mein Wort, ich bin davon nicht so sehr überzeugt. Gib einer viel jüngern Frau, wenn sie verheiratet ist, die Erlaubnis, sich so zu kleiden, wie sie, wir wollen sehen, wie es dann steht, meine Liebe!«
Es lag etwas in diesem Gedanken, das ihr angenehm war und schmeichelte, wodurch sie in bessere Stimmung kam und sich wieder setzte. Sie nahm ihrer Schwester Hände in die ihren, klatschte mit allen vier Händen über ihrem Kopfe, während sie Amy lachend ins Gesicht sah, und sagte:
»Und die Tänzerin, Amy, die sie ganz vergessen hat – die Tänzerin, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte, und an die ich sie auch nie erinnere, o Liebe, nein! –, sollte durch ihr Leben tanzen und ihr im Wege herumtanzen nach einer Melodie, die ihre anmaßende Ruhe ein wenig aufrütteln würde. Ein ganz klein wenig, meine liebe Amy, nur ein ganz klein wenig!«
Da sie dem ernsten und bittenden Blicke Amys begegnete, brachte sie die vier Hände herunter und legte nur eine auf Amys Mund.
»Widersprich mir nicht, Kind«, sagte sie in ernsterem Ton, »weil es doch nichts nützt. Ich verstehe diese Sachen weit besser als du. Ich bin noch durchaus nicht entschlossen, aber es wird schon kommen. Wir haben nun die Sache ruhig miteinander besprochen und können zu Bett gehen. Du allerbestes und liebstes kleines Mäuschen, gute Nacht!« Mit diesen Worten lichtete Fanny ihren Anker und ließ – nachdem sie sich so viel Rats geholt – des Ratholens für diesmal genug sein.
Von dieser Zeit an beobachtete Amy die Behandlung, die Mr. Sparkler von seinem Unterdrücker zuteil wurde, mit neuen Gründen, allem, was zwischen ihnen vorging, Bedeutung beizulegen. Es gab Zeiten, wo Fanny durchaus nicht imstande zu sein schien, seine geistige Schwäche zu ertragen, und wo sie so ärgerlich und ungeduldig darüber wurde, daß sie gar nicht übel Lust hatte, ihm den Abschied zu geben. Zu andern Zeiten kam sie besser mit ihm zurecht, wo er sie amüsierte und das Bewußtsein der Überlegenheit diese andere Wagschale in der Schwebe zu erhalten schien.
Wenn Mr. Sparkler nicht der getreueste und gehorsamste Liebhaber gewesen wäre, so hätte die Härte, mit der er behandelt wurde, ihn wohl dazu bringen können, den Schauplatz seiner Leiden zu fliehen und mindestens die ganze Entfernung von Rom nach London zwischen sich und die Zauberin zu bringen. Aber er hatte keinen größeren Eigenwillen denn ein Boot, das von einem Dampfschiff ins Schlepptau genommen ist, und er folgte seiner grausamen Gebieterin, von gleich starker Macht in Bewegung gesetzt, durch dick und dünn. Mrs. Merdle sprach während dieser Zeit wenig mit Fanny, aber desto mehr von ihr. Sie war wie gezwungen, sie durch ihre Lorgnette anzusehen und in der allgemeinen Unterhaltung sich Lobeserhebungen über ihre Schönheit und die Unwiderstehlichkeit derselben abringen zu lassen. Der herausfordernde Charakter, den Fanny annahm, wenn sie diese Lobsprüche hörte (wie dies gewöhnlich geschah), zeugte nicht von Konzessionen, die sie dem unparteiischen Busen machte: aber die größte Rache, die der Busen nahm, war, recht vernehmlich zu sagen: »Eine verwöhnte Schönheit – aber bei diesem Gesicht und dieser Gestalt, kann man sich darüber wundern?«
Es mochte ungefähr einen Monat oder sechs Wochen nach dem Abend sein, an dem man sich Rats geholt, als Klein-Dorrit ein neues Einverständnis zwischen Mr. Sparkler und Fanny zu entdecken schien. Wie wenn ein Vertrag stipuliert worden, sprach Mr. Sparkler kaum je, ohne erst Fanny zuvor um Erlaubnis angesehen zu haben. Diese junge Dame war zu diskret, um ihn je wieder anzusehen: hatte Mr. Sparkler jedoch Erlaubnis zu sprechen, so schwieg sie: hatte er diese nicht, so sprach sie selbst. Außerdem ward es in die Augen springend, daß sooft Henry Gowan ihm den Freundschaftsdienst erweisen wollte, ihn bloßzustellen, er nicht bloßzustellen war. Und nicht allein das, sondern er pflegte auch stets ohne die mindeste nachweisbare Beziehung in der Welt etwas zu sagen, was einen solchen Stachel in sich hatte, daß Gowan augenblicklich sich zurückzog, als wenn er seine Hand in einen Bienenkorb gesteckt hätte.
Noch ein andrer Umstand bestärkte Klein-Dorrit nachdrücklich in ihren Besorgnissen, obgleich die Sache an und für sich unbedeutend war. Mr. Sparklers Benehmen gegen sie wurde anders. Es wurde brüderlich. Bisweilen, wenn sie in den äußersten Kreisen der Gesellschaft war – sei es nun im eigenen Hause, bei Mrs. Merdle oder sonstwo –, sah sie sich unversehens von Mr. Sparklers Arm umschlungen. Mr. Sparkler gab nie die geringste Erklärung über diese Aufmerksamkeit, sondern lächelte nur mit der Miene eines läppischen, zufriedenen, gutmütigen Menschen, der Eigentumsrechte geltend macht, was bei einem so schwerfälligen Menschen ominös ausdrucksvoll war.
Klein-Dorrit war eines Tages zu Hause und dachte mit schwerem Herzen an Fanny. Sie hatten ein Zimmer an dem einen Ende ihrer Reihe von Salons, das fast ganz aus einem über die Straße hervorragenden Erker bestand und das malerische Leben und Treiben des Korso hinauf und hinunter beherrschte. Um drei oder vier Uhr nachmittags, nach englischer Zeitrechnung, war die Aussicht von diesem Fenster sehr hübsch und eigentümlich: und Klein-Dorrit saß gewöhnlich in sinnendes Träumen versunken hier, wie sie in Venedig auf ihrem Balkon die Zeit zu verscheuchen gewöhnt gewesen war. Als sie eines Tages so dasaß, wurde sie sanft auf der Schulter berührt, und Fanny sagte: »Nun, meine liebe Amy«, und nahm neben ihr Platz. Ihr Sitz war ein Teil des Fensters; wenn eine Prozession oder eine derartige Feierlichkeit war, so pflegten sie bunte Teppiche aus diesem Fenster hinauszuhängen und knieten oder saßen auf einem Sitz und schauten über die glänzende Farbenpracht hinaus. An jenem Tage war jedoch keine Prozession, und Klein-Dorrit staunte einigermaßen darüber, daß Fanny zu dieser Stunde zu Hause war, während sie sonst gewöhnlich um diese Zeit ausritt.
»Nun, Amy«, sagte Fanny, »woran denkst du, kleines Geschöpf?«
»Ich dachte an dich, Fanny.«
»Wirklich? Welch ein Zusammentreffen. Hier ist noch jemand, muß ich dir sagen. Du hast doch nicht auch an diesen jemand gedacht; hm, Amy?«
Amy hatte wirklich auch an diesen Jemand gedacht: denn es war Mr. Sparkler. Sie sagte es jedoch nicht, als sie ihm die Hand gab. Mr. Sparkler kam herbei und setzte sich auf die andre Seite von ihr, und sie fühlte den brüderlichen Arm hinter sich herkommen, der offenbar auch Fanny einzuschließen im Begriff war.
»Nun, meine kleine Schwester«, sagte Fanny mit einem Seufzer, »ich denke, du weißt, was das bedeutet?«
»Sie ist so schön, wie sie feurig angebetet wird«, stammelte Mr. Sparkler, »und es ist kein Unsinn an ihr – es ist alles in Ordnung.«
»Du brauchst das nicht auseinanderzusetzen, Edmund«, sagte Fanny.
»Nein, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.
»Kurz, mein Kind«, fuhr Fanny fort, »um es gleich heraus zu sagen, wir sind verlobt. Wir müssen heute abend oder morgen mit Papa davon sprechen, wie sich die Gelegenheit bietet. Dann ist die Sache abgemacht, und wir brauchen wenig Worte mehr darüber zu verlieren.«
»Meine liebe Fanny«, sagte Mr. Sparkler mit ehererbietigem Wesen, »ich möchte Amy ein Wort sagen.«
»Nun! nun! sage es meinetwegen«, versetzte die junge Dame.
»Ich bin überzeugt, meine liebe Amy«, sagte Mr. Sparkler, »wenn je ein Mädchen existiert, außer unsrer hochbegabten und schönen Schwester, die keinen Unsinn an sich hat –«
»Wir wissen das alle wohl, Edmund«, warf Miß Fanny ein. »Sprich nicht davon. Bitte, sprich von etwas anderem als davon, daß wir keinen Unsinn an uns haben.«
»Ja, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. »Und ich versichere Ihnen, Amy, daß nichts ein größeres Glück für mich, für mich sein kann – nächst dem Glück, durch die Wahl eines so herrlichen Mädchens geehrt zu sein, das nicht ein Atom von –«
»Bitte, Edmund, bitte«, unterbrach ihn Fanny, mit einem leichten Aufstampfen ihres hübschen Fußes auf den Boden. »Meine Liebe, du hast ganz recht«, sagte Mr. Sparkler, »und ich weiß, es ist meine Gewohnheit. Was ich Ihnen erklären wollte,, war, daß nichts ein größeres Glück für mich sein kann, mich sein kann – nächst dem Glück der Verbindung mit dem ausgezeichnetsten und herrlichsten Mädchen –, als das Glück zu haben, die aufrichtige Freundschaft Amys mir zu gewinnen und erhalten zu suchen. Ich bin vielleicht«, sagte Mr. Sparkler mit männlicher Offenheit, »über manche Dinge nicht immer ganz im reinen und aufgeklärt, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie die Gesellschaft um ihre Meinung befragen, diese ziemlich einstimmig sagen wird, ich sei es nicht, aber in Beziehung auf Amy bin ich im reinen!«
Mr. Sparkler küßte sie zum Zeugnis dessen.
»Ein Messer, eine Gabel und ein Zimmer wird immer Amy zu Gebote stehen«, fuhr Mr. Sparkler fort, der im Vergleich mit seinen Redeantezedenzien ganz weitschweifig wurde. »Mein Erzieher wird, das bin ich überzeugt, immer stolz sein, jemanden zu empfangen, den ich so hoch achte. Und rücksichtlich meiner Mutter«, sagte Mr. Sparkler, »welche eine merkwürdig schöne Frau ist –«
»Edmund, Edmund!« rief Fanny wie zuvor.
»Mit deiner Erlaubnis, meine Seele«, entschuldigte sich Mr. Sparkler. »Ich weiß, ich habe die Gewohnheit, und ich bin dir sehr dankbar, mein anbetungswürdiges Mädchen, daß du dir die Mühe nimmst, mich zurechtzuweisen; aber meine Mutter ist, nach der allgemeinen Stimme, eine merkwürdig schöne Frau und hat wirklich keinen Unsinn an sich.«
»Das mag sein oder nicht«, versetzte Fanny, »aber ich bitte, sprich nicht wieder davon.«
»Es soll nicht mehr geschehen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.
»Dann hast du wirklich nichts mehr zu sagen, Edmund, nicht wahr«, fragte Fanny.
»So wenig, mein anbetungswürdiges Mädchen«, antwortete Mr. Sparkler, »daß ich mich entschuldige, so viel gesagt zu haben.«
Mr. Sparkler bemerkte durch eine Art Inspiration, daß die Frage die weitere enthielt, ob es nicht besser wäre, wenn er ginge? Er zog daher den brüderlichen Arm zurück und sagte hübsch, daß er mit ihrer Erlaubnis Abschied nehmen wolle. Er ging, nicht ohne Amys Glückwunsch zu empfangen, so gut sie dies in ihrer Aufregung und Betrübnis zu tun imstande war.
Als er fort war, sagte sie: »O Fanny, Fanny!« und drehte sich in dem hellen Fenster nach ihrer Schwester um und sank ihr an die Brust und weinte dort. Fanny lachte anfangs; aber bald lag ihr Gesicht an dem ihrer Schwester, und nun weinte auch sie – ein wenig. Es war das letztemal, daß Fanny zeigte, daß ein verborgenes, unterdrücktes oder überwundenes Gefühl in dieser Richtung in ihr lebte. Von dieser Stunde an lag der Weg, den sie gewählt, vor ihr, und sie ging ihn mit ihrem herrischen, eigenwilligen Schritt.