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狄更斯小说:小杜丽-4 Drittes Kapitel. Zu Hause.
日期:2017-11-07 15:43  点击:266
Es war ein düsterer, stiller und öder Sonntagabend in London. Tollmachende Kirchenglocken von allen Graden des Mißklangs, schneidend und klar, dumpf und hell, schnell und langsam, weckten häßliche Echos aus Ziegel und Mörtel. Melancholische Straßen, im Büßergewand von Ruß, versetzten die Seele der Leute, die verdammt waren, aus ihren Fenstern auf sie herabzusehen, in die traurigste Niedergeschlagenheit. In jeder Durchfahrt, beinahe in jedem Gäßchen und fast an jeder Ecke hörte man eine klägliche Glocke schlagen, läuten, wimmern, als ob die Pest in der Stadt wäre und die Totenwagen die Runde machten. Alles war verriegelt und verschlossen, was nur entfernte Möglichkeit bieten konnte, 34 ein von der Arbeit müdes Volk zu zerstreuen. Keine Bilder, keine seltenen Tiere, keine seltenen Pflanzen oder Blumen, keine natürlichen oder künstlichen Wunder der Alten Welt – alles war durch die Strenggläubigkeit für tabu [Fußnote] erklärt, daß die häßlichen Götter der Südsee im Britischen Museum sich nach Hause versetzt glauben konnten. Nichts war zu sehen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts zu atmen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts, um das gedrückte Gemüt zu zerstreuen oder zu erheitern. Nichts blieb dem müden Arbeiter, als die Monotonie des siebenten Tages mit der Monotonie seiner sechs Tage zu vergleichen, darüber nachzudenken, wie langweilig sein Leben, und je nach der Wahrscheinlichkeit sich die beste oder schlimmste Seite desselben herauszukehren. [Fußnote]
Zu dieser so glücklichen und für die Interessen der Religion und Moral so günstigen Stunde saß Mr. Arthur Clennam, soeben von Marseille mit dem Doverer Wagen, dem »blauäugigen Mädchen«, [Fußnote] angekommen, an dem Fenster eines Kaffeehauses in Ludgate Hill. Zehntausend gewissenbelastete Häuser umgaben ihn, so finster auf die Straßen blickend, zu denen sie gehören, als ob jedes von den zehn Jünglingen aus der Geschichte vom Calander bewohnt wäre, die jede Nacht ihre Gesichter schwarz machten und ihr Schicksal bejammerten. Fünfzigtausend Höhlen umgaben ihn, so ungesunde Wohnungen für Menschen, daß reines Wasser, das man Sonnabendabend in ihre überfüllten Zimmer stellte, bis zum Sonntagmorgen abgestanden war: obgleich Mylord, das Mitglied für ihre Grafschaft, erstaunt war, daß sie nicht das Fleisch vom Metzger über Nacht in dasselbe Zimmer legten, in dem sie schliefen. Meiler von tiefen Brunnen und Fallgruben von Häusern, in denen die Bewohner nach Luft schnappten, streckten sich weit hinaus nach allen Richtungen des Kompasses. Durch das Herz der Stadt ebbte und flutete eine pestaushauchende Kloake statt eines schönen, erfrischenden Stromes. Welches weltliche Bedürfnis konnte diese Million oder mehr Menschen haben, deren tägliche Arbeit – sechs Tage die Woche – inmitten dieser arkadischen Umgebung verrichtet werden mußte, aus deren süßer Einförmigkeit zwischen Wiege und Grab kein Entrinnen war, – welch weltliches Bedürfnis konnten sie am siebenten Tage haben? Natürlich brauchten sie nichts als einen strengen Polizeidiener.
Mr. Arthur Clennam saß am Fenster des Kaffeehauses in Ludgate Hill, zählte die Schläge einer der nahen Glocken, machte unwillkürlich Sentenzen und Refrains daraus und dachte daran, wie vielen kranken Leuten sie wohl im Laufe eines Jahres den Tod verkünde. Als die Stunde zu Ende ging, wurde ihr Takt immer rascher.
Beim dritten Viertel kam sie in eine Stimmung ungemein lebhaften Ungestüms und mahnte das Volk in geläufiger Rede: »Kom–mt zur Kirche, kom–mt zur Kirche, kom–mt!« Binnen zehn Minuten wurde sie gewahr, daß die Gemeinde sich spärlich versammelte und hämmerte langsamer mit niedergeschlagenem Tone: »Sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen!« Bei den letzten fünf Minuten verzichtete sie auf die letzte Hoffnung und erschütterte jedes Haus in der Nachbarschaft dreihundert Sekunden lang mit einem furchtbaren Schlage jede Sekunde, der wie das Gestöhn eines Verzweifelnden klang.
»Gott sei Dank!« sagte Mr. Clennam, als die Uhr schlug und die Glocke innehielt.
Aber ihr Klang hatte eine lange Reihe langweiliger Sonntage in die Erinnerung gerufen, und die Prozession wollte nicht enden, wie die Glocke, sondern setzte ihren Weg fort. »Der Himmel möge mir vergeben«, sagte er, »und denen, die mich erzogen haben. Wie ich diesen Tag von je gehaßt!«
Er gedachte des traurigen Sonntags seiner Kindheit, wo er die Hände gefaltet dasaß, geschreckt durch ein gräßliches Traktätchen, das damit anfing, daß es gleich auf dem Titel den armen Knaben fragte: warum er in die Verdammnis gehe? – eine Neugierde, die der Knabe im Kinderröckchen und Höschen zu befriedigen außerstande war, – und das zur weiteren Erbauung des kindlichen Sinnes auf jeder zweiten Linie einen Spruch oder einen Hinweis hatte, an dem man sich verschlucken konnte, wie z.B. Thessaloniker Kap. III. V. 6 und 7. [Fußnote] Er gedachte des schläfrigen Sonntags seiner Knabenjahre, wo er wie ein Sträfling durch den Lehrer dreimal des Tages, moralisch an einen andern Knaben gefesselt, nach der Kirche geführt wurde; und wo er bereitwillig zwei Platten unverdaulicher Predigt gegen einige Lote mittelmäßigen Hammelfleisches für sein dürftiges Mittagmahl im Fleische vertauscht. Er dachte des endlosen Sonntags seiner unmündigen Jahre, wo seine streng aussehende und hartherzige Mutter den ganzen Tag hinter der Bibel saß, die, wie ihre eigene Auslegung derselben, die härteste, kahlste und steifste Hülse hatte und nur einen Zierat auf dem Deckel besaß, der wie eine Kette aussah, und einen häßlich rotgesprenkelten Schnitt, als ob es vor allen Büchern ein Bollwerk gegen Weichheit des Gemüts, natürliche Zuneigung und freundlichen Verkehr des Menschen wäre. Er gedachte des nicht zu verschmerzenden Sonntags der späteren Jahre, wo er düster und mißvergnügt dem langsam verrinnenden Tag mit einem bittern Gefühl roher Kränkung im Herzen und mit nicht mehr Kenntnis von der heilverkündenden Geschichte des Neuen Testaments, als wenn er unter Götzendienern aufgewachsen, ins Antlitz schaute. Er gedachte einer Legion von Sonntagen, lauter Tage unnützer Bitterkeit und Kreuzigung, die langsam an seinem Blicke vorüberzogen.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ein flinker Kellner, indem er den Tisch abrieb. »Wünschen Sie Schlafzimmer zu sehen?«
»Ja. Ich dachte eben daran.«
»Stubenmädchen!« rief der Kellner. »Der Herr von Numero 7 wünscht Zimmer zu sehen.«
»Halt!« sagte Clennam, indem er aufstand. »Ich habe nicht bedacht, was ich sagte; ich antwortete ganz mechanisch. Ich werde nicht hier wohnen. Ich gehe nach Hause.«
»So? Stubenmädchen, der Herr von Numero 7 schläft nicht hier, er geht nach Hause.«
Er saß immer noch am selben Platz, als der Tag zur Neige ging, sah nach den finstern Häusern drüben und dachte, wenn die körperlosen Geister der früheren Bewohner noch etwas von jenen wüßten, müßten sie sich doch wegen ihrer ehemaligen Kerker bemitleiden. Bisweilen erschien ein Gesicht hinter der trüben Scheibe eines Fensters und verging wieder in der Dunkelheit, als ob es genug vom Leben gesehen und daraus verschwunden wäre. Nun begann der Regen in schrägen Linien zwischen ihm und den Häusern zu fallen, und die Leute sammelten sich unter dem Schutzdach des gegenüberliegenden Durchgangs und sahen hoffnungslos zum Himmel hinauf, als der Regen dichter und schneller zur Erde strömte. Dann erschienen nasse Schirme und schmutzige Kleider; die Straße bedeckte sich mit Schmutz. Was der Kot früher getan oder woher er kam, wer konnte das sagen? Aber er schien sich in einem Augenblick zu sammeln wie ein Menschenknäuel und in fünf Minuten alle Söhne und Töchter Adams bespritzt zu haben. Die Lampenanzünder machten nun die Runde; und wenn die feurigen Zünglein unter ihrer Berührung hervorschossen, hätte man glauben können, sie seien erstaunt, daß man ihnen gestatte, diese häßliche Szene mit ihrem hellen Strahle zu beleuchten.
Mr. Arthur Clennam nahm seinen Hut, knüpfte den Rock zu und trat hinaus. Auf dem Lande würde der Regen tausend frische Wohlgerüche hervorgelockt und jeder Tropfen mit einer schönen Form des Wachstums und Lebens eine glänzende Verbindung eingegangen haben. In der Stadt erzeugte er nur faule abgestandene Gerüche und bildete einen pestartigen, lauen, schmutzigen und häßlichen Zufluß für die Gossen.
Er ging bei der St. Paulskirche über die Straße und in einem langen Winkel beinahe bis an das Wasser, durch einige von den krummen und jähen Straßen, die zwischen dem Fluß und der Cheapside liegen und damals noch krummer und enger waren. Vorüber an der dumpfen Halle einer verkommenen, ehrwürdigen Gesellschaft, vorüber an den hell erleuchteten Fenstern einer gemeindelosen Kirche, die auf einen abenteuernden Belzoni [Fußnote] zu warten schien, der sie ausgraben und ihre Geschichte entdecken würde; vorüber an schweigenden Warenhäusern und Quais, und dann und wann an einem engen Gäßchen, das nach dem Strom führte, wo ein armer kleiner Zettel »Fund im Wasser« an der feuchten Wand weinte; – so kam er endlich nach dem Haus, das er suchte. Ein altes Haus von Backstein, so dunkel, daß es beinahe ganz schwarz war, stand es ganz isoliert hinter einem Torweg. Davor befand sich ein viereckiger Hof, in dem ein oder zwei Sträuche und ein Grasfleck so üppig wucherten wie der Rost auf dem eisernen Gitter, das sie umschloß; dahinter sah man ein Gewirr von Dächern. Es war ein Doppelhaus mit langen, schmalen, schwer eingefaßten Fenstern. Vor vielen Jahren war es auf den Gedanken gekommen, sich nach der Seite zu neigen. Man stützte es jedoch und lehnte es auf ein halbes Dutzend riesiger Krücken: ein Spielplatz für die benachbarten Katzen, der jedoch, vom Wetter benagt, vom Rauch geschwärzt und von Unkraut überwuchert, in neuester Zeit keine Sicherheit mehr bot.
»Nichts verändert«, sagte der Reisende, indem er stehenblieb und sich umsah. »Finster und elend wie immer. Ein Licht in meiner Mutter Zimmer, das nicht mehr ausgelöscht worden zu sein scheint, seit ich zweimal im Jahr von der Schule heimkam und meinen Koffer über das Pflaster zog. Ja, ja, ja!«
Er ging auf die Tür zu, die eine Art vorspringender Baldachin aus Schnitzwerk – Gewinde von Tüchern und Kinderköpfen mit Wasser im Hirn – nach der einst sehr beliebten Form der Ornamentik schmückte. Er pochte. Bald hörte man einen schlürfenden Schritt auf dem steinernen Boden des Flurs, und die Tür wurde von einem alten, gebückten und ausgemergelten Mann mit durchdringendem Blick geöffnet.
Er hatte ein Licht in der Hand und hielt es einen Augenblick in die Höhe, um seine scharfen Augen zu unterstützen. »Ah, Mr. Arthur«, sagte er ohne die geringste Bewegung, »sind Sie endlich da? Treten Sie ein.«
Arthur trat ein und schloß die Tür.
»Sie sind stärker und männlicher geworden«, sagte der alte Mann, indem er sich wieder umdrehte und, das Licht in die Höhe haltend, den Kopf schüttelte, »aber Sie sind doch, wie mich dünkt, noch nicht so groß wie Ihr Vater, auch nicht wie Ihre Mutter.«
»Wie geht es meiner Mutter?«
»Sie ist, wie sie jetzt immer ist! Sie hütet ihr Zimmer, wenn sie nicht gar bettlägrig ist, und war nicht fünfzehn Male in ebensoviel Jahren aus, Arthur.« Sie waren in ein ärmliches, ödes Speisezimmer getreten. Der alte Mann hatte den Leuchter auf den Tisch gestellt, und den rechten Ellbogen mit der linken Hand stützend, rieb er sich die ledernen Wangen, während er den Ankömmling betrachtete. Dieser bot ihm die Hand. Der alte Mann nahm sie ziemlich kalt und schien seine Wangen vorzuziehen; er kehrte auch, sobald er konnte, zu ihnen zurück.
»Ich möchte bezweifeln, daß Ihre Mutter Ihre Heimkehr am Sabbat billigen werde, Arthur«, sagte er und schüttelte bedächtig den Kopf.
»Sie wollen doch nicht, daß ich wieder fortgehen soll?«
»O! ich, ich? Ich bin ja nicht der Herr vom Haus. Das möchte ich um keinen Preis haben. Ich stand viele Jahre lang vermittelnd zwischen Ihrem Vater und Ihrer Mutter. Ich möchte mir nicht anmaßen, die gleiche Stellung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter einzunehmen.«
»Wollen Sie ihr sagen, daß ich heimgekehrt bin.«
»Jawohl, Arthur, jawohl. Gewiß. Ich will ihr sagen, daß Sie heimgekehrt sind. Wollen Sie gefälligst hier warten. Sie werden das Zimmer nicht verändert finden.« Er nahm ein zweites Licht aus einem Speiseschrank, zündete es an, ließ das erste auf dem Tisch und ging, seinen Auftrag zu besorgen. Er war ein kleiner, kahlhäuptiger alter Mann, in einem hochhinaufstehenden schwarzen Frack und schwarzer Weste, schwarzbraunen Hosen und langen Gamaschen von gleicher Farbe. Er konnte seiner Kleidung nach Kommis oder Diener sein und war beides in der Tat längere Zeit gewesen. Er besaß nichts von Schmuck als eine Uhr, die an einem alten schwarzen Bande in der Tiefe seiner Uhrtasche hing und von der ein angelaufener kupferner Schlüssel oben heraussah, um zu zeigen, wo die Uhr versenkt war. Sein Kopf war schief; er hatte ein einseitiges, krebsartiges Wesen, als ob sein Fundament zur selben Zeit nachgegeben, wie das des Hauses, und er in ähnlicher Weise gestützt werden müßte.
»Wie schwach ich bin«, sagte Arthur, als dieser weggegangen, »daß ich Tränen über einen solchen Empfang weinen könnte! Ich, der nie etwas anderes erfahren, der nie etwas anderes erwartet hat.«
Er konnte nicht nur, er tat es auch. Es war das augenblickliche Nachgeben eines Mannes, der von dem ersten Dämmern seiner Wahrnehmungen nur Enttäuschungen erlebt und doch noch nicht all sein hoffnungsvolles Sehnen aufgegeben. Er drängte diese Empfindung zurück, nahm das Licht und betrachtete sich das Zimmer. Die alten Möbel standen am alten Platze; die ägyptischen Plagen, durch die Londoner Plagen – Fliegen und Rauch – dunkler geworden, hingen noch unter Glas und Rahmen an der Wand. Dort der alte Flaschenschrank, der jedoch leer stand, mit Blei ausgeschlagen wie eine Art Sarg in Abteilungen; hier das alte dunkle Kabinett, gleichfalls leer, dessen Inhalt er in den Tagen der Strafe oft ganz allein gebildet, und das er damals als die wahre Pforte zu jenem Lebensquell betrachtet, zu dem ihn das Traktätchen in gesprengtem Galopp eilen gesehen. Dort stand auf dem Seitentisch die große Uhr mit dem strengen Gesicht, deren gemalte Augenbrauen ihn immer mit roher Schadenfreude zu betrachten schienen, wenn er mit seinen Arbeiten im Rückstande war, und die, wenn sie einmal in der Woche mit einem eisernen Schlüssel aufgezogen wurde, gewöhnlich mit boshafter Ahnung der Leiden, die sie ihm bringen würde, zu brummen schien. Aber hier kam der alte Mann wieder und sagte: »Arthur, ich will vorausgehen und Ihnen leuchten.«
Arthur folgte ihm die Treppe hinauf, die grabsteinartig ziseliert war, in ein dunkles Schlafzimmer, dessen Boden sich allmählich so gesenkt hatte, daß der Kamin sich in einem Loch befand. Auf einem schwarzen, bahrenartigen Sofa in dieser Vertiefung, hinten mit einem großen, eckigen, schrägen Polster gestützt, gleich dem Bocke bei einer Hinrichtung in den guten alten Zeiten, saß die Mutter im Witwenkleid da.
Sie und sein Vater hatten, soweit sein Gedächtnis zurückreichte, miteinander im Hader gelebt. Sprachlos inmitten des strengsten Schweigens dazusitzen und schüchtern von dem einen abgewandten Gesicht nach dem andern zu blicken, war die friedlichste Beschäftigung seiner Kindheit gewesen. Sie gab ihm einen glasigen Kuß und vier steife Finger in wollenem Handschuh. Nachdem diese Umarmung vorüber war, setzte er sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch. Auf dem Kaminrost brannte ein Feuer, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. An dem Haken des Kamins hing ein Kessel, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. Ein kleines Häufchen kalter Asche lag auf dem Feuer und ein anderes kleines Häufchen war unter dem Rost zusammengekehrt, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. In dem ungelüfteten Zimmer herrschte ein Geruch von schwarzer Farbe, den das Feuer seit fünfzehn Monaten aus dem Flor und dem Stoff des Witwenkleides und seit fünfzehn Jahren aus dem bahrenartigen Sofa gezogen.
»Mutter, das ist eine große Veränderung gegen Ihr früheres rühriges Leben.«
»Die Welt hat sich auf diesen engen Raum zusammengerückt, Arthur«, antwortete sie und sah im Zimmer umher. »Es ist gut für mich, daß ich nie mein Herz auf ihre leeren Eitelkeiten gerichtet.«
Der alte Einfluß ihrer Gegenwart und ihre ernste strenge Stimme beherrschte ihren Sohn wieder in solchem Grade, daß er aufs neue den bangen Schauer und die Schüchternheit seiner Kindheit fühlte.
»Verlassen Sie Ihr Zimmer nie, Mutter?«
»Teils durch meine Rheumatismen, teils durch die dadurch entstandene Hinfälligkeit und nervöse Schwäche – der Name tut nichts zur Sache – habe ich den Gebrauch meiner Glieder eingebüßt. Ich verlasse niemals dieses Zimmer. Ich war nicht vor dieser Tür seit – sagen Sie ihm, wie lange«, versetzte sie, indem sie die letzten Worte über die Achsel hin sprach.
»Nächste Weihnachten zwölf Jahre«, antwortete eine gebrochene Stimme aus der Dunkelheit hervor.
»Ist das Affery?« sagte Arthur und sah sich nach ihr um.
Die gebrochene Stimme antwortete, sie sei es; und eine alte Frau trat in das Zwielicht, küßte ihre Hand und verschwand dann wieder in das Dunkel.
»Ich bin imstande«, sagte Mrs. Clennam, mit einer leichten Bewegung der in den wollenen Handschuh gehüllten rechten Hand nach einem Armstuhl auf Rädern, der vor einem hohen verschlossenen Schreibtisch stand, »ich bin imstande, den Pflichten meines Geschäfts nachzukommen, und ich bin dem Himmel für diese Gnade dankbar. Es ist eine große Gnade. Aber nun heute nichts mehr von Geschäften. Es ist heute eine schlimme Nacht, nicht wahr?«
»Ja, Mutter.«
»Schneit es?«
»Schneien, Mutter? Wir sind ja erst im September.«
»Für mich sind alle Jahreszeiten gleich«, versetzte sie mit einer Art grausamer Wollust. »Ich weiß nichts von Sommer und Winter, hier zwischen meinen vier Mauern. Dem Herrn hat es gefallen, mich über all das hinwegzuheben.«
Mit ihren kalten grauen Augen und ihrem kalten grauen Haar, mit ihrem unbeweglichen Gesicht, das so steif wie die Falten ihres wie aus Stein gemeißelten Kopfputzes, – schien sie wirklich außerhalb des Bereichs der Jahreszeiten zu stehen, und dies wiederum schien eine Folge davon zu sein, daß sie überhaupt außer dem Bereich aller wechselnden Gemütsbewegungen stand.
Auf ihrem kleinen Tisch lagen zwei bis drei Bücher, ihr Taschentuch, eine stählerne Brille, die sie kurz vorher weggelegt, und eine altväterliche goldene Uhr in einem schweren doppelten Gehäuse. Auf diesem letzteren Gegenstand ruhten ihre und ihres Sohnes Augen in diesem Augenblick.
»Ich sehe, daß Sie das Paket, das ich Ihnen nach meines Vaters Tod sandte, richtig empfangen, Mutter.«
»Allerdings.«
»Ich sah meinen Vater um nichts in der Welt so besorgt wie darum, daß diese Uhr Ihnen sofort geschickt würde.«
»Ich bewahre sie als ein Andenken an deinen Vater auf.«
»Erst in seinem letzten Augenblick drückte er diesen Wunsch aus, als er nur noch seine Hand darauf legen und mit gebrochener Stimme zu mir sagen konnte: ›Deiner Mutter‹. Einen Augenblick vorher meinte ich noch, er phantasiere wie seit vielen Stunden – ich glaube, er hatte während der kurzen Krankheit keine Empfindung von den Schmerzen – als ich ihn sich umwenden und die Uhr zu öffnen bemüht sah.«
»Phantasierte dein Vater also nicht, da er sie zu öffnen versuchte?«
»Nein. Er war bei vollem Bewußtsein.«
Mrs. Clennam schüttelte den Kopf; ob sie die Erinnerung an den Toten loswerden oder der Ansicht ihres Sohnes widersprechen wollte, konnte man nicht entscheiden.
»Nach meines Vaters Tode öffnete ich sie selbst, da ich glaubte, es könnte doch vielleicht eine Notiz darin enthalten sein. Wie ich Ihnen jedoch kaum zu sagen brauche, Mutter, ich fand nichts darin als das alte seidene Uhrfleckchen mit Perlen, das Sie ohne Zweifel an seinem Platz zwischen den Gehäusen gefunden haben werden, wo auch ich es gefunden und belassen.«
Mr. Clennam nickte bejahend, fügte dann hinzu: »Nichts mehr heute von Geschäften« und sagte zuletzt: »Affery, es ist neun Uhr.«
Die alte Frau räumte den kleinen Tisch ab, verließ das Zimmer und kam bald wieder mit einem Präsentierbrett, auf dem ein Teller mit kleinen Zwiebäcken und einem kleinen und scharf abgeschnittenen Stückchen Butter, kalt, symmetrisch, weiß und rund, stand. Der alte Mann, der während der ganzen Unterhaltung unverrückt an der Tür stehengeblieben und die Mutter eine Treppe hoch ebenso anblickte, wie er den Sohn zu ebener Erde angeblickt, ging nun gleichfalls hinaus und kam mit einem zweiten Präsentierteller, auf dem eine beinahe volle Flasche Portwein (die er seinem Keuchen nach zu urteilen aus dem Keller geholt), eine Zitrone, eine Zuckerbüchse und eine Gewürzschale standen. Mit diesen Materialien und mit Hilfe des Teekessels füllte er ein Stangenglas mit einem heißen und duftenden Gebräu, das mit derselben Genauigkeit wie das Rezept eines Arztes gemischt und zubereitet wurde. In dieses Getränk tunkte Mrs. Clennam einige Zwiebäcke und aß sie, während die alte Frau einige andere mit Butter bestrich, die allein gegessen zu werden bestimmt waren. Als die Kranke alle die Zwiebäcke gegessen und das ganze Gebräu getrunken, wurden die beiden Präsentierteller entfernt und die Bücher und das Licht, Uhr, Taschentuch und Brille wieder an die alte Stelle auf dem Tischchen gelegt. Dann setzte sie die Brille auf und las einige Stellen laut aus einem Buche vor – finstere, strenge und zornige Worte – die Gott baten, daß er ihre Feinde (durch Ton und Gebärde drückte sie deutlich aus, daß es ihre Feinde waren) mit der Schärfe seines Schwertes schlagen, mit Feuer verzehren, mit Pest und Aussatz heimsuchen, ihre Gebeine zu Staub zermalmen und sie ganz und gar ausrotten möge. Wie sie so las, schienen die Jahre vor ihrem Sohne wie die Bilder eines Traumes zu vergehen und alle die alten finstern Schrecken seiner gewöhnlichen Vorbereitung zum Schlafe eines unschuldigen Kindes ihn wieder zu umringen.
Sie schloß ihr Buch und bedeckte einen Augenblick das Gesicht mit ihren Händen. Das tat auch der alte Mann, der sonst nichts in seiner Stellung verändert hatte; desgleichen wohl auch die alte Frau in dem dunkleren Teil des Zimmers. Dann war die kranke Frau bereit zu Bett zu gehen.
»Gute Nacht, Arthur. Affery wird für deine Bequemlichkeit sorgen. Rühre mich sanft an, denn meine Hand ist sehr empfindlich.« Er berührte den wollenen Handschuh an ihrer Hand – das tat nichts; wenn seine Mutter einen Harnisch von Erz gehabt; er würde keine neue Scheidewand zwischen ihnen gewesen sein. Dann folgte er dem alten Mann und der alten Frau die Treppe hinab.
Diese fragte ihn, als sie in dem tiefen Schatten des Speisezimmers allein waren, ob er ein Abendessen wünsche.
»Nein, Affery, kein Abendessen.«
»Wenn Sie wollen, können Sie eins haben«, sagte Affery, »ihr Rebhuhn für morgen ist in der Speisekammer; sagen Sie ein Wort, und ich bereite es zu.«
Nein, er habe noch nicht lange zu Mittag gegessen und könnte nicht schon wieder etwas zu sich nehmen.
»Aber etwas zu trinken«, sagte Affery; »Sie sollen es sogleich haben; etwas von ihrem Portwein, wenn Sie Lust haben. Ich will Jeremiah sagen, daß Sie mir befohlen, Ihnen die Flasche zu holen."
Nein, auch davon wollte er nicht.
»Es ist wirklich kein Grund vorhanden, Arthur«, sagte die Alte, indem sie sich flüsternd zu ihm hinüberbeugte, »warum Sie sich vor ihnen fürchten sollten, wenn ich mich auch vor ihnen fürchte. Sie haben das halbe Vermögen bekommen, nicht wahr?"
»Ja, ja.«
»Nun gut, lassen Sie sich nicht einschüchtern. Sie sind klug, Arthur, nicht wahr?"
Er nickte, da sie eine bejahende Antwort zu erwarten schien.
»Dann treten Sie gegen sie auf. Sie ist furchtbar gescheit, und nur ein Gescheiter darf es wagen, ein Wort zu ihr zu sagen. Er ist gescheit, o er ist sehr gescheit! – und er sagt ihr die Meinung, wenn er mag, ganz gewiß."
»Ihr Mann?«
»Allerdings. Ich zittre am ganzen Leibe, wenn ich ihn mit ihr sprechen höre. Mein Mann, Jeremiah Flintwinch, kann sogar Ihre Mutter zwingen. Und dazu gehört ein gescheiter Mann!«
Seine schlürfenden Schritte, die man näher kommen hörte, veranlaßten sie, sich nach dem anderen Ende des Zimmers zurückzuziehen. Obgleich eine große, starke, alte Frau mit groben Zügen, die in ihrer Jugend sich leicht unter die Fußgarde hätte einschmuggeln können, ohne befürchten zu müssen, entdeckt zu werden, schoß ihr doch vor dem kleinen krebsartigen Mann mit dem durchdringenden Blicke die Furcht in die Knie.
»Nun, Affery«, sagte er, »nun Frau, was tust du? Kannst du für Master Arthur nicht irgend etwas zu essen auftreiben?«
Master Arthur schlug aufs neue alles Essen aus.
»Nun gut«, sagte der Alte, »so mache sein Bett. Eile dich ein bißchen.« Sein Hals war so krumm, daß die geknüpften Zipfel seines weißen Halstuches gewöhnlich unter einem Ohr baumelten; seine natürliche Herbigkeit und Energie, die immer mit einer zweiten Natur, der ihm zur Gewohnheit gewordenen Zurückhaltung, im Kampfe war, gaben seinem Gesicht ein geschwollenes und unterlaufenes Aussehen, und im ganzen machte er den Eindruck, als ob er sich irgendeinmal aufgehängt, und als ob er nun mit dem Strick seit der Zeit herumliefe wie damals, als ihn eine milde Hand noch abgeschnitten.
»Sie werden morgen bittere Worte hören müssen, Arthur: Sie wie Ihre Mutter«, sagte Jeremiah. »Daß Sie bei Ihres Vaters Tod das Geschäft aufgegeben – was sie vermutet, obgleich wir es Ihnen überlassen, ihr die Sache mitzuteilen –-, das wird sie Ihnen nicht so ruhig hingehen lassen.«
»Ich habe im Leben alles um des Geschäftes willen aufgegeben, nun kam die Zeit für mich, das Geschäft aufzugeben.«
»Gut!« rief Jeremiah, während er offenbar ›Schlimm!‹ sagen wollte. »Sehr gut! Nur erwarten Sie nicht, daß ich vermittelnd zwischen Sie und Ihre Mutter treten werde, Arthur. Ich vermittelte zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater, habe dieses und jenes Unheil abgewendet und habe Stöße und Schläge in Menge dabei abgekriegt: aber nun habe ich die Sache satt.«
»Ich werde weiter nicht von Ihnen fordern, Jeremiah, daß Sie sich für mich ins Mittel legen.«
»Gut, das freut mich zu hören: denn ich hätte es abschlagen müssen, wenn Sie dergleichen von mir verlangten. Genug – wie Ihre Mutter sagt, mehr als genug von solchen Dingen an einem Sonntagabend. Affery, Frau, hast du endlich gefunden, was du brauchst?«
Sie hatte Leintücher und Decken aus einem Wandschrank geholt und legte sie nun eiligst zusammen, worauf sie »Ja, Jeremiah« sagte. Arthur Clennam half ihr die Last tragen, wünschte dem alten Mann gute Nacht und ging mit ihr die Treppen hinauf bis unter das Dach.
Sie stiegen immer höher durch den dumpfen Geruch eines alten, dicht verschlossenen und wenig bewohnbaren Hauses nach einem großen Schlafzimmer im obersten Stockwerk: kahl und kärglich wie alle andern Zimmer, machte es dadurch noch einen häßlicheren und unheimlicheren Eindruck, daß es der Verbannungsort für allen abgenutzten Hausrat war. Die Möbel bestanden aus häßlichen alten Stühlen mit abgenutzten Sitzen, zwei häßlichen alten Stühlen ohne Sitze, einem fadenscheinigen musterlosen Teppich, einem tannenen Tisch, einem verkrüppelten Kleiderschrank, einem armseligen Sammelsurium von Kamingeräten, das wie ein Paar Skelette aussah, einem Waschtisch, der jahrhundertelang in einem Platzregen von schmutziger Seifenlauge gestanden zu haben schien, und einer Bettstelle mit vier nackten gerippartigen Eckpfosten, deren jeder in einem spitzen Nagel auslief, wie zur traurigen Bequemlichkeit der Insassen eingerichtet, die es vorziehen sollten, sich selbst aufzuspießen. Arthur öffnete das lange niedrige Fenster und blickte auf den alten ausgebrannten und geschwärzten Wald von Kaminen und den alten roten Glanz des Himmels, der ihm einst in früheren Tagen als der nächtliche Reflex der in Flammen stehenden Umgebung erschien, die sich seiner kindlichen Phantasie allerwärts, wohin er den Blick wenden mochte, darbot.
Er zog den Kopf wieder zurück, setzte sich neben das Bett und sah zu, wie Affery Flintwinch es machte.
»Affery, Sie waren nicht verheiratet, als ich von hier fortging.«
Sie verzog den Mund, als wollte sie »Nein« sagen, schüttelte den Kopf und schob ein Kissen in das Linnen.
»Wie kam das?«
»Nun, Jeremiah natürlich!« sagte Affery, mit dem Ende eines Kissenbezuges zwischen den Zähnen.
»Er machte Ihnen natürlich den Vorschlag, aber wie kam das alles? Ich hätte gedacht, keines von beiden würde heiraten; am wenigsten hätte ich mir aber träumen lassen, daß Sie sich heirateten.«
»Das dacht' ich auch«, sagte Mrs. Flintwinch, indem sie das Kissen in den Bezug drückte.
»Das ist's, was ich meine. Wann wurden Sie denn andern Sinnes?«
»Ich wurde nie andern Sinnes«, sagte Mrs. Flintwinch.
Als sie sah, daß er, während sie das Kissen auf dem Polster zurechtrückte, sie noch immer ansah, als ob er auf eine Antwort warte, schlug sie mit der Faust tüchtig in die Mitte und fragte: »Was hätte ich tun sollen?«
»Was Sie hätten tun sollen, um sich nicht zu verheiraten?«
»Natürlich«, sagte Mrs. Flintwinch. »Das war ja nicht meine Sache. Ich hätte nie daran gedacht. Ich mußte wirklich etwas tun, ohne daran zu denken. Sie hielt mich tüchtig zur Arbeit an, solange sie noch ausging, und damals konnte sie noch ausgehen.«
»Nun?«
»Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Das ist's ja, was ich sagte. Nun? Was nützt das Überlegen? Wenn zwei so gescheite Leute wie sie wegen einer Sache einverstanden sind, was bleibt mir zu tun? Nichts.«
»So war es der Plan meiner Mutter?«
»Der Herr behüte Sie, Arthur, und verzeihe mir den Wunsch!« rief Affery, immer sonst leise sprechend. »Wenn sie beide nicht einverstanden gewesen, wie hätte die Sache geschehen können? Jeremiah hat mir nie den Hof gemacht. Es war auch gar nicht wahrscheinlich, daß er's je tun würde, nachdem er so viele Jahre mit mir im selben Hause gelebt und nur ans Befehlen gewöhnt gewesen. Er sagte eines Tages zu mir: ›Affery‹, sagte er, ›ich will Euch jetzt etwas sagen. Was denkt Ihr von dem Namen Flintwinch?‹ – ›Was ich davon denke?‹ sagte ich. – ›Ja‹, sagt er; ›weil Ihr ihn künftig führen sollt‹, sagte er. – ›Führen soll?‹ sagte ich, ›Jeremiah?‹ Oh, er ist ein gescheiter Mensch!«
Mrs. Flintwinch breitete das obere Leintuch über das Bett und legte die wollene Decke darauf und die gesteppte Decke über diese, als ob sie mit ihrer Geschichte ganz zu Ende wäre.
»Nun?« sagte Arthur wieder.
»Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Was könnt' ich machen? Er sagte zu mir: ›Affery, wir müssen uns heiraten, und ich will Euch sagen weshalb. Sie kränkelt und braucht deshalb beständige Pflege in ihrem Zimmer. Wir werden viel bei ihr sein müssen, und es wird niemand zur Hand sein, wenn wir nicht bei ihr sind – kurz, es ist passender, daß wir heiraten. Sie ist auch meiner Ansicht‹, sagte er, ›wenn Ihr deshalb nächsten Montag morgen um acht Uhr Euren Hut aufsetzen wollt, so können wir die Sache abmachen.‹« Mrs. Flintwinch schlug die Decke glatt.
»Nun?« »Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Ich dachte so: Ich setze mich hin und sage Ja. Nun! – Jeremiah sagte darauf zu mir: ›Was das Aufgebot betrifft, so werden wir nächsten Sonntag zum dritten Male ausgerufen; denn ich habe es seit vierzehn Tagen besorgt, und deshalb will ich den Montag zur Hochzeit bestimmen. Sie wird selbst mit Euch über die Sache sprechen und Euch nun vorbereitet finden, Affery.‹ Noch am selben Tage sprach sie mit mir und sagte: ›So, Affery, ich höre, daß du Jeremiah heiraten willst. Ich freue mich darüber, und auch du kannst dich mit Recht freuen. Er ist sehr geeignet für dich und mir unter diesen Umständen sehr willkommen. Er ist ein gescheiter Mann und ein redlicher Mann und ein ausdauernder Mann und ein frommer Mann.‹ Was konnte ich sagen, wenn die Sache schon so weit gediehen? Und hätt' es einen – Erstickungsversuch statt einer Heirat gegolten«, Mrs. Flintwinch suchte mit großer Anstrengung nach dieser Form des Ausdrucks, »ich hätte ebensowenig gegen diese beiden gescheiten Leute ein Wort hervorbringen können.«
»Wahrhaftig, das glaube ich.«
»Das können Sie auch, Arthur.«
»Affery, was war das für ein Mädchen soeben in meiner Mutter Zimmer?«
»Mädchen?« sagte Mr«. Flintwinch in ziemlich scharfem Ton.
»Ja, es war ein Mädchen, das ich neben Ihnen stehen sah –, wenn sie auch in der dunklen Ecke sich den Blicken entzog.«
»Oh! Sie? Klein-Dorrit? Sie ist nichts – sie ist eine Grille von – ihr.« Es war eine Eigentümlichkeit von Affery Flintwinch, daß sie nie von Mrs. Clennam mit dem Namen sprach. »Aber es gibt noch andere Mädchen als dies. Haben Sie Ihre alte Neigung vergessen? Sicher schon lange, lange.«
»Ich litt genug unter dieser Trennung, die das Werk meiner Mutter war, um nicht noch an sie zu denken. Ich erinnere mich ihrer recht gut.«
»Haben Sie eine andre?«
»Nein.«
»So weiß ich Ihnen gute Botschaft. Sie ist jetzt wohlhabend und Witwe. Und wenn Sie sie noch haben wollen, läßt sichs leicht machen.«
»Und woher wissen Sie das, Affery?«
»Die beiden Gescheiten haben davon gesprochen. – Da ist Jeremiah auf der Treppe!« Sie war in einem Augenblick verschwunden.
Mrs. Flintwinch hatte in das Gewebe, das sein Geist beständig in der alten Werkstatt, wo der Stuhl seiner Jugend stand, zu weben beschäftigt war, den letzten Faden, der zum Muster fehlte, eingeschlossen. Das Luftgebilde der Liebe eines Knaben hatte seinen Weg auch in dieses Haus gefunden; und die Hoffnungslosigkeit hatte ihm so große Schmerzen bereitet, als wäre das Haus ein romantisches Schloß gewesen. Kaum mehr als vor einer Woche hatte in Marseille das Gesicht des hübschen Mädchens, von dem er mit Bedauern scheiden mußte, ein ungewöhnliches Interesse für ihn gehabt und ihn wunderbar gefesselt, da es eine wirkliche oder eingebildete Ähnlichkeit mit jenem ersten Gesicht hatte, das sich aus seinem düstern Lebenskreise in die lichten Sphären der Phantasie aufgeschwungen. Er lehnte sich auf die Brüstung des langen niedern Fensters, blickte wieder hinaus auf den geschwärzten Wald von Kaminen und begann zu träumen. Es war ja doch die gleichmäßige Richtung in dieses Mannes Leben gewesen –, das so viel Entbehrungen in sich schloß, die Stoff zum Nachdenken boten, so viele, denen man eine bessere Wendung geben und womit man glücklicher hätte spekulieren können –, daß er zuletzt ein Träumer wurde. 

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11/25 11:45