Man kann jeden Tag in den von Menschen wimmelnden Straßen der Hauptstadt einem magern, runzligen, gelben, alten Mann begegnen (von dem man glauben möchte, es sei aus den Sternen gefallen, wenn irgendein Stern am Himmel dunkel genug wäre, um in Verdacht zu geraten, er habe eine so schwache Schnuppe ausgeworfen). Er schleicht mit scheuer Miene fort, als mache ihn das Geräusch und der Lärm unheimlich ängstlich. Dieser alte Mann ist immer ein kleiner alter Mann. Wenn er je ein großer alter Mann gewesen war, so ist er zu einem kleinen alten Mann zusammengeschrumpft; war er immer ein kleiner alter Mann, so ist er zu einem noch kleineren alten Mann zusammengeschwunden. Sein Rock ist von einer Farbe und einem Schnitt, die nie und nirgends Mode waren. Offenbar war er weder für ihn noch für irgendeinen Sterblichen gemacht. Ein Lieferant en gros maß dem Schicksal fünftausend Röcke solcher Qualität an, und das Schicksal lieh diesen alten Rock diesem alten Manne als einem Glied aus der langen unendlichen Kette vieler alten Männer. Er hat immer große dunkle metallknöpfe, wie es sonst keine metallknöpfe gibt. Dieser alte Mann trägt einen Hut, einen abgegriffenen und kahlen, aber hartnäckigen Hut, der sich nie an seinen alten Kopf angeschmiegt. Sein schmutziges Hemd und sein schmutziges Halstuch haben nicht mehr Persönliches als sein Rock und sein Hut; sie haben denselben Charakter, als ob sie nicht ihm gehörten, – als ob sie niemandem gehörten. Und doch trägt dieser alte Mann diese Kleider mit einem gewissen ungewohnten Gefühl, für die Straße angezogen und herausgeputzt zu sein, als wenn er den größeren Teil seines Lebens in einer Nachtmütze und in einem Schlafrock zugebracht. So geht dieser alte Mann durch die Straße einher wie die Feldmaus im zweiten Hungerjahr, wenn sie die Stadtmaus besucht und ängstlich ihren Weg zur Wohnung dieser durch eine Stadt von Katzen sucht. [Fußnote]
Bisweilen wird man ihn an Festtagen gegen Abend noch etwas unsicherer einherschreiten sehen, und seine Augen werden wie ein feuchtes und sumpfiges Licht glänzen. Dann ist der alte Mann betrunken. Ein sehr kleines Maß wird ihn umwerfen; ein Viertelliter vermag seine unsicheren Beine aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ein mitleidiger Bekannter – er stößt sehr häufig auf Bekannte – hat ihm den schwachen Magen mit Bier erwärmt, und die Folge ist, daß es länger als gewöhnlich dauert, bis er wieder vorüberkommt. Denn der kleine alte Mann geht heim in das Armenhaus; und trotz seiner guten Aufführung lassen sie ihn nicht oft heraus (obgleich sie das meiner Ansicht nach doch sollten, wenn man die wenigen Jahre in Anschlag bringt, die er unter der Sonne noch aus- und einzugehen hat); und wegen seiner schlechten Aufführung schließen sie ihn fester als je mit einem Haufen von zwei Schock und neunzehn alten Männern ein, von denen jeder nach allen übrigen riecht.
Mrs. Plormishs Vater – ein armer, kleiner alter Mann mit einer rauhen Stimme – wie ein ausgesungener Vogel – war, wie er es nannte, Musikbinder gewesen, hatte vieles Unglück erlebt, und selten war es ihm gelungen, irgendwo sein Glück zu machen, oder zu wissen, was er machen solle, oder zu bezahlen, oder irgend etwas anderes zu tun, als nicht zu wissen, wo hinaus. Mrs. Plornishs Vater hatte sich bei der Pfändung, die Mr. Plornish nach dem Marschallgefängnis gebracht hatte, freiwillig in das Armenhaus zurückgezogen, das durch das Gesetz der barmherzige Samariter seines Distriktes (ohne die zwei Pence, eine schlechte Staats-Sparsamkeit) zu sein bestimmt war. Ehe die Verlegenheiten seines Schwiegersohnes diese Höhe erreichten, hatte der »alte Nandy« (so wurde er immer an seinem gesetzlichen Ruhesitz genannt, unter den »blutenden Herzen« hieß er der »alte Herr Nandy«) in einer Ecke am Kamine der Plornishs gesessen und seine Bedürfnisse an Speise und Trank aus dem Speiseschrank der Plornishs genommen. Er hoffte noch immer, diese häusliche Stellung wieder einzunehmen, wenn das Glück seinem Schwiegersohn lächeln sollte. In der Zwischenzeit bewahrte er sich eine unerschütterliche Fassung und war einer jener kleinen alten Männer in einem Haufen von alten kleinen Männern mit jenem gemeinschaftlichen Geruch und beschloß es auch zu bleiben.
Aber keine Armut, die auf ihm lastete, und kein nie in der Mode gewesener Rock, den er trug, und keine Altemännerwache vor seiner Wohnung konnte die Bewunderung seiner Tochter beeinträchtigen. Mrs. Plornish war so stolz auf ihres Vaters Talente, wie sie es hätte etwa sein können, wenn man ihren Vater zum Lord-Kanzler gemacht. Sie hatte einen so festen Glauben an die Feinheit und den Anstand feiner Manieren, wie sie es hätte haben können, wenn er Lord-Oberhofmeister gewesen. Der arme, kleine alte Mann kannte einige verblichene und abgelebte Lieder von Chloë und Phyllis und von Strephon, der von dem Sohn der Venus verwundet wurde. Diese Lieder waren längst verschollen. Für Mrs. Plornish gab's in der Oper selbst keine solche Musik, wie das schwächliche innere Zittern und Zirpen, mit dem der Alte diese Liedchen wie eine schwache, kleine, zerbrochene Drehorgel, die ein Wickelkind dreht, zum besten gab. An seinen ›Ausgehtagen‹, jenen Lichtpunkten in seiner flachen Aussicht auf die gekappten Bäume der alten Männer, war es Mrs. Plornishs Lust und Anliegen, wenn er tüchtig gegessen und für einen vollen halben Penny Porter getrunken, den alten Mann aufzufordern: ›Sing uns ein Lied, Vater!‹
Dann sang er ihnen gewöhnlich Chloë, und wenn er in besonders guter Stimmung war, auch Phyllis – zu Strephon war er kaum mehr zu bewegen, seit er sich auf seinen Ruhesitz zurückgezogen, und dann erklärte Mrs. Plornish gewöhnlich, sie glaube nicht, daß je ein solcher Sänger wie der Vater existierte, und rieb sich dazu die Augen.
Wenn er bei solchen Gelegenheiten von Hof gekommen wäre, ja, wenn er der edle ›Kühler‹ gewesen, der triumphierend von einem fremden Hofe heimgekehrt ist, um sich nach seinem letzten furchtbaren Mißlingen vorstellen und befördern zu lassen, hätte ihn Mrs. Plornish nicht mit größerer Begeisterung im Hof zum blutenden Herzen an der Hand umherführen können. ›Hier ist der Vater‹, sagte sie dann gewöhnlich, wenn sie ihn einem Nachbar vorstellte. ›Vater wird jetzt bald wieder für immer bei uns sein. Sieht Vater nicht gut aus? Vater singt angenehmer als je. Sie würden es in Ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen, wenn Sie ihn eben gehört hätten.‹ Mr. Plornish hatte diese Glaubensartikel geheiratet, als er Mr. Nandys Tochter zur Frau nahm, und wunderte sich nur, wie es kam, daß ein so begabter alter Mann nicht sein Glück gemacht hatte. Nach vielem Hin- und Hersinnen schrieb er es dem Umstand zu, daß sein musikalisches Genie nicht in der Jugend wissenschaftlich entwickelt worden war. ›Warum‹, argumentierte Mr. Plornish, ›warum Musik einbinden, wenn man sie in sich hat? Darin liegt's nach meiner Ansicht.‹
Der alte Nandy hatte einen Gönner: einen Gönner. Er hatte einen Gönner, der, auf eine gewisse pompös-prunkhafte Weise, auf eine zugleich entschuldigende Weise, als ob er ständig eine bewundernde Zuhörerschaft als Zeugen anriefe, daß er wirklich freundlich mit diesem alten Jungen sein könne, mehr als sie nach seiner Einfachheit und Armut erwartet haben dürften –, er hatte einen Patron, wie gesagt, der in solcher Weise außerordentlich gut gegen ihn war. Der alte Nandy war verschiedene Male im Marschallgefängnis gewesen und hatte mit seinem Schwiegersohn während seines kurzen Aufenthaltes dort verkehrt. Dadurch war er so glücklich, sich die Gönnerschaft des Vaters dieses Nationalinstituts zu erwerben, und hatte sie nach und nach im Verlauf der Zeit bedeutend gemehrt.
Mr. Dorrit hatte die Gewohnheit, diesen alten Mann zu empfangen, als wenn er in irgendeiner feudalen Lehensabhängigkeit von ihm stünde. Er gab ihm kleine Gastmähler und Tees, als wenn er mit seiner Huldigung von einem an der Grenze liegenden Distrikt käme, wo die Lehensleute noch in ihrem Urzustände seien. Es war, als ob es Augenblicke gäbe, in denen er nicht anders geschworen hätte, als daß der alte Mann einer seiner ehemaligen Vasallen sei, der sich durch seine Treue Verdienste erworben. Wenn er ihn erwähnte, so sprach er gewöhnlich als von seinem alten Pensionär. Er empfand eine ungemeine Befriedigung, wenn er ihn sah und über seinen herabgekommenen Zustand Bemerkungen machen konnte, sobald er gegangen. Es schien ihm erstaunlich, daß er überhaupt seinen Kopf aufrecht tragen konnte, der arme Mensch. »Im Armenhause, Sir, in der unio: keine Abgeschiedenheit, keine Besuche, keine Stellung, kein Respekt, keine Besonderheit für sich. Sehr traurig!«
Es war der Geburtstag des alten Nandy, und sie ließen ihn heraus. Er sagte nichts davon, daß sein Geburtstag sei; sonst hätten sie ihn vielleicht drinnen behalten; denn solche alten Leute sollten gar nicht geboren sein. Er ging durch die Straßen wie gewöhnlich nach dem Hof zum blutenden Herzen, nahm das Mittagmahl mit seinem Schwiegersohn und seiner Tochter ein und gab ihnen Phyllis zum besten. Er hatte kaum geschlossen, als Klein-Dorrit hereinsah, um zu hören, wie es ihnen allen gehe.
»Miß Dorrit«, sagte Mrs. Plornish, »hier ist der Vater! Sieht er nicht gut aus? Und was er für eine Stimme hat!«
Klein-Dorrit gab ihm ihre Hand und sagte lächelnd, sie hätte ihn schon so lange nicht mehr gesehen.
»Nein, sie sind ziemlich hart gegen den Vater«, sagte Mrs. Plornish mit einem länger werdenden Gesicht, »und lassen ihm nicht halb soviel Abwechslung und frische Luft zugute kommen, wie ihm wohltun würde. Aber er wird bald wieder ganz nach Hause kommen. Nicht wahr, Vater?«
»Ja, meine Liebe, ich hoffe es. Bald, wenn es Gott gefällt.«
Hier hielt Mr. Plornish eine Rede, die er gewöhnlich bei allen solchen Gelegenheiten, Wort für Wort dasselbe sagend, zum besten gab. Sie bestand in folgenden Ausdrücken:
»John Edward Nandy. Sir, solange eine Unze Speise oder Getränke irgendeiner Art unter diesem Dach sind, sollen Sie mir herzlich willkommen sein, sie mit uns zu teilen. Solange eine Handvoll Feuer oder ein Mundvoll Bett unter diesem Dach sind, sollen Sie mir herzlich willkommen sein, beides mit mir zu teilen. Sollte aber nichts mehr unter diesem Dache vorhanden sein, so werden Sie mir so willkommen sein, es zu teilen, als wenn es etwas mehr oder weniger wäre. Und das ist's, was ich meine, und so betrüge ich Sie nicht, und folglich, was da ist, können Sie fordern, und weshalb es nicht tun?«
Auf diese glänzende Anrede, die Mr. Plornish immer in einer Weise zum besten gab, als hätte er sie, was ohne Zweifel auch der Fall war, mit ungeheurer Anstrengung verfaßt, antwortete Mrs. Plornishs Vater in pfeifendem Ton:
»Ich danke Ihnen freundlich, Thomas, ich kenne Ihre Absichten wohl, was eben die Sache ist, für die ich Ihnen freundlich danke. Doch nein, Thomas, ehe solche Zeiten kommen, wie sie noch nicht da sind, wo ich's nicht aus ihrer Kinder Mund nähme, was geschieht, wenn ich's nehme, und nennen Sie's auch, wie Sie wollen, es bleibt immer dasselbe und ist eine Beraubung, wenn sie auch kommen, und so bald können sie nicht kommen, nein, Thomas, nein!«
Mrs. Plornish, die ihr Gesicht etwas abgewandt hatte und eine Ecke ihrer Schürze in der Hand hielt, mischte sich wieder in das Gespräch, indem sie Miß Dorrit mitteilte, daß Vater über die Themse gehen wolle, um seine Aufwartung zu machen, wenn sie nicht aus irgendeinem Grunde wüßte, daß es nicht angenehm wäre.
Ihre Antwort lautete: »Ich gehe gerade nach Hause, und wenn er mit mir kommen will, so werde ich mit Vergnügen für ihn sorgen – mit großem Vergnügen«, sagte Klein-Dorrit, die immer für die Schwachen besorgt war, »werde ich in seiner Gesellschaft gehen.«
»Hier, Vater!« rief Mrs. Plornish. »Wirst du nicht wieder jung und munter, daß du mit Miß Dorrit gehen darfst? Ich will dir dein Halstuch in einen regelmäßigen Knoten binden; denn du bist selbst ein rechter Stutzer, Vater, wenn es je einen solchen gab.«
Mit diesem kindlichen Scherze putzte ihn seine Tochter heraus und umarmte ihn herzlich, während sie an der Tür, mit dem schwachen Kinde auf dem Arme, stand, indes der stärkere Knabe die Treppe hinabrutschte. Sie sah ihrem kleinen alten Vater nach, der, seinen Arm in den von Miß Dorrit hängend, fortschwankte.
Sie gingen langsam, und Klein-Dorrit führte ihn über die Iron Bridge, ließ ihn dort sitzen, daß er sich ausruhe, und sie sahen über das Wasser hin und sprachen von Schiffahrt. Dabei sagte der alte Mann, was er tun würde, wenn er ein Schiff voll Gold hätte, das heimkehrte (sein Plan war, eine noble Wohnung für die Plornishs und sich selbst in einem Teegarten zu nehmen und dort ihr ganzes Leben, von dem Kellner bedient, zu wohnen). Es war diesmal wirklich ein ausgezeichneter Geburtstag für den alten Mann. Sie waren noch fünf Minuten von dem Ort ihrer Bestimmung entfernt, als sie an der Ecke ihrer Straße auf Fanny in ihrem neuen Hut stießen, die nach demselben Hafen hinsteuerte.
»Wie, ums Himmels willen, Amy!« rief das junge Mädchen erschrocken. »Du wirst doch nicht!«
»Was nicht, liebe Fanny?«
»Nein! Ich hätte viel von dir geglaubt«, versetzte die junge Dame mit glühender Entrüstung, »aber ich kann mir nicht denken, daß ich das, selbst von dir, für möglich gehalten hätte.«
»Fanny!« rief Klein-Dorrit verwundert und erstaunt.
»Oh, nenne mich nicht Fanny, du armseliges, kleines Ding, nenne mich nicht so. Welch ein Gedanke, auf offener Straße am hellen Tage mit einem Armenhäusler zu gehen!« Das Wort Armenhäusler schoß sie ab, als wäre es eine Kugel au« einer Luftkanone.
»Oh, Fanny!«
»Ich sage dir, du sollst mich nicht Fanny nennen; denn ich werde es nicht dulden. Ich kenne ein solches Geschöpf nicht. Die Art, wie du entschlossen bist, uns bei allen Gelegenheiten zu beschimpfen, ist wahrhaft abscheulich. Du schlechtes, kleines Ding!«
»Beschimpft das irgend jemand«, sagte Klein-Dorrit äußerst sanft, »wenn ich auf diesen armen, alten Mann achte?«
»Ja, Miß«, versetzte die Schwester, »und Sie sollten das wissen. Und Sie wissen es. Und Sie tun es, weil Sie's wissen. Das Hauptvergnügen Ihres Lebens ist es, Ihre Familie an ihr Unglück zu erinnern. Und das nächste große Vergnügen Ihres Leben« ist, sich in niederer Gesellschaft zu bewegen. Wenn Sie jedoch kein Gefühl für Distanz haben, so habe ich es. Sie werden mir gefälligst erlauben, unbelästigt auf der andern Seite der Straße zu gehen.«
Damit hüpfte sie nach dem entgegengesetzten Trottoir. Der alte Schandfleck, der sich untertänig verbeugend ein paar Schritte zurückgetreten war (denn Klein-Dorrit hatte in ihrem Staunen seinen Arm losgelassen, als Fanny über sie herzufallen begann) und der von den ungeduldigen Vorübergehenden gestoßen und verwünscht worden war, weil er ihnen den Weg versperrte, trat ziemlich taumelig wieder zu seiner Begleiterin und sagte: »Ich hoffe, es ist doch Ihrem geehrten Vater kein Unglück geschehen, Miß? Ich hoffe, es ist nichts in der geehrten Familie geschehen?«
»Nein, nein«, versetzte Klein-Dorrit, »nein, ich danke Ihnen. Geben Sie mir wieder Ihren Arm, Mr. Nandy. Wir werden bald zu Hause sein.«
So sprach sie denn wieder mit ihm, wie sie früher gesprochen, und sie kamen nach dem Pförtnerstübchen; Mr. Chivery öffnete ihnen, und sie traten ein. Da geschah es denn, daß der Vater des Marschallgefängnisses gerade nach dem Pförtnerstübchen schlenderte, als sie, Arm in Arm in das Gefängnis tretend, aus jenem herauskamen. Als er dieses Schauspiel gewahrte, sah man ihn in die fürchterlichste Aufregung geraten und bangen Kleinmut sein Herz erfassen. Ganz und gar des alten Nandy nicht achtend, der, seine Reverenz machend, mit dem Hut in der Hand dastand, wie er es immer in dieser gnädigen Gegenwart tat –, drehte er sich um und eilte nach seinem Torweg und die Treppe hinauf.
Den alten Unglücklichen loslassend, den sie in einer schlimmen Stunde unter ihren Schutz genommen, eilte Klein-Dorrit mit dem flüchtigen Versprechen, sogleich wieder zurückzukommen, ihrem Vater nach und sah Fanny auf der Treppe ihr folgen und mit beleidigter Würde einherstolzieren. Alle drei kamen beinahe zu gleicher Zeit in das Zimmer, und der Vater setzte sich in seinen Stuhl, begrub sein Gesicht in seine Hände und stöhnte laut.
»Wirklich«, sagte Fanny. »Sehr hübsch. Armer, gekränkter Vater! Nun, hoffe ich, glauben Sie mir, Miß!«
»Was ist dir, Vater?« rief Klein-Dorrit und beugte sich über ihn herab. »Habe ich dich unglücklich gemacht, Vater? Hoffentlich nicht ich!«
»Du hoffst wirklich! Ei seht doch! O du –« Fanny hielt inne, um dem Folgenden den gehörigen Nachdruck zu geben – »du niedrig denkende, kleine Amy! Du bist ein echtes Gefängniskind!«
Er tat diesen zornigen Vorwürfen Einhalt, indem er mit der Hand winkte und aufseufzte, während er seinen Blick erhob und sein melancholisches Haupt gegen seine jüngere Tochter schüttelte: »Amy, ich weiß, daß du keine böse Absicht hattest. Aber du hast mir ins Herz geschnitten.«
»Keine böse Absicht!« warf die unversöhnliche Fanny ein. »Eine elende Absicht! Eine gemeine Absicht! Eine die Familie erniedrigende Absicht!«
»Vater!« rief Klein-Dorrit, blaß und zitternd, »ich bin sehr unglücklich. Bitte, vergib mir. Sage mir, worum es sich handelt, daß ich es nicht wieder tue!«
»Was es ist, du pflichtvergessene Kreatur!« rief Fanny. »Du weißt, worum es sich handelt. Ich habe es dir bereits gesagt; keine Ausflüchte im Angesicht der Vorsehung, indem du es abzuleugnen suchst!«
»St! Amy!« sagte der Vater und fuhr mehrmals mit seinem Taschentuch über sein Gesicht. Dann preßte er das Tuch krampfhaft mit der Hand zusammen, die über sein Knie fiel. »Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, dich in einer gebührenden gesellschaftlichen Stellung zu bewahren; ich habe getan, was ich konnte, um dir hier eine Stellung zu bewahren. Es mag mir gelungen sein oder nicht. Du magst es wissen oder nicht. Ich spreche keine Meinung aus. Ich habe hier alles erduldet, außer Demütigung. Davor wurde ich – bis zu diesem Tag glücklich bewahrt.«
Hier öffnete sich seine krampfhaft zusammengepreßte Hand, und er brachte sein Taschentuch wieder an seine Augen. Klein-Dorrit, die neben ihm auf dem Boden kniete und die Hand bittend auf seinem Arm ruhen hatte, betrachtete ihn reuevoll. Als er sich endlich wieder etwas gefaßt, ergriff er noch einmal sein Taschentuch. »Vor Demütigung wurde ich glücklich bis heute bewahrt. Mitten in all meinen Widerwärtigkeiten war jene Würde in mir und jene – jene Unterwerfung unter denselben, wenn ich mich so ausdrücken darf, in meiner Umgebung, die mir jede Demütigung ersparte. Aber heute, in diesem Augenblick, habe ich sie tief gefühlt.«
»Natürlich! Wie konnte es anders sein!« rief die unerbittliche Fanny. »Mit einem Armenhäusler auf der Straße einherzustolzieren!« Neue Luftkanone.
»Aber, lieber Vater«, rief Klein-Dorrit, »ich will mich nicht von der Schuld lossprechen, daß ich dein teures Herz verwundet – nein! Der Himmel weiß, ich tue es nicht!« Sie rang die Hände in mächtigem Kampfe. »Ich kann nichts tun, als dich bitten und anflehen, dich zu beruhigen und darüber hinwegzusehen. Wenn ich jedoch nicht gewußt hätte, daß du selbst freundliche Gesinnungen für den alten Mann hegst und dich viel um ihn kümmerst und dich immer freutest, ihn zu sehen, wäre ich nicht mit ihm hierhergekommen, gewiß nicht. Was ich zu tun so unglücklich gewesen, war ein Mißgriff von mir. Ich wollte nicht absichtlich eine Träne deinen Augen entlocken, lieber Vater!« sagte Klein-Dorrit, und ihr Herz war nahe daran zu brechen, »um alles nicht, was die Welt mir geben oder nehmen könnte.«
Fanny begann nun mit einem halb zornigen, halb reuigen Seufzer selbst zu weinen und sagte – was diese junge Dame immer sagte, wenn sie halb in der Leidenschaft, halb bei Vernunft, halb feindselig gegen sich und halb feindselig gegen jedermann war –, sie wünschte, sie wäre tot.
Der Vater des Marschallgefängnisses zog indes seine jüngere Tochter an seine Brust und streichelte ihr den Kopf.
»So, so! Sage nichts mehr, Amy, sage nichts mehr, mein Kind. Ich will es so bald vergessen, wie ich kann. Ich« – fuhr er mit gemachter Munterkeit fort, »ich – werde es bald zu vergessen imstande sein. Es ist vollkommen wahr, mein liebes Kind, daß ich mich immer freue, meinen alten Pensionär als solchen, als solchen zu sehen – und daß ich so viel Schutz und Güte diesem – hm – zerstoßenen Rohr – ich glaube ihn wohl so nennen zu dürfen – angedeihen lasse, als ich in meinen Umständen vermag. Es ist ganz wahr, daß dies der Fall ist, mein liebes Kind. Zu gleicher Zeit bewahre ich jedoch – während ich dies tue, wenn ich – ha – wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf – meine Würde. Die gebührende Würde. Und es gibt Dinge, die«, er seufzte dazwischen, »die damit unvereinbar sind und sie verletzen, tief verletzen. Nicht dies, daß ich meine gute Amy aufmerksam und – hm – herablassend gegen meinen alten Pensionär gesehen, nicht dies ist es, was mich kränkt, sondern vielmehr – wenn ich, um der Sache ein Ende zu machen, deutlich sein soll –, daß ich mein Kind, mein eignes Kind, meine eigne Tochter von der offenen Straße – lächelnd! lächelnd! in unser Institut Arm in Arm – o mein Gott! mit einer Armenhauskleidung kommen sah!« Diese Anspielung auf den Rock von keinem Schnitt und keiner Zeit brachte der alte Mann mit kaum hörbarer Stimme und sein zusammengedrücktes Taschentuch vor sich hinhaltend hervor. Seine aufgeregten Gefühle würden einen weiteren schmerzlichen Ausdruck gefunden haben, wenn nicht an die Tür gepocht worden wäre, was bereits schon zweimal geschehen. Darauf rief Fanny (die noch immer wünschte, sie wäre tot, und nun sogar so weit ging, hinzuzufügen, begraben): »Herein!«
»Ah, der junge John!« sagte der Vater in einem andern und ruhigeren Tone. »Was gibt es, lieber John?«
»Ein Brief für Sie, Sir, der soeben im Pförtnerstübchen abgegeben wurde, und eine Botschaft, die ich, da ich zufällig gerade anwesend war, selbst in Ihr Zimmer heraufbringen zu wollen dachte.« Die Aufmerksamkeit des Sprechenden wurde durch den mitleidweckenden Anblick Klein-Dorrits, die zu den Füßen ihres Vaters lag und den Kopf abgewandt hatte, bedeutend zerstreut.
»Wirklich, John? Danke Ihnen.«
»Der Brief ist von Mr. Clennam, Sir – es ist die Antwort –, und die Botschaft, Sir, lautet, Mr. Clennam lasse sich Ihnen empfehlen und sagen, daß er sich selbst das Vergnügen machen werde, heute abend vorzusprechen in der Hoffnung, Sie zu sehen und auch«, die Aufmerksamkeit wurde noch mehr als zuvor abgelenkt, »Miß Amy.«
»Oh!« Als der Vater in den Brief blickte (es befand sich eine Banknote darin), errötete er ein wenig und streichelte Amy wieder auf den Kopf. »Danke Ihnen, lieber John. Ganz gut. Sehr verbunden für Ihre Aufmerksamkeit. Wartet niemand?«
»Nein, Sir, es wartet niemand.«
»Danke, John. Wie befindet sich Ihre Mutter, lieber John?«
»Danke, mein Herr, sie ist nicht ganz so wohl, wie wir es wünschten – im ganzen ist keines von uns, ausgenommen der Vater, wohl –, aber sie ist ziemlich wohl, Sir.«
»Sagen Sie ihr gefälligst, wir lassen uns empfehlen, wollen Sie? Sagen Sie ihr gefälligst, recht freundlich empfehlen, lieber John.«
»Danke, mein Herr, ich werde das ausrichten.« Und Mr. Chivery junior ging weg, nachdem er unwillkürlich auf der Stelle eine gänzlich neue Grabschrift für sich verfaßt hatte, die ungefähr so lautete: »Hier liegt die irdische Hülle John Chiverys, der so und so alt geworden, das Ideal seines Lebens in Schmerz und Tränen gesehen hatte, der außerstande, dieses herzzerreißende Schauspiel zu ertragen, sogleich nach der Wohnung seiner untröstlichen Eltern zurückkehrte und seinem Leben durch seine eigne rasche Hand ein Ende machte.«
»Nun, nun, Amy!« sagte der Vater, als der junge John die Tür hinter sich geschlossen, »wir wollen nicht mehr davon sprechen.« Die letzten wenigen Minuten hatten seine Stimmung wesentlich gebessert, und er war wieder ganz heiter. »Wo bleibt mein alter Pensionär die ganze Zeit? Wir dürfen ihn nicht länger sich selbst überlassen. Sonst möchte er glauben, er sei nicht willkommen, und das würde mich peinigen. Willst du ihn holen, mein Kind, oder soll ich es tun?«
»Wenn dir's nicht beschwerlich fällt, Vater«, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihrem Schluchzen ein Ende zu machen suchte.
»Nein, ich werde gehen, meine Liebe. Ich vergaß, deine Augen sind ziemlich rot. Ermuntre dich, Amy. Gräme dich nicht um mich. Ich bin ganz wieder ich selbst, meine Liebe, ganz ich selbst. Geh in dein Zimmer, Amy, und mach', daß du wieder hübsch und heiter aussiehst, um Mr. Clennam empfangen zu können.«
»Ich möchte lieber auf meinem Zimmer bleiben, Vater«, versetzte Klein-Dorrit, die schwerer als früher ihre Fassung wiederzugewinnen vermochte. »Ich möchte viel lieber Mr. Clennam nicht sehen.«
»O pfui, pfui, meine Liebe, das ist Narrheit. Mr. Clennam ist ein sehr netter Mann. Etwas zurückhaltend manchmal; aber ich muß gestehen, außerordentlich artig und fein. Ich könnte mir's nicht denken, daß du nicht hier wärest, um Mr. Clennam zu empfangen, meine Liebe, namentlich heute abend. Geh deshalb und mache dich wieder frisch, Amy; geh und mache dich wieder frisch, mein gutes Kind.«
Auf diesen Wink stand Klein-Dorrit pflichtgetreu auf und gehorchte. Einen Augenblick blieb sie jedoch stehen, als sie aus dem Zimmer ging, um ihrer Schwester einen Kuß zur Versöhnung zu geben. Diese junge Dame aber, die sich sehr niedergedrückt fühlte und für den Augenblick den Wunsch, mit dem sie es sonst erleichterte, erschöpft hatte, kam auf den glänzenden Gedanken, zu wünschen, der alte Nandy wäre lieber tot, als daß er als ein widerlicher, langweiliger, trauriger Mensch hierherkäme, sie quälte und Unfrieden zwischen den beiden Schwestern säte.
Der Vater des Marschallgefängnisses ging sogar summend und die schwarze Samtmütze etwas schief auf dem Kopf (so viel hatte sich seine Stimmung gebessert) in den Hof hinab und fand seinen alten Pensionär mit dem Hut in der Hand im Tore stehend, wie er die ganze Zeit gestanden hatte. »Kommen Sie, Nandy!« sagte er mit großer Weichheit. »Kommen Sie herauf, Nandy; Sie kennen ja den Weg! Warum kommen Sie nicht herauf?« Er tat bei dieser Gelegenheit sein Äußerstes, indem er ihm seine Hand gab und sagte: »Wie geht es Ihnen, Nandy? Sind Sie ganz wohl?« worauf dieser greise Sänger antwortete: »Ich danke Ihnen, geehrter Herr, ich befinde mich um viel besser, wenn ich Sie sehe.« Als sie durch den Hof gingen, stellte der Vater des Marschallgefängnisses ihn einem Kollegen von neuerem Datum vor. »Ein alter Bekannter von mir, Sir, ein alter Pensionär.« Dann sagte er mit großer Aufmerksamkeit: »Bedecken Sie sich, mein guter Nandy; setzen Sie Ihren Hut auf.« Seine Gönnerschaft blieb dabei nicht stehen; denn er beauftragte Maggy, den Tee bereit zu halten, und instruierte sie, einige Teekuchen, frische Butter, Eier, kalten Schinken und Krabben zu kaufen; zum Ankauf dieses Imbisses gab er ihr eine Zehnpfundnote, indem er ihr ans Herz legte, vorsichtig beim Wechseln zu sein. Diese Vorbereitungen waren ziemlich weit vorgeschritten und seine Tochter Amy mit ihrer Arbeit zurückgekommen, als Clennam eintrat. Er empfing ihn außerordentlich freundlich und bat ihn, an ihrem Mahl teilzunehmen.
»Amy, mein liebes Kind, du kennst Mr. Clennam sogar besser, als ich das Glück habe. Fanny, mein gutes Kind, du kennst Mr. Clennam gleichfalls.« Fanny bejahte stolz, denn die Voraussetzung, von der sie in allen solchen Fällen stillschweigend ausging, war die, daß eine große Verschwörung bestehe, die die Familie beleidigen wolle, indem man sie nicht zu verstehen oder sich nicht gehörig ihr unterwerfen zu wollen den Anschein gebe; und hier war einer von den Verschworenen. »Dies, Mr. Clennam, müssen Sie wissen, ist ein alter Pensionär von mir, der alte Nandy, ein sehr treuer, alter Mann.« (Er sprach stets von ihm als einem sehr alten Gegenstand, und doch war er zwei bis drei Jahre jünger als er selbst.) »Lassen Sie mich sehen. Sie kennen Plornish, denke ich? Ich glaube, meine Tochter Amy hat mir gesagt, daß Sie den armen Plornish kennen?«
»O ja!« sagte Arthur Clennam.
»Nun, Sir, das ist Mrs. Plornishs Vater.«
»Wirklich? Ich freue mich, ihn kennenzulernen.«
»Sie würden sich noch mehr freuen, wenn Sie seine zahlreichen guten Eigenschaften kennten, Mr. Clennam.«
»Ich hoffe, sie dadurch kennenzulernen, daß ich ihn kenne«, sagte Arthur und bemitleidete innerlich die gebeugte und demütige Gestalt.
»Es ist heute ein Festtag für ihn, und er kommt, seine alten Freunde zu besuchen, die sich immer freuen, ihn zu sehen«, bemerkte der Vater des Marschallgefängnisses. Dann fügte er hinter seiner Hand hinzu: »In der unio, der arme, alte Bursche. Durfte heute ausgehen.«
Maggy hatte inzwischen in der Stille, von ihrem Mütterchen unterstützt, den Tisch gedeckt, und das Mahl stand bereit. Da es heißes Wetter und das Gefängnis sehr eng war, stand das Fenster so weit offen, wie man es öffnen konnte. »Wenn Maggy diese Zeitung auf die Fensterbank legen will, meine Liebe«, bemerkte der Vater gelassen und halb flüsternd gegen Klein-Dorrit, »so kann mein alter Pensionär dort seinen Tee nehmen, während wir hier trinken."
Wahrend so eine Kluft von ungefähr einem Fuß Breite, Originalmaß, zwischen ihm und der guten Gesellschaft geschaffen war, wurde Mrs. Plornishs Vater gut bewirtet. Clennam hatte nie etwas Ähnliches gesehen wie die großherzige Protektion dieses andern Vaters, des vom Marschallgefängnisse, und war ganz in die Betrachtung ihrer vielen Merkwürdigkeiten versunken. Das Merkwürdigste von alledem aber war vielleicht die selbstgefällige Art, wie er die Schwächen und Fehler des Pensionärs bemerkte, als wenn er ein herablassender Wärter wäre und einen fortlaufenden Kommentar zu dem traurigen Zustand des harmlosen Tiers gäbe, die er zeigte.
»Nicht Lust zu noch etwas Schinken, Nandy? Nun, wie langsam Sie essen!« (»Seine letzten Zähne«, erklärte er der Gesellschaft, »fallen aus, der arme Junge.«)
Ein andermal fragte er: »Keine Krabben, Nandy?« und als er nicht sogleich antwortete, bemerkte er: (»Sein Gehör ist sehr mangelhaft geworden. Er wird nächstens taub sein.«)
Nieder ein andermal fragte er ihn: »Gehen Sie viel innerhalb der Mauern im Hofe Ihres Hauses spazieren?«
»Nein, Sir, nein. Ich habe keine große Liebhaberei dafür.«
»Nun ja«, pflichtete er bei. »Ganz natürlich.« Dann unterrichtete er insgeheim den Kreis: (»Die Beine können nicht mehr recht gehen.«)
Einmal wandte er sich an den Pensionär mit seiner gewöhnlichen Huld, die nur irgend etwas fragte, um ihn flott zu erhalten, wie alt sein jüngerer Enkel sei?
»John Edward«, sagte der Pensionär, indem er langsam Messer und Gabel niederlegte, um sich zu besinnen: »Wie alt, Sir? Lassen Sie mich etwas nachdenken.«
Der Vater des Marschallgefängnisses berührte seine Stirn. (»Das Gedächtnis wird schwach.«)
»John Edward, Sir. Ja, ich habe wirklich vergessen. Ich könnt es in diesem Augenblick nicht sagen, ob er zwei Jahre und zwei Monate, oder zwei Jahre und fünf Monate alt ist. Eins oder das andere.«
»Beunruhigen Sie sich nicht dadurch, daß Sie Ihren Kopf anstrengen«, entgegnete jener mit unendlicher Nachsicht. (»Die geistigen Fähigkeiten lassen sichtlich nach – der alte Mann versauert bei dem Leben, das er führt!«)
Je mehr solche Entdeckungen er bei dem Pensionär zu machen sich überredete, desto besser schien er ihm zu gefallen; und als er nach dem Tee von seinem Stuhl aufstand, um dem Pensionär guten Abend zu sagen, da dieser zu verstehen gab, er fürchte, seine Zeit sei um, richtete er sich so hoch und stolz auf, wie es ihm nur immer möglich war.
»Wir nennen das nicht einen Schilling, Nandy, Sie wissen es«, sagte er, indem er ihm einen solchen in die Hand steckte. »Wir nennen es Tabak.«
»Edler Herr, ich danke Ihnen. Ich werde mir Tabak dafür kaufen. Meinen Dank und mein Kompliment, Miß Amy und Miß Fanny. Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Mr. Clennam.«
»Und vergessen Sie uns nicht, Nandy, nicht wahr«, sagte der Vater. »Sie müssen wiederkommen, merken Sie sich's, wenn Sie wieder einen Nachmittag frei haben. Sie dürfen nicht ausgehen, ohne uns zu besuchen, sonst werden wir eifersüchtig. Gute Nacht, Nandy. Geben Sie gut acht, wenn Sie die Treppen hinuntergehen; sie sind ziemlich uneben und ausgetreten.« Während er dies sagte, stand er auf der obersten Stufe der Treppe und sah dem alten Mann nach. Als er wieder in das Zimmer zurückkam, sagte er mit feierlicher Selbstzufriedenheit: »Ein melancholischer Anblick das, Mr. Clennam, wenn man auch den Trost hat, daß er selbst es nicht fühlt. Der arme, alte Junge ist ein trauriges Wrack. Der Geist gebrochen und dahin – zu Staub zermalmt – vollständig aus ihm herausgepreßt, Sir!«
Da Clennam die Absicht hatte zu bleiben, so sagte er, was er eben auf diese Gefühle antworten konnte, und stand am Fenster mit dem, der sie geäußert, während Maggy und ihr Mütterchen das Teeservice reinigten und wegschafften. Er bemerkte, daß dieser Mann, mit dem er sich hier unterhielt, mit der Miene eines herablassenden und gnädigen Souveräns am Fenster stand und daß, wenn jemand von den Leuten im Hofe unten heraufsah, die Art, wie er ihren Gruß erwiderte, wenig anders als wie ein Segenausteilen aussah.
Als Klein-Dorrit mit ihrer Arbeit am Tische und Maggy mit der ihrigen auf dem Bett beschäftigt war, begann Fanny den Hut als Vorbereitung zu ihrem Weggange zu binden. Arthur, der noch immer dieselbe Absicht hatte, blieb. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, ohne daß vorher gepocht worden wäre, und Mr. Tip trat ein. Er küßte Amy, als sie aufsprang, um ihm entgegenzugehen, nickte Fanny zu, nickte seinem Vater zu, sah den Fremden finster an, ohne sich weiter bekannt zu machen, und setzte sich nieder.
»Lieber Tip«, sagte Klein-Dorrit, die dies gekränkt hatte, in mildem Tone, »siehst du nicht –«
»Ja, ich sehe, Amy. Wenn du damit auf die Anwesenheit eines Besuchs, den du hier hast – ich sage, wenn du darauf anspielst«, antwortete Tip, indem er seinen Kopf energisch nach Clennams Seite warf, »so sehe ich wohl!«
»Ist das alles, was du sagst?«
»Das ist alles, was ich sage. Und ich vermute«, fügte der stolze junge Mann nach einer kurzen Pause hinzu, »der Fremde wird mich verstehen, wenn ich sage, das sei alles, was ich sage. Kurz, ich glaube, der Fremde wird verstehen, daß er mich nicht wie ein Gentleman behandelt.«
»Ich verstehe das nicht«, bemerkte die strafbare Person, von der die Rede war, mit größter Ruhe.
»Nicht? Nun denn, um es Ihnen klarer zu machen, Sir, gestatten Sie mir Ihnen zu bemerken, daß, wenn ich eine gutgesetzte Ansprache, eine dringende Ansprache – um eine kleine zeitweilige Unterstützung, die ihm leicht wird – sehr leicht wird, merken Sie sich das! – an jemanden richte, und dieser Jemand schreibt mir zurück, er bitte, ihn zu entschuldigen, so scheint es mir, er behandelt mich nicht als einen Gentleman.«
Der Vater des Marschallgefängnisses, der seinen Sohn schweigend beobachtete, hörte nicht sobald dieses Gefühl äußern, als er in zornigem Ton sagte:
»Wie kannst du es wagen –«
Aber sein Sohn unterbrach ihn. »Frage mich nicht, wie ich das wagen kann, Vater; denn es ist nichts. Was die Richtschnur meines Benehmens betrifft, das ich gegen die gegenwärtige Person zu wählen für gut fand, so solltest du stolz sein, daß ich Selbstgefühl an den Tag lege.«
»Allerdings!« rief Fanny.
»Ein Selbstgefühl?« sagte der Vater. »Ja, ein schönes Selbstgefühl, ein passendes Gefühl! Ist es so weit gekommen, daß mein Sohn mich – mich – lehrt, was Würde ist?«
»Laß uns nicht darüber streiten, Vater, sonst könnte es Spektakel geben. Ich habe mir's nun mal in den Kopf gesetzt, daß mich gegenwärtiges Individuum nicht wie ein Gentleman behandelt hat. Und damit basta.«
»Nein, damit nicht basta, mein Herr«, versetzte der Vater. »Es soll damit nicht basta sein. Du hast dir's in den Kopf gesetzt?«
»Ja, allerdings. Wozu das nochmals wiederholen?«
»Weil«, versetzte der Vater in großer Hitze, »du kein Recht hast, dir in den Kopf zu setzen, was widernatürlich – was – ha – unmoralisch, was – hm – vatermörderisch ist. Nein, Mr. Clennam, ich bitte Sie, Sir. Verlangen Sie nicht, daß ich davon abstehe; es handelt sich hier – hm – um Grundsätzliches – das selbst über die Rücksichten der Gastfreundschaft wegsehen muß. Ich muß mich der Behauptung meines Sohnes widersetzen. Ich – ha – weise sie persönlich zurück.«
»Nun, was geht es denn dich an, Vater?« versetzte der Sohn von oben her.
»Was es mich angeht, mein Herr! Ich habe eine – hm – Würde, Sir, die es nicht dulden will. Ich«, er nahm sein Taschentuch wieder heraus und wischte sich sein Gesicht, »ich bin beschimpft und beleidigt. Lassen Sie mich den Fall setzen, daß ich selbst einmal – ja – oder mehrmals eine Ansprache, eine gutgesetzte Ansprache, und eine feinfühlige Ansprache, und eine dringende Ansprache wegen einer zeitweiligen Unterstützung an jemanden gerichtet hätte. Lassen Sie mich den Fall setzen, daß diese Unterstützung leicht hätte gewährt werden können und nicht gewährt worden wäre, und dieser Jemand nur mitteilte, er bitte ihn zu entschuldigen. Soll ich mir deshalb von meinem eigenen Sohne sagen lassen, ich sei auf eine eines Gentlemans unwürdige Weise behandelt worden, und ich hätte mich – ha – zufrieden gegeben?«
Seine Tochter Amy suchte ihn sanft zu beruhigen, aber er wollte um keinen Preis beruhigt sein. Er sagte, seine Würde sei verletzt und er wolle das nicht dulden.
Ob er sich von seinem eignen Sohne, an seinem eignen Herd, das ins Gesicht sagen lassen müsse, wollte er wissen. Ob diese Demütigung ihm von seinem eignen Blute widerfahren dürfe? »Du spielst das auf dich selbst hinüber, Vater, und redest dich freiwillig in all diese Beleidigungen hinein«, sagte der junge Mensch mürrisch. »Was ich mir in den Kopf gesetzt, hat nichts mit dir zu tun. Warum mußt du andrer Leute Hüte ausprobieren?«
»Ich antworte, es hat alles wohl mit mir zu tun«, versetzte der Vater. »Ich gebe dir mit Entrüstung zu bedenken, daß – hm – die – ha – besondere und eigentümliche Stellung deines Vaters, wenn auch nichts andre, dich zum Schweigen bringen und dich solch – ha – unnatürliche Grundsätze aufzugeben zwingen sollte. Und dann, wenn du auch keine kindlichen Gefühle hegst, wenn du diese Pflicht aus den Augen lassest, bist du nicht wenigstens – hm – ein Christ? Bist du – ha – ein Atheist? Und ist es christlich, möcht' ich dich fragen, eine Person zu brandmarken und zu denunzieren, weil sie diesmal zu entschuldigen bat, während dasselbe Individuum das nächste Mal – ha – die erbetene Unterstützung gewährt? Ist es denn nicht die Aufgabe des Christen – hm – ihn noch einmal auf die Probe zu stellen?« Er hatte sich förmlich in einen religiösen Feuereifer hineingeredet.
»Ich sehe wohl«, sagte Tip und stand auf, »daß ich heute abend keine Überzeugungskraft besitze: deshalb ist es das beste, der Sache ein Ende zu machen. Gute Nacht, Amy. Laß es dich nicht grämen. Ich fürchte wirklich, daß du dich darüber grämst, und daß du gerade hier, bei meiner Seele, schmerzt mich; aber ich kann, selbst um deinetwillen, liebes Mädchen, auf meine Würde nicht verzichten.«
Mit diesen Worten setzte er seinen Hut auf und ging in Begleitung von Miß Fanny weg, die es ihrer Würde schuldig zu sein glaubte, den Gast mit keiner geringeren Bekundung ihrer Abneigung zu verlassen, als daß sie ihn mit einem starren Blick ansah, der die Bedeutung in sich schloß, daß sie ihn immer als einen von der großen Korporation der Verschwörer gekannt.
Als sie fortgegangen, war der Vater des Marschallgefängnisses anfangs geneigt, wieder in Kleinmut zu verfallen, und es wäre das wohl auch geschehen, wenn nicht glücklicherweise eine Minute später oder zwei ein Kollege heraufgekommen, um ihn in die Snuggery abzuholen. Es war derselbe, den Clennam in der Nacht seiner eigenen zufälligen Gefangenschaft gesehen, und der jenen unaussprechlichen Schmerz wegen des Schatzes geäußert, den der Marschall sich unrechtmäßigerweise angeeignet, um sich damit gütlich zu tun. Er stellte sich als Deputation vor, die den Vater zum Präsidentenstuhl abholen sollte, da es eine Gelegenheit sei, zu der er versprochen, den versammelten Kollegen bei der Belustigung einer kleinen Geselligkeit zu präsidieren.
»Sehen Sie, Mr. Clennam«, sagte der Vater, »das sind die Ungereimtheiten meiner hiesigen Stellung. Aber es ist eine öffentliche Pflicht! Ich bin jedoch überzeugt, niemand würde eine öffentliche Pflicht bereitwilliger anerkennen als Sie.«
Clennam bat ihn, keinen Augenblick zu zögern. »Amy, mein liebes Kind, wenn du Mr. Clennam zu überreden vermagst, länger zu bleiben, so kann ich dir mit Vertrauen die Honneurs unseres dürftigen Hauses überlassen, und vielleicht gelingt es dir, etwas dazu beitragen, den verdrießlichen und unangenehmen Zwischenfall, der sich seit dem Tee ereignet, in Mr. Clennams Erinnerung zu verwischen.«
Clennam versicherte ihn, daß er keinen Eindruck auf ihn gemacht und es deshalb keines Verwischens bedürfe.
»Mein lieber Herr«, sagte der Vater, indem er seine schwarze Mütze abnahm und Clennams Hand ergriff, wodurch er den richtigen Empfang seines Briefes nebst Einlage am heutigen Nachmittag andeuten wollte, »der Himmel segne Sie!«
So war endlich Clennams Absicht, zu bleiben, erreicht, und er konnte Klein-Dorrit ohne Zeugen sprechen. Maggy zählte für niemand; sie war dabei.