In London selbst, wenn auch auf dem alten Landweg nach einer bedeutenden Vorstadt, wo in den Tagen William Shakespeares, des Schriftstellers und Schauspielers, königliche Jagdsitze sich befanden, jetzt aber nur noch Raum für das Jagdvergnügen von Menschenjägern ist, lag der Hof zum blutenden Herzen. Ein Ort, der sich in seinem Aussehen und seinen Verhältnissen sehr verändert, aber immer noch das Gepräge seiner früheren Größe nicht ganz verloren hat. Zwei bis drei mächtige Reihen Schornsteine und einige große dunkle Räume, die man nicht mit Wänden durchzogen und deren alte Proportionen man nicht durch Zerteilung unkenntlich gemacht, gaben dem Hof einen gewissen Charakter. Er wurde von alten Leuten bewohnt, die ihren Ruhesitz unter seinem verschwundenen Glanze aufschlugen, wie die Araber der Wüste ihre Zelte unter den herabgefallenen Quadern der Pyramiden; es war jedoch bei den Familien in dem Hofe das behagliche Gefühl vorherrschend, daß er einen Charakter hatte.
Als ob die künftige Stadt sich bereits in dem Boden selbst, auf dem dieser Hof stand, blähte, hatte sich um den besagten Hof die Erde so hoch aufgeworfen, daß man über eine Treppe dahin gelangte, die einen Teil des ursprünglichen Zugangs bildete, während man aus demselben durch einen niederen Torweg in ein Labyrinth von häßlichen Straßen kam. Diese führten nach allen Seiten, bis man endlich über mancherlei Krümmungen wieder in die Ebene gelangte. Auf einer Seite des Hofes, über dem Torweg, befand sich die Werkstätte von Daniel Doyce, die oft so schwer wie ein blutendes Herz aus Eisen von dem Geklirr von metall auf metall erdröhnte.
Die Meinungen des Hofes waren bezüglich der Herkunft seines Namens geteilt. Die Praktischeren unter den Bewohnern blieben bei der Sage eines Mordes. Die empfindsameren, phantasiereicheren Insassen, mit Einschluß des zarten Geschlechts, hielten sich an die Legende von einer jungen Dame, die in früheren Zeiten von einem grausamen Vater in ihrem Zimmer eingekerkert wurde, weil sie ihrem treuen Geliebten treu blieb und sich weigerte, den Gemahl, den er ihr gewählt, zu heiraten. Die Legende erzählte, wie die junge Dame an ihrem Fenster oben hinter den Gittern oftmals gesehen wurde, ein Lied vom verlorenen Geliebten singend, dessen Refrain lautete: »Blutend Herz, blutend Herz, mußt verbluten«, bis sie endlich starb. Die mörderische Partei warf dagegen ein, daß dieser Refrain notorisch die Erfindung einer Stickerin, einer alten Jungfer und romantischen Person, sei, die noch im Hofe wohne. Aber, sofern alle Lieblingssagen mit den Neigungen in Verbindung stehen und weit mehr Menschen sich verlieben als Morde begehen, – was, so schlecht wir auch sind, hoffentlich bis zum Ende der Welt die göttliche Fügung sein wird, unter der wir leben – so behielt die Geschichte vom »Blutend Herz, blutend Herz, mußt verbluten«, weitaus die Oberhand. Keine Partei wollte auf die Altertumsforscher hören, die gelehrte Vorlesungen in der Nachbarschaft hielten und zeigten, daß das »Blutende Herz« das heraldische Abzeichen der alten Familie sei, der das Besitztum früher gehört. Und wenn man bedenkt, daß das Stundenglas, das sie von Jahr zu Jahr umdrehten, mit dem irdischsten und gemeinsten Sand gefüllt war, so hatten die Bewohner des Hofes zum blutenden Herzen Grund genug, sich dagegen zu verwahren, daß man sie des einzigen, kleinen goldenen Korns von Poesie berauben wollte, das darin glänzte.
Daniel Doyce, Mr. Meagles und Clennam stiegen über die Treppe in den Hof. Sie durchschritten ihn und gingen zwischen den offnen Türen zu beiden Seiten vorbei, die reichlich mit mageren Kindern besetzt waren, die dicke Kinder hüteten. Dann kamen sie an das entgegengesetzte Ende, den Torweg. Hier blieb Arthur Clennam stehen, um sich nach der Wohnung des Gipsers Plornish umzusehen, dessen Namen nach echter Londoner Sitte Daniel Doyce bis zu dieser Stunde nie gesehen noch gehört.
Und doch war er so leicht zu sehen, wie Klein-Dorrit gesagt: über einem mit Kalk beworfenen Torweg in der Ecke, in der Plornish eine Leiter und einige Töpfe stehen hatte. Das letzte Haus im Hof zum blutenden Herzen, das sie als seine Wohnung beschrieben, war ein großes, an verschiedene Bewohner vermietetes Gebäude. Aber Plornish deutete auf höchst sinnreiche Art an, daß er im Parterre wohne, indem er eine Hand unter seinen Namen gemalt hatte, deren Zeigefinger (an dem der Künstler einen Ring und einen schön geformten Nagel angebracht) alle Frager nach diesem Zimmer wies.
Von seinen Begleitern sich trennend, nachdem er eine zweite Zusammenkunft mit Mr. Meagles verabredet, ging Mr. Clennam allein nach dem Eingang und klopfte mit dem Finger an das Parterrezimmer. Es wurde alsbald von einer Frau geöffnet, die ein Kind auf dem Arme hatte, und deren unbeschäftigte Hand rasch den obern Teil ihres Kleides in Ordnung brachte. Das war Mrs. Plornish, und diese mütterliche Beschäftigung war die Beschäftigung von Mrs. Plornish während des größten Teils ihres wachen Daseins.
»Ist Mr. Plornish zu Hause?«
»Nein, mein Herr«, sagte Mrs. Plornish, eine höfliche Frau, »die Wahrheit zu sagen, er ist ausgegangen, um nach einem Geschäft zu sehen.«
»Die Wahrheit zu sagen«, war eine Redensart von Mrs. Plornish. Sie hätte die Menschen unter allen Umständen so wenig wie möglich getäuscht; aber sie hatte die Eigenheit, in dieser vorsichtigen Weise zu antworten.
»Glauben Sie, daß er bald zurück sein wird, wenn ich auf ihn wartete?«
»Ich erwarte ihn schon seit einer halben Stunde jeden Augenblick«, sagte Mrs. Plornish. »Treten Sie ein, Sir.«
Arthur trat in das ziemlich dunkle und dumpfige, obgleich sehr hohe Parterrezimmer und setzte sich auf den Stuhl, der ihm hingestellt worden war.
»Die Wahrheit zu sagen, Sir, ich schlag' es hoch an«, sagte Mrs. Plornish, »ich halte es für sehr gütig von Ihnen.«
Er wußte nicht recht, was sie damit meinte; und dies Gefühl, das sich in seinen Augen aussprach, entlockte ihr eine Erklärung.
»Es kommen nicht viele an diesen Ort der Dürftigkeit, die es der Mühe wert halten, ihren Hut abzunehmen«, sagte Mrs. Plornish. »Aber man denkt doch mehr darüber nach, als die Leute glauben.«
Clennam, der sich verlegen fühlte bei dem Gedanken, daß diese unbedeutende Höflichkeit etwas Außergewöhnliches sei, entgegnete: das sei nicht der Rede wert. Und sich hinabbeugend, um einem andern kleinen Kinde die Wangen zu kosen, das auf dem Boden saß und ihn anblickte, fragte er Mrs. Plornish, wie alt der hübsche Knabe sei.
»Gerade vier Jahre, Sir«, sagte Mrs. Plornish. »Es ist wirklich ein hübscher kleiner Junge, nicht wahr, Sir? Aber der da ist etwas kränklich.« Sie wiegte den Säugling sanft in den Armen, während sie dies sagte. »Sie werden mir gütigst erlauben, Sie zu fragen, Sir, ob es ein Geschäft ist, wegen dessen Sie gekommen?« fügte Mrs. Plornish neugierig hinzu.
Sie fragte so besorgt, daß, wenn er irgendeine Art von Haus gehabt, er es lieber einen Fuß dick hätte mit Gips bewerfen lassen, als nein zu sagen. Aber er war genötigt, nein zu antworten; und er sah einen Schatten von Enttäuschung über ihr Gesicht hinziehen, während sie tief aufseufzte und nach dem herabgebrannten Feuer blickte. Er sah indessen, daß Mrs. Plornish eine junge Frau war, die durch die Armut etwas schlampig an sich selbst und in ihrer Umgebung geworden; Armut und Kinder hatten sie so herumgezogen, daß deren vereinte Kräfte bereits auch Runzeln in ihr Gesicht gezogen.
»Mit allem, was Auftrag heißt«, sagte Mrs. Plornish, »scheint es mir schief zu gehen, wahrhaftig es ist so.« (Hier beschränkte Mrs. Plornish ihre Bemerkung auf das Gipserhandwerk und sprach ohne Beziehung auf das Circumlocution Office und die Familie Barnacle.)
»Ist es so schwierig, Arbeit zu bekommen?« fragte Arthur Clennam.
»Plornish findet es«, versetzte sie. »Er ist sehr unglücklich. Wirklich sehr unglücklich.«
Er war es auch in der Tat. Er war einer von den Pilgern auf dem Lebensweg, die mit übernatürlichen Hühneraugen behaftet sind. Diese machen es ihnen unmöglich, selbst mit ihren lahmen Rivalen gleichen Schritt zu halten. Ein williger, arbeitsamer, sanfter, nicht hartköpfiger Mann, nahm Plornish sein Schicksal so geduldig hin, wie man es nur erwarten konnte, obwohl es ein hartes Schicksal war. Es geschah so selten, daß wirklich jemand seiner zu bedürfen schien; es war ein so großer Ausnahmefall, wenn man seine Kräfte in Anspruch nahm, daß sein trüber Geist sich nicht klar werden konnte, wie dies kam. Er nahm die Sache deshalb, wie sie war; er stolperte in alle Arten von Verlegenheiten und stolperte auch wieder heraus; und so durch das Leben stolpernd, wurde er zuletzt ordentlich zerquetscht.
»Er läßt es ganz gewiß nicht daran fehlen, sich nach Arbeit umzusehen«, sagte Mrs. Plornish, ihre Brauen erhebend und nach einer Lösung des Problems zwischen den Eisenstäben des Gitters suchend, »auch ist er fleißig bei der Arbeit, wenn er solche bekommen kann. Niemand hat meinen Mann je über das Geschäft klagen hören.«
Auf die eine oder andere Art war dies das allgemeine Unglück des Hofes zum blutenden Herzen. Von Zeit zu Zeit war die allgemeine Klage, die sehr nachdrücklich die Runde machte, daß die Arbeitskraft so rar sei – was gewisse Leute sehr übel aufnahmen, als ob sie nach ihrem Gutdünken ein absolutes Recht darauf hätten, – aber der Hof zum blutenden Herzen, obgleich so willig wie irgendein Hof in ganz England, war trotz der Nachfrage deshalb nicht besser daran. Jene hohe alte Familie, die Barnacles, war längst zu sehr mit ihrem großen Prinzip beschäftigt, um in solche Dinge einzudringen; und die Sache hatte auch wirklich nichts mit ihrem Bemühen zu tun, alle andern hohen alten Familien, ausgenommen die Stiltstalking, an Taktik zu übertreffen.
Während Mrs. Plornish in solchen Worten von ihrem abwesenden Manne sprach, kam dieser. Ein glattwangiger, blühend aussehender, rotbärtiger Mann von dreißig Jahren, mit langen Beinen, schlaffen Knien, einfältigem Gesicht und einer flanellenen Jacke, die mit Kalk bespritzt war. »Das ist Plornish, Sir.«
»Ich kam«, sagte Clennam, »Sie um die Gefälligkeit einer kleinen Unterredung wegen der Familie Dorrit zu bitten.«
Plornish wurde mißtrauisch. Er schien einen Gläubiger zu wittern und sagte: »Ah! Ja! So, so. Er wisse nicht, welche Auskunft er einem Gentleman über diese Familie geben könnte. Worum es sich denn handle?«
»Ich kenne Sie besser«, sagte Clennam lächelnd, »als Sie wohl vermuten.«
Plornish bemerkte, ohne jedoch auch zu lächeln: »Und doch habe er nicht das Vergnügen, mit dem Gentleman bekannt zu sein.«
»Nein«, sagte Arthur, »ich kenne Sie durch Ihre Dienste aus zweiter Hand, aber aus der besten Quelle. Durch Klein-Dorrit. Ich meine«, erklärte er, »Miß Dorrit.«
»Mr. Clennam, nicht wahr? Oh! Habe von Ihnen gehört, Sir.«
»Und ich von Ihnen«, sagte Arthur.
»Bitte, setzen Sie sich wieder, Sir, und seien Sie mir willkommen. – O ja«, sagte Plornish, einen Stuhl nehmend und das ältere Kind auf seine Knie nehmend, um die moralische Stütze zu haben, über seinen Kopf hinüber mit dem Fremden sprechen zu können, »ich selber war auch einmal auf der schlimmen Seite der Gefängnistüre und lernte auf diese Weise Miß Dorrit kennen. Ich und meine Frau sind gut bekannt mit Miß Dorrit.«
»Ganz intim!« rief Mrs. Plornish. Sie war wirklich so stolz auf diese Bekanntschaft, daß sie eine ziemlich erbitterte Stimmung im Hofe hervorgerufen, indem sie die Summe, wegen der Miß Dorrits Vater ins Schuldgefängnis kam, ins Enorme gesteigert hatte. Die »blutenden Herzen« nahmen ihren Anspruch auf die Bekanntschaft mit Leuten von solcher Distinktion übel auf.
»Mit ihrem Vater wurde ich zuerst bekannt. Und durch die Bekanntschaft mit ihm wurde ich, Sie begreifen, ganz natürlich auch mit ihr bekannt«, sagte Plornish wiederholend.
»Ich begreife.«
»Ach! Was hat er für Manieren! Wie fein ist er! Was ist er für ein Gentleman, der noch im Marschallgefängnis gedeiht! Sie wissen vielleicht nicht«, sagte Plornish, seine Stimme schwächend und mit einer verkehrten Bewunderung dessen sprechend, was er hätte bemitleiden oder verachten sollen, »wissen nicht, daß Miß Dorrit und ihre Schwester ihn nicht wissen lassen dürfen, daß sie für den Lebensunterhalt arbeiten. Nein«, sagte Plornish, der mit einem lächerlichen Triumph zuerst seine Frau ansah und dann im ganzen Zimmer umherblickte. »Dürfen's ihn nicht wissen lassen, dürfen's nicht.«
»Ohne ihn deshalb zu bewundern, tut es mir doch sehr leid um ihn«, bemerkte Clennam ruhig. Diese Bemerkung schien Plornish zum erstenmal darauf aufmerksam zu machen, daß es doch nicht gerade ein sehr edler Charakterzug sei. Er erwog diesen Gedanken einen Augenblick und gab ihn dann auf.
»Gegen mich«, begann er aufs neue, »ist Mr. Dorrit so freundlich, wie man es nur immer erwarten kann. Namentlich, wenn man den Standes- und Rangunterschied zwischen uns in Betracht zieht. Aber wir sprachen von Miß Dorrit.«
»Allerdings. Bitte, wie führten Sie sie bei meiner Mutter ein?«
Mr. Plornish zupfte ein wenig Kalk aus seinem Backenbart, nahm es zwischen die Lippen, drehte es mit seiner Zunge wie eine Zuckerbohne, überlegte, fand sich zu einer klaren Auseinandersetzung unfähig und sagte, an seine Frau sich wendend: »Sally, du kannst ebensogut sagen, wie es kam, ja, Alte.«
»Miß Dorrit«, sagte Sally, den Säugling beruhigend und ihr Kinn auf die kleine Hand legend, als er das Kleid wieder in Unordnung zu bringen suchte. »Miß Dorrit kam eines Nachmittags mit etwas Geschriebenem hierher und sagte, daß sie Beschäftigung als Näherin wünsche, und fragte, ob es uns irgendwie ungelegen wäre, wenn sie die Interessenten hierher weisen lasse.« (Plornish wiederholte: die Interessenten hierher weisen lasse, mit leiser Stimme, als ob er in der Kirche nachbetete.) »Ich und Plornish sagen, nein, Miß Dorrit, gar nicht ungelegen.« (Plornish wiederholte: nicht ungelegen.) »Und sie schrieb es demzufolge hinein, worauf ich und Plornish sagen: Aber Miß Dorrit!« (Plornish wiederholte: Aber Miß Dorrit.) »Haben Sie auch daran gedacht, es drei- bis viermal abzuschreiben, damit man's an verschiedenen Plätzen anschlagen kann? ›Nein‹, sagte Miß Dorrit, ›ich habe es nicht getan, aber ich will's tun.‹ Sie schrieb es deshalb auf diesem Tisch recht schön ab, und Plornish nahm es mit, wohin er zur Arbeit ging, er hatte damals gerade Arbeit« (Plornish wiederholte: damals gerade Arbeit), »und dann auch zu dem Besitzer des Hofes zum blutenden Herzen. So kam es, daß Mrs. Clennam zuerst Miß Dorrit beschäftigte.« (Plornish wiederholte: Miß Dorrit beschäftigte.) Und Mrs. Plornish, die zu Ende war, tat, als bisse sie in die kleine Hand, während sie sie küßte.
»Der Besitzer des Hofes«, sagte Arthur Clennam, »ist –«
»Er heißt Mr. Casby«, sagte Plornish, »und Pancks, der kassiert die Miete ein. Das«, fügte Mr. Plornish hinzu, indem er mit einer Langsamkeit des Geistes und Denkens, die sich an keinen besonderen Gegenstand zu ketten, ihn auf keinen besondern Punkt zu führen schien, bei dieser Sache verweilte, »das ist's, was sie ungefähr sind, Sie mögen mir's glauben oder nicht, wies Ihnen beliebt.«
»Ach!« versetzte Clennam, nun auch in Gedanken versinkend. »Mr. Casby! Ein alter Bekannter von mir; lange Zeit her.«
Mr. Plornish fand keinen Weg, sich das Wieso zu erklären, und ließ es darum auch auf sich beruhen. Da hier wirklich kein Grund vorhanden war, weshalb er auch nur das geringste Interesse daran haben sollte, ging Arthur Clennam wieder zum Zweck seines Besuches über; nämlich Plornish zur Befreiung Tips als Werkzeug zu benutzen, und zwar mit so wenig Nachteil wie möglich für das Selbstvertrauen und die Selbsthilfe des jungen Mannes, da er voraussetzte, daß diese Eigenschaften noch nicht ganz in ihm aufgehört; freilich eine sehr kühne Voraussetzung. Plornish, der mit der Klagesache aus dem eignen Munde des Beklagten bekannt gemacht worden, gab Arthur zu verstehen, daß der Kläger ein »Chaunter« sei – er meinte damit nicht einen Kirchensänger, sondern einen Pferdehändler – und daß er (Plornish) glaube, mit zehn Schilling per Pfund sei die Sache »sehr schön bereinigt« – mehr aber hieße das Geld hinauswerfen.
Bald darauf begaben sich Clennam und sein Werkzeug nach einem Pferdehof in High Holborn, wo ein außerordentlich schöner, grauer Wallach, mindestens fünfundsiebenzig Guineen wert (ungerechnet der Wert des Schrots, den man ihm gegeben, um seine Form zu verschönern), für eine Zwanzig-Pfund-Note verkauft werden sollte. Er war nämlich vergangene Woche mit Frau Kapitän Barbary von Cheltenham durchgegangen, die einem Pferd seines Mutes nicht gewachsen war und es aus purem Ärger um diese lächerliche Summe verkaufen oder, mit andern Worten, verschenken wollte. Plornish, der allein in den Hof hineinging und den Herrn draußen ließ, fand einen Gentleman mit engen, schwarzbraunen Beinkleidern, einem ziemlich alten Hut, einem kleinen, krummen Stock und einem blauen Halstuch (Kapitän Marvon von Gloucestershire, ein intimer Freund von Kapitän Barbary), der glücklicherweise gerade anwesend war, um diese Mitteilungen über den außerordentlich feinen Schimmelwallach jedem wirklichen Pferdekenner und jedem, der etwas Gutes wegschnappen wollte, zu geben, falls er etwa, durch die Zeitungsanzeige veranlaßt, hier vorsprechen würde.
Dieser Gentleman, der zufällig auch der Kläger in Tips Sache war, wies Mr. Plornish an seinen Sachwalter und weigerte sich, mit Mr. Plornish zu verhandeln oder auch nur seine Anwesenheit im Hofe zu dulden, wenn er nicht mit einer Zwanzig-Pfund-Note erscheine. In diesem Fall allein wollte der Gentleman aus dem Schein schließen, daß er in Geschäftsangelegenheiten gekommen und eingelassen werden könne. Auf solchen Wink entfernte sich Mr. Plornish, um mit seinem Auftraggeber zu sprechen, und kam alsbald mit dem verlangten Kreditbriefe zurück. Kapitän Maroon sagte nun: »Wie lange brauchen Sie, um auch die andern zwanzig aufzubringen? Ich will Ihnen einen Monat Zeit lassen.« Kapitän Maroon sagte ferner, als es nicht passen wollte: »Nun, ich will Ihnen sagen, was ich tun will. Sie bringen mir einen guten Wechsel, bei irgendeinem Bankhaus in vier Monaten zahlbar, für die andern zwanzig Pfund.« Kapitän Maroon sagte ferner, als auch das nicht passen wollte: »Nun, kommen Sie; daß ist das Letzte, was ich Ihnen vorschlagen kann. Zahlen Sie mir zehn Pfund bar, so will ich die Schuld ausstreichen.« Kapitän Maroon sagte weiter, als auch das nicht passen wollte: »Nun, ich will Ihnen sagen, wie es ist, und damit ist die Sache abgemacht; er hat mir schlecht mitgespielt; aber ich will ihn für fünf Pfund bar und eine Flasche Wein springen lassen, wenn Ihnen das recht ist, so sei's abgemacht, wenn nicht, so lassen wir die Sache beim alten.« Zuletzt sagte Kapitän Maroon, als selbst auch das noch nicht genügen wollte: »Abgemacht denn!« – Und gab rücksichtlich des ersten Anerbietens einen Schein für den Empfang der vollen Summe und sprach den Gefangenen frei.
»Mr. Plornish«, sagte Arthur, »ich vertraue Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, mein Geheimnis an. Wenn Sie es auf sich nehmen wollen, dem jungen Mann wissen zu lassen, daß er frei ist, und ihm zu sagen, daß Sie von jemandem, den Sie nicht nennen dürften, beauftragt seien, die Schuld abzutragen, so werden Sie nicht nur mir, sondern nicht weniger ihm und auch seiner Schwester einen Dienst erweisen.«
»Der letzte Grund, Sir«, sagte Plornish, »würde vollständig genügen. Ihre Wünsche sollen erfüllt werden.«
»Ein Freund habe seine Freilassung erwirkt, können Sie ja sagen, wenn Sie wollen. Ein Freund, der hoffe, daß er um seiner Schwester, wenn auch sonst um niemandes willen, einen guten Gebrauch von seiner Freiheit machen werde.«
»Ihre Wünsche sollen erfüllt werden, Sir.«
»Und wenn Sie so freundlich sein wollten, da Sie die Familie besser kennen, offen gegen mich zu sein und mir die Mittel zu sagen, wie ich Klein-Dorrit auf eine zarte Weise nützlich sein kann, so werde ich mich Ihnen sehr verbunden fühlen.«
»Bitte sehr, Sir«, versetzte Plornish, »es wird mir gleichfalls ein Vergnügen sein und ein – gleichfalls ein Vergnügen sein und ein –" Da er sich, trotz zweimaligen Versuchs, nicht imstande fühlte, seine Phrase zu vollenden, ließ Mr. Plornish sie klugerweise fallen. Er nahm Clennams Karte nebst einem angemessenen Geldgeschenk in Empfang.
Er wollte sich des Auftrags alsbald entledigen, und auch sein Auftraggeber war damit einverstanden. Dieser bot ihm deshalb an, ihn bei dem Tor des Marschallgefängnisses abzusetzen, und sie fuhren nach jener Gegend über die Blackfriarsbrücke. Auf dem Weg entlockte Arthur seinem neuen Freunde eine verwirrte Übersicht über das innere Leben im Hof zum blutenden Herzen. Sie seien dort alle sehr schlimm dran, sagte Mr. Plornish, ungemein schlimm dran, das könne er versichern.
Er könne nicht sagen, wie das komme; er wisse nicht, ob es irgend jemand sagen könne; alles, was er wisse, sei, daß dies wirklich so wäre. Wenn ein Mensch an seinem eigenen Rücken oder in seinem Bauch fühle, daß er arm sei, so wisse dieser Mensch (das war Mr. Plornishs feste Überzeugung), daß er auf irgendeine Art arm sei, und man könne es ihm auch nicht ausreden, wie man kein Ochsenfleisch in ihn hineinreden könne.
Und dann, sehen Sie, einzelne Leute, denen es besser geht, und derer wohnen eine ziemliche Masse bis dicht an dies Quartier und drüber hinaus, wie er gehört, – diese hätten gesagt, sie seien »sorglose Menschen« (das war sein Lieblingswort). Wenn sie zum Beispiel einen Mann mit seiner Frau und seinen Kindern in einem Wagen nach Hampton Court fahren sehen, und wär's auch nur einmal im Jahre, so sagen sie: »Hallo! Ich habe geglaubt, Ihr seid arm, mein sorgloser Freund!« Nun, bei Gott, das sei doch gewiß hart gegen den Mann! Was solle der Mensch anfangen? Er könne nicht »melancholisch« den Kopf hängen lassen, und wenn er's täte, wär' es darum nicht besser. Nach Mr. Plornishs Ansicht wäre es nur um so schlimmer. Aber man scheine den Menschen wirklich melancholisch, wahnsinnig machen zu wollen. Darauf arbeitete man ständig hin – wenn nicht mit der rechten Hand, dann mit der linken. Und was tun die Leute im Hof zum blutenden Herzen? Sehe man sich's mal näher an. Die Mädchen und ihre Mütter seien mit Nähen oder Schuheinfassen, Säumen und Kleidermachen Tag und Nacht und Nacht und Tag beschäftigt und nicht imstande, mehr als Leib und Seele zusammenzuhalten und oft nicht mal so viel. Es gebe dort Leute von allen Arten von Gewerben, die man kaum nennen könne, die alle arbeitsbedürftig seien, aber keine Arbeit bekommen könnten. Es wohnen alte Leute dort, die, nachdem sie ihr ganzes Leben hindurch gearbeitet, ins Armenhaus eingeschlossen, dort schlechtere Kost, Wohnung und Behandlung hätten, als – Mr. Plornish sagte Fabrikarbeiter, schien aber Strafarbeiter zu meinen. Man wisse nicht, wohin man sich wenden solle, um sich ein bißchen Labsal zu verschaffen.
Wer darob zu tadeln sei, – Plornish wußte es nicht. Er könnte auch sagen, wer darunter litt, aber nicht, wessen Schuld es wäre. Es sei nicht seine Sache, das herauszubringen, und wer würde darauf achten, wenn es ihm gelänge? Er wüßte bloß, daß diejenigen, die das täten, es nicht recht machten und daß es von selbst auch nicht recht würde. Kurz, es war seine unlogische Ansicht, daß, wenn man nichts für ihn tun könne, man lieber von ihm auch nichts dafür nehmen würde, daß man sich damit zu tun machte; soweit er sich die Sache erklären könne, käme es darauf hinaus. So drehte Plornish in seiner weitläufigen, halb murrenden, törichten Manier den verwickelten Strang seiner Lage um und um wie ein blinder Mann, der einen Anfang oder ein Ende desselben zu finden sucht, – bis sie endlich das Tor des Gefängnisses erreichten. Dort verließ er seinen Auftraggeber, der, während sein Gehilfe von ihm wegeilte, überlegte, wie viele tausend Plornishs wohl, ein bis zwei Tagreisen in der Runde um das Circumlocution Office herum, allerlei seltsame Variationen derselben Melodie spielten, die man in dem glorreichen Institut nicht einmal vom Hörensagen kannte.