Es war einmal ein Brüderchen und ein Schwesterchen, die hatten einander so lieb, als sie nur konnten. Und weil lieb Mütterchen trank und der Pater beim lieben Gott im Himmel war, sonst aber im Hause niemand mehr wohnte als die Noth [Not] in allen Ecken und Enden, also giengen [sic] die Kinder in den Wald und wollten Erdbeeren klauben [pflücken], um sie dann in der Stadt zu verkaufen und den Erlös der kranken Mutter zu bringen. Da es aber im Wald sehr viel Erdbeeren gab, wurden sie mit Klauben erst gegen Abend fertig, als es schon dunkel wurde. Sie liefen nun und liefen, was sie konnten, aber der Weg war weit, und weil es immer finsterer ward, kamen sie zuletzt noch vom rechten ab und immer tiefer in die Wildnis. Das Schwesterchen fieng [sic] an zu weinen und sagte: "Werden uns wohl die wilden Thiere [Tiere] nicht fressen?" Aber das Brüderchen tröstete sie und stieg auf einen Baum, um zu spähen, ob nirgends ein Licht wäre. Aber er sah keins, und weil sie müde waren, setzten sie sich unter den Baum und schliefen ein. In der finstern Nacht erwachten sie wieder und waren so hungrig, dass sie ihren Vorrath [Vorrat] an Beeren aufzehren mussten. Und Schwesterchen sagte: "Was wird lieb Mütterchen für Kummer haben! Sie wird wohl gar sterben." Allein das Brüderchen tröstete sie und stieg abermals auf den Baum und sah sich nach allen vier Winden um. Da sah es in der Ferne ein Fünklein brennen und rief seinem Schwesterlein getrost herab, es müsse nicht gar weit ein Haus sein, denn es scheine ein Licht. Und Schwesterchen sagte: "Da ist Mütterchen vor Kummer wach; machen wir uns dran heimzukommen!" Sie fiengen wieder an zu gehen und sahen das Licht Heller und Heller schimmern, bis sie zu einer armseligen Hütte kamen, in der das Licht brannte. Ihre Freude war klein, denn das war ihre Heimat nicht; doch unter Dach und Fach ist immerhin besser, meinte der Knabe, als heraußen in der kalten Wilde. Drum klopften sie an die Thür. "Wer klopft so spät an meine Thür [Tür]?" brummte ein altes Weib heraus. "Wir sind's," sagte der Knabe, "wir finden nimmer heim, und heraußen ist's so kalt. O lasst uns ein!"
"Ich kann euch nicht über Nacht gehalten", erwiderte die Alte; "in der Hütte haust ein Menschenfresser, der würde euch rein auffressen, wenn er heimkommt. Lang ist er nimmer außen." Da wurden die Kinder traurig und huben zu weinen an und baten das Weib, sie doch einzulassen und in ein Versteck zu thun. Sie wollten schon mäuschenstille sein. Aber das Weib wollte nicht und sagte: "Nützt nichts, ihr müsst draußen bleiben, mein Alter röche euch von weitem, und immer wär's um euch geschehen."
Jetzt fürchteten sich die Kinder noch mehr und riefen schluchzend: "Um Gotteswillen lasst uns ein, hier außen fressen uns die wilden Thiere!" und sie ließen nicht nach zu bitten, bis es der Alten zu Herzen gieng. Sie öffnete die Thür, ließ die Kinder ein und schob sie schnell in den Ofen. "Seid fein still!" sagte sie noch und that das Thürl zu.
Nicht lange darnach gieng die Thür auf, und der Menschenfresser polterte herein. Er war nicht in rosiger Laune und brummte wie ein Bär, so dass die Kinder im Ofen wie Birkenlaub zitterten. Ehe er schlafen gieng, sah er sich noch nach allen vier Wänden um und schnüffelte wie ein Jagdhund. "Was hast du?" fragte das Weib. ,,Thu den Braten heraus!" brummte der Wilde, "ich rieche Menschenfleisch, todt oder lebendig." "Ei was!" rief das Weib entgegen, "du hast immer deinen seltsamen Schmack. In der ganzen Hütte ist kein Zäderlein von einem Menschenfleisch außer uns zweien" und wollte ihm die Meinung aus dem Kopf bringen. Je mehr aber die Alte redete, desto heftiger schnüffelte der Mann in der Stube umher, kam auch in des Ofens Nähe und brüllte ganz entsetzlich: "Thu den Braten heraus, ich rieche Menschenfleisch!" Den armen Kindern ward übel zumuthe, doch getrauten sie sich nicht, einen Laut von sich zu geben. Das Weib aber sagte unwillig: "Hör' mir auf mit deinem Menschenfleisch, Hennenfleisch schmeckst du!" denn es war die Hühnersteige dicht beim Ofen. Darauf fasste der Menschenfresser wüthend das Ofenthürl, riss es auf und zog die beiden zappelnden Dinger heraus. Schmunzelnd betrachtete er dieselben, während sie vor Entsetzen schrien, und es lachte ihm das Herz und wässerte ihm der Mund, wie er sich so den Braten befühlte. "Aber ein bissel fetter könnten sie sein", sagte er, trug sie ins Obergeschoss und sperrte sie oben in eine Kammer, sie mochten schreien, so viel sie wollten. Dann befahl er seinem Weibe, das beste Essen zu kochen und die beiden Gänslein ordentlich herauszumästen, auf dass sie einen fetten Bissen gäben; morgen wolle er sie dann verzehren. Hierauf legte er sich schlafen. Aber Brüderchen und Schwesterchen thaten die ganze Nacht vor Angst und Schrecken kein Auge zu, und zuletzt fiel ihnen ein zu beten, und sie beteten inbrünstig zum lieben Gott, dass er sie aus den Händen dieses schrecklichen Menschenfressers befreie. Als es derweil ein wenig zu grauen anfieng, bemerkte der Knabe, wie der junge Tag durch eine Ritze in der Wand hereinschimmerte. Da versuchte er denn, ob die Klunse weit genug wäre, dass er sich hindurchzwängen könnte, und richtig, es gelang. Vor Freude fielen sie auf die Knie und dankten dem lieben Gott; darauf wollten sie die Zeit benützen, da der Wilde noch schnarchte, schlüpften durch die Wand und sahen sich in der Holzschupfe nebenan, wo das Heu lag. Sie kletterten den Heustock hinab und standen vor einem allerliebsten kleinen Wägelchen, das überaus kunstvoll und zierlich gebaut und um und um mit Gold eingelegt war.
Das hat uns der liebe Gott geschickt, sagten sie und hatten eine große Freude. Alsogleich setzten sie sich hinein, und das Brüderchen sagte:
Wäglein, Wäglein, hübsch und fein, Trag uns zum lieben Mütterlein!
Im Augenblick that sich die Thür der Schupfe von selbst auseinander, das Wäglein setzte sich in Bewegung und fuhr mit den Kindern durch die Luft davon. Ehe der Menschenfresser erwachte, waren Brüderchen und Schwesterchen schon daheim in den Armen der lieben Mutter, welche die ganze Nacht um ihre Kindlein geweint hatte.