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狄更斯德语小说:双城记-23 Noch mehr Strickzeug
日期:2017-07-17 11:17  点击:279
Madame Defarge und ihr Herr Gemahl kehrten traulich miteinander in den Schoß von Saint Antoine zurück, während ein Fleck in einer blauen Mütze durch Dunkelheit und Staub die ermüdende Allee neben der Straße sich hinunterbewegte und langsam in die Kompaßrichtung strebte, wo das Schloß des jetzt in seinem Grabe liegenden Monsieur le Marquis auf das Flüstern der Bäume lauschte. Die steinernen Gesichter hatten nunmehr so reichlich Muße, den Bäumen und dem Brunnen zuzuhören, daß die Dorfvogelscheuchen, die bei ihrem Spähen auf eßbares Grün oder brennbares abgestorbenes Reis sich in die Nähe des steinernen Hofes und der Terrassentreppe verirrten, in ihrer ausgehungerten Einbildungskraft auf den Gedanken kamen, die Gesichter seien anders geworden. In dem Dorfe erhielt sich noch ein Gerücht – freilich nur schwach und abnehmend wie die Einwohnerschaft selbst –, die Gesichter haben, als das Messer gestoßen wurde, den Ausdruck des Stolzes in den von Zorn und Schmerz umgewandelt, und als die baumelnde Gestalt vierzig Fuß hoch über dem Brunnen hing, sei abermals eine Veränderung vorgegangen, denn sie trügen von da an und für immer die grausame Miene gesättigter Rache. Auf dem steinernen Gesicht über dem großen Fenster des Schlafgemaches, wo der Mord geschah, zeigten sich in der gemeißelten Nase zwei feine Grübchen, die jedermann erkennen konnte, vorher aber nie jemand gesehen hatte; und wenn bei seltenen Gelegenheiten zwei oder drei zerlumpte Bauern aus dem Haufen der andern auftauchten, um einen hastigen Blick nach dem versteinerten Monsieur le Marquis zu werfen, so konnte keiner auch nur eine Minute mit dem mageren Finger danach hindeuten, ohne daß die übrigen auseinanderstoben, um unter Moos und Gebüsch sich zu bergen wie die Hasen, die freilich, glücklicher als sie, da auch ihre Nahrung fanden.
Schloß und Hütte, Steingesicht und baumelnde Gestalt, der rote Fleck auf dem Steinboden und das reine Wasser in dem Dorfbrunnen, Tausende von Morgen Landes, eine ganze Provinz von Frankreich, ja sogar ganz Frankreich lag unter dem Nachthimmel zu einer schwachen haarbreiten Linie konzentriert. So liegt eine ganze Welt mit ihrer Größe und Kleinheit in dem flimmernden Punkt eines Sterns. Und da bloßes menschliches Wissen einen Lichtstrahl zu spalten und die Art seiner Zusammensetzung zu zergliedern vermag, so liest wohl ein höherer Verstand in dem schwachen Widerschein dieser unserer Erde jeden Gedanken und jede Tat, jede Tugend und jedes Laster in den Seelen der darauf lebenden verantwortlichen Geschöpfe.
Die Defarges, Mann und Frau, kamen unter dem Schein der Sterne in einem holpernden Fiaker zu dem Tor jenes Teils von Paris, nach dem natürlich ihre Reise ging. Wie gewöhnlich mußte vor dem Wachhaus der Barriere haltgemacht werden, und die gewöhnlichen Laternen kamen zu der gewöhnlichen Untersuchung aus dem Wachhaus heraus. Monsieur Defarge stieg aus. Er kannte ein paar von den Soldaten und einen von der Polizei. Mit letzterem stand er auf sehr vertrautem Fuße, weshalb er ihn aufs freundschaftlichste grüßte.
Saint Antoine hatte die Defarges mit seinen mächtigen Schwingen wieder umfangen, und sie suchten, da sie an der Grenzscheide des Heiligen ausgestiegen waren, zu Fuß ihren Weg durch den schwarzen Kot und den Unrat der Straßen. Da sagte Madame Defarge zu ihrem Mann:
»Rede, mein Freund; was hat Jacques von der Polizei dir mitgeteilt?«
»Heute sehr wenig, aber doch alles, was er weiß. Es ist wieder ein Spion für unsern Stadtteil aufgestellt worden. Vielleicht sind's ihrer viel mehr, aber er hat nur von diesem einen Kenntnis.«
»Wirklich?« versetzte Madame Defarge mit kalter Geschäftsmiene, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Dann ist's nötig, ihn einzutragen. Wie heißt der Mann?«
»Er ist ein Engländer.«
»Um so besser. Sein Name?«
»Barsad«, sagte Defarge, indem er durch die Aussprache ihn zu einem französischen machte; doch hatte er sich's so angelegen sein lassen, ihn genau zu erfahren, daß in den Buchstaben kein Irrtum obwalten konnte.
»Barsad«, wiederholte Madame. »Gut. Taufname?«
»John.«
»John Barsad«, murmelte Madame ein paarmal vor sich hin. »Gut. Weiß man, wie er aussieht?«
»Alter ungefähr vierzig Jahre, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, dunkle Hautfarbe, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradstehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck.«
»Meiner Treu, das ist ein Porträt!« sagte Madame lachend. »Er soll morgen eingetragen werden.«
Sie hatten das Weinhaus erreicht, das, weil es bereits Mitternacht war, geschlossen war. Madame nahm drinnen ihren Posten alsbald an dem Pult ein, zählte die kleine Münze, die in ihrer Abwesenheit eingegangen, untersuchte die Vorräte, ging die Einträge im Buch durch, machte selbst weitere, befragte den Kellner über alles mögliche und ließ ihn endlich zu Bett gehen. Dann leerte sie den Inhalt der Geldschüssel zum zweitenmal aus und begann denselben, zu sicherer Aufbewahrung für die Nacht, partienweise in ihr Taschentuch zu knüpfen, so daß dadurch eine Kette getrennter Knoten gebildet wurde. Diese ganze Zeit über ging Defarge mit der Pfeife im Munde auf und ab und sah mit wohlgefälliger Bewunderung zu, ohne sich einzumengen. Ein solches Aufundabwandeln war überhaupt sein ganzer Lebensgang.
Die Nacht war heiß, und in der dumpfen, von einer ekelhaften Nachbarschaft umgebenen Weinstube roch es nicht am besten. Monsieur Defarges Geruchssinn gehörte zwar nicht zu den feinen, aber der Wein dünstete viel schärfer aus als sonst, und ebenso kam es ihm bei dem Rum, dem Anis und dem Branntwein vor. Er schnüffelte über das Gemisch dieser Gerüche, als er die ausgerauchte Pfeife weglegte.
»Du bist erschöpft«, sagte Madame, von ihren Geldknoten aufschauend. »Es riecht wie sonst auch.«
»Ich bin allerdings etwas müde«, räumte der Gatte ein.
»Und etwas niedergedrückt dazu«, sagte Madame, deren scharfes Auge nie so sehr in Anspruch genommen war, daß es nicht einige Blicke für ihn hätte erübrigen können. »Oh, die Männer, die Männer!«
»Aber meine Liebe«, begann Defarge.
»Nun, meine Liebe«, wiederholte Madame mit entschiedenem Kopfnicken »was soll meine Liebe? Du bist heute nacht sehr kleinmütig, mein Bester.«
»Nun ja«, sagte Defarge, als ob ein Gedanke sich von seiner Brust losrisse, »es ist in der Tat eine lange Zeit.«
»Ja, wohl eine lange Zeit«, versetzte seine Frau. »Und wenn es keine lange Zeit wäre? Rache und Vergeltung wollen Zeit haben; das ist die Regel.«
»Der Blitz, der auf einen Menschen niederfährt, braucht nicht lange«, sagte Defarge.
»Aber wie lange braucht's«, fragte Madame ruhig, »um den Blitz vorzubereiten? Sag' mir dies.«
Defarge richtete gedankenvoll den Kopf auf, als ob auch in diesem etwas brüte.
»Es ist für ein Erdbeben keine lange Frist nötig«, sagte Madame, »eine Stadt zu zerstören. Wohlan, so sag' mir, wie lang das Erdbeben braucht, bis es zum Losbrechen fertig ist.«
»Vermutlich lange«, sagte Defarge.
»Aber wenn es einmal so weit ist, so kracht es und mahlt alles in Trümmer. In der Zwischenzeit schafft es vorbereitend, ohne daß man etwas davon hört oder sieht. Dies ist ein Trost für dich; halt ihn fest.«
Sie knüpfte mit flammendem Aug' einen Knoten, als ob sie einen Feind erdroßle.
»Ich sage dir«, fuhr Madame fort und streckte pathetisch die Hand aus, »daß es, wenn es auch lange braucht, doch schon auf dem Wege ist und kommen wird. Ich sage dir, es weicht nicht zurück und macht keinen Augenblick halt. Ich sage dir, es rückt ohne Unterlaß näher. Sieh umher und betrachte dir das Leben aller, die wir kennen, die Gesichter aller unserer Bekannten – merke auf die Wut und die Unzufriedenheit, worin die Jacquerie mit jeder Stunde sich mehr befestigt. Könnten solche Zustände bleiben? Pah! wie närrisch du mir vorkommst.«
»Mein braves Weib«, erwiderte Defarge, der gesenkten Hauptes und mit auf dem Rücken verschlungenen Händen dastand, einem gelehrigen Schüler gleich, der seinem Katecheten aufmerksames Gehör schenkt, »ich beanstande von alledem nichts. Aber es hat schon so lange gedauert, und so mag es wohl kommen – du weißt wohl, Frau, wie leicht dies möglich ist –, daß wir's nicht mehr erleben.«
»Nun – und was dann?« fragte Madame, abermals einen Knoten drehend, als gelte es, einen neuen Feind zu erwürgen.
»Dann sehen wir eben den Triumph der Sache nicht«, antwortete Defarge mit einem halb kläglichen, halb apologetischen Achselzucken.
»So haben wir doch mitgeholfen«, sagte Madame, wieder mit dem Arme fuchtelnd. »Nichts, was wir tun, wird umsonst gewesen sein. Doch glaube ich aus voller Seele, wir können den Triumph noch mit ansehen. Und wenn es auch nicht sein sollte, und ich wüßte dies gewiß, so zeige man mir den Hals eines Aristokraten und Tyrannen, und ich will –«
Madame biß jetzt die Zähne zusammen und drehte einen wahrhaft schrecklichen Knoten.
»Halt!« rief Defarge, ein wenig errötend, da ihn die Worte seiner Ehehälfte wie ein Vorwurf der Feigheit trafen, »auch ich werde mich durch nichts zurückschrecken lassen.«
»Ja; aber es ist eine Schwäche von dir, daß man dir zuweilen dein Opfer und die Gelegenheit zeigen muß, um deinen Mut aufrecht zu halten. Sei ein Mann auch ohne dies. Wenn die Zeit kommt, kannst du einen Tiger und einen Teufel loslassen, aber so lange mußt du warten und Tiger und Teufel an der Kette halten – nicht zeigen, aber immer dafür vorbereitet sein.«
Madame verstärkte den Schluß dieses Stückchens Rat damit, daß sie mit ihrer Geldkette auf den kleinen Zahltisch schlug, als klopfe sie jemand das Gehirn heraus; dann nahm sie mit ruhiger Miene das Schnupftuch unter den Arm und bemerkte, es sei Zeit zum Schlafengehen.
Am nächsten Mittag sah man die merkwürdige Frau wieder in der Weinstube, mit emsigem Stricken beschäftigt, auf ihrem gewöhnlichen Platz. Eine Rose lag neben ihr, und wenn sie hin und wieder nach der Blume hinsah, so geschah es ohne einen Wechsel in ihrer gedankenvollen Miene. Einige Gäste saßen oder standen mit oder ohne Trunk umher. Es war ein sehr heißer Tag, und Scharen von Fliegen, die ihre neugierigen und gewagten Forschungen auf alle die klebrigen kleinen Gläser in der Nähe von Madame ausdehnten, fielen tot zu Boden. Ihr Untergang machte keinen Eindruck auf die außen herumspazierenden Fliegen, die in der gelassensten Weise auf sie niederschauten, als seien sie selbst Elefanten oder sonst etwas ebenso Verschiedenes, bis sie von dem gleichen Schicksal ereilt wurden. Merkwürdig, was für ein kopfloses Volk die Fliegen sind! – Vielleicht dachten sie bei Hofe ebenso an jenem heißen Sommertage.
Eine durch die Tür eintretende Gestalt warf einen Schatten auf Madame Defarge; ohne hinzusehen, fühlte sie, daß dies ein neuer Gast war. Sie legte ihr Strickzeug nieder und steckte die Rose in ihren Kopfputz, ehe sie umschaute.
Es war seltsam. Sobald Madame Defarge die Rose aufgenommen hatte, hörten die Gäste auf zu sprechen und verloren sich allmählich aus der Weinstube.
»Guten Tag, Madame«, grüßte der neue Ankömmling.
»Guten Tag, Monsieur.«
Dies sprach sie laut, dann aber fügte sie innerlich hinzu, während sie wieder nach ihrem Strickzeug griff: »Ha, guten Tag. Alter ungefähr vierzig, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, dunkle Hautfarbe, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradstehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck! Guten Tag ein für allemal.«
»Darf ich um ein Gläschen alten Kognak und um einen Schluck frischen Wassers bitten, Madame?«
Madame willfahrte in höflicher Weise.
»Vortrefflicher Kognak dies, Madame.«
Es war das erstemal, daß ihm dieses Kompliment zuteil wurde, und Madame Defarge kannte sich zu gut aus, um es für etwas anderes zu nehmen. Sie sagte jedoch, daß dieses Lob dem Kognak schmeichelhaft sei, und nahm ihr Gestrick wieder auf.
»Ihr strickt ja recht geschickt, Madame.«
»Gewohnheit.«
»Auch ein recht hübsches Muster.«
»Meint Ihr?« versetzte Madame, mit einem Lächeln nach ihm hinsehend.
»Zuverlässig. Darf man fragen, was es geben soll?«
»Zeitvertreib«, sagte Madame, ihn noch immer lächelnd ansehend, während ihre Finger hurtig fortarbeiteten.
»Also nicht für den Gebrauch?«
»Je nachdem. Möglich, daß ich es eines Tages benutzen kann. Kommt die Zeit je nun«, fügte Madame bei, indem sie tief aufatmete und in einer Art ernster Koketterie mit dem Kopfe nickte, »so gedenke ich Gebrauch davon zu machen.«
Es war merkwürdig, aber der Geschmack von Saint Antoine schien sich durch eine Rose in dem Kopfputz der Madame Defarge verletzt zu fühlen. Zwei Männer, die gesondert nacheinander eintraten, hatten augenscheinlich Lust, etwas zu bestellen: als sie aber dieser Neuerung ansichtig wurden, stotterten sie, taten, als hätten sie einen Freund gesucht, der nicht da war, und entfernten sich wieder. Von den Gästen, die beim Eintritt des Fremden in der Weinstube gewesen, sah man keinen mehr; alle waren fortgegangen. Der Spion hatte seine Augen gut offen gehabt, aber nicht bemerken können, daß ein Zeichen gegeben worden wäre. Ihr Verschwinden war ganz natürlich und unverdächtig vor sich gegangen, als habe demselben durchaus keine Absicht, höchstens eine leere Börse zugrunde gelegen.
»John«, dachte Madame, in ihrer Arbeit innehaltend, obschon ihre Finger, während ihre Augen auf dem Fremden ruhten, automatisch sich fortbewegten. »Wenn du lange genug bleibst, so stricke ich in deinem Beisein das Wort Basard aus.«
»Ihr habt einen Mann, Madame?«
»Ja.«
»Kinder?«
»Nein.«
»Das Geschäft scheint schlecht zu gehen.«
»Sehr schlecht. Die Leute sind so arm.«
»Ach, das unglückliche, bedauernswürdige Volk! Und noch obendrein so gedrückt, wie Ihr sagt.«
»Wie Ihr sagt«, versetzte Madame, ihn verbessernd und gewandt ein Extra-Etwas in seinen Namen strickend, was nichts Gutes für ihn bedeutete.
»Ich bitte um Verzeihung: allerdings habe ich so gesagt, aber, versteht sich, damit nur einen Gedanken von Euch ausgedrückt. Natürlich.«
»Einen Gedanken von mir?« erwiderte Madame von oben herab. »Ich und mein Mann haben genug zu tun, diese Weinstube im Gang zu halten, ohne daß wir uns mit Gedanken plagen. Hier, denkt man an nichts weiter, als wie man sein Leben durchschlägt. Dies ist der Gegenstand unserer Gedanken, und er nimmt uns vom Morgen bis in die Nacht voll in Anspruch, ohne daß wir unsere Köpfe mit dem Denken für andere zu behelligen brauchen. Tue dies jeder für sich selbst: ich will nichts davon.«
Der Spion, der sich eingefunden hatte, um womöglich einige Krümlein aufzulesen oder etwas anzuspinnen, ließ auf seinem unheimlichen Gesicht nichts von dem Ärger seines Innern merken, sondern stand in galantem Geplauder da, lehnte seinen Ellenbogen auf Madame Defarges kleinen Zahltisch und schlürfte gelegentlich von seinem Kognak.
»Eine schlimme Geschichte, jene Hinrichtung Gaspards, Madame. Ach, der arme Gaspard!« fügte er mit einem mitleidigen Seufzer hinzu.
»Ei was«, entgegnete Madame leichthin und mit Kälte, »wenn die Leute in solcher Absicht zum Messer greifen, so müssen sie's eben büßen. Er wußte im voraus, was ein solcher Luxus kostet, und hat den Preis dafür bezahlt.«
»Ich glaube«, sagte der Spion, seine Stimme zu einem Ton dämpfend, der zum Vertrauen einlud, und in jedem Muskel seines boshaften Gesichtes eine gekränkte revolutionäre Empfindlichkeit ausdrückend, »in Beziehung auf den armen Schelm herrscht viel Teilnahme und Unwille in diesem Stadtteil? Wir sprechen dies unter uns.«
»Wirklich?« versetzte Madame, sich einfältig stellend.
»Ist's nicht so?«
»Da kommt mein Mann«, entgegnete Madame Defarge.
Der Inhaber der Weinstube blieb unter der Tür stehen. Der Spion grüßte, indem er an seinen Hut langte und unter einschmeichelndem Lächeln den Wirt mit den Worten anredete:
»Guten Tag, Jacques.«
Defarge sah ihn mit großen Augen an.
»Guten Tag, Jacques«, wiederholte der Spion mit etwas weniger Zuversicht oder mit einem weniger zutraulichen Lächeln unter dem Einfluß dieses Blickes.
»Ihr seid im Irrtum, Herr«, versetzte der Inhaber der Weinstube, »und haltet mich für jemand anders. Ich heiße nicht so. Mein Name ist Ernest Defarge.«
»Es kommt auf eines heraus«, sagte der Spion leichthin, obschon mit verbissenem Arger. »Guten Tag.«
»Guten Tag«, entgegnete Defarge trocken.
»Ich sagte eben zu Madame, mit der ich mich bei Eurem Eintritt zu unterhalten das Vergnügen hatte, man erzähle sich – und es ist auch kein Wunder –, daß das unglückliche Schicksal des armen Gaspard viel Teilnahme und Unwillen in Saint Antoine geweckt habe.«
»Gegen mich hat sich niemand in dieser Weise ausgesprochen«, sagte Defarge, den Kopf schüttelnd. »Ich weiß nichts davon.«
Nach diesen Worten trat er hinter den kleinen Zahltisch, legte seine Hand auf die Lehne des Stuhles, in dem Madame saß, und blickte über diese Schranke nach dem ihnen jetzt gegenüberstehenden Menschen hin, dem er sowohl wie sie von ganzem Herzen eine Kugel ins Hirn gegönnt hätte.
Der Spion, der sich auf sein Geschäft verstand, ließ sich in seiner nachlässigen Stellung nicht beirren, sondern trank sein Gläschen Kognak aus, nahm dann einen Schluck Wasser und bat um ein weiteres Glas. Madame Defarge bediente ihn, griff dann wieder zu ihrem Strickzeug und summte eine Arie vor sich hin.
»Ihr scheint Euch in diesem Viertel gut auszukennen – das heißt, besser als ich«, bemerkte Monsieur Defarge.
»Durchaus nicht; aber ich hoffe bekannt zu werden. Ich fühle eine tiefe Teilnahme für seine unglücklichen Bewohner.«
»Ha!« murmelte Defarge.
»Das Vergnügen, mich mit Euch zu unterhalten, Monsieur Defarge, erinnert mich daran«, fuhr der Spion fort, »daß ich die Ehre habe, Euren Namen mit interessanten Vorgängen der Vergangenheit in Verbindung bringen zu können.«
»So?« versetzte Defarge gleichgültig.
»Jawohl. Ich weiß, daß Ihr nach der Freilassung des Doktor Manette Euch als sein alter Diener seiner angenommen habt. Er wurde Euch übergeben. Ihr seht, daß ich von den Verhältnissen unterrichtet bin.«
»Dies scheint in der Tat der Fall zu sein«, sagte Defarge.
Madame hatte ihm nämlich durch eine gelegentliche Berührung mit dem Ellenbogen, während sie im übrigen fortstrickte und trillerte, ihre Meinung angedeutet, daß er am besten tun werde, zu antworten, aber nur kurz.
»Zu Euch kam auch seine Tochter«, fuhr der Spion fort, »die ihn Euch abnahm und mit ihm nach England zurückkehrte; sie wurde begleitet von einem sauberen braunen Herrn – wie hieß er doch? in einer Stutzperücke – Lorry – bei der Bank von Tellson und Kompanie.«
»Ganz richtig«, erwiderte Defarge.
»Sehr interessante Erinnerungen«, sagte der Spion. »Ich habe Doktor Manette und seine Tochter in England kennengelernt.«
»So?« entgegnete Defarge.
»Ihr hört wohl nicht mehr viel von ihnen?« fragte der Spion.
»Nein«, entgegnete Defarge.
»Eigentlich nie«, fiel Madame ein, die ihr Summen einstellte und von ihrer Arbeit aufsah. »Wir erfuhren, daß sie gut in England angelangt waren, und erhielten noch einen oder vielleicht zwei Briefe; aber seitdem sind sie ihren eigenen Lebensweg gegangen und wir den unsrigen. Wir haben keine Korrespondenz unterhalten.«
»Es ist vollkommen so, Madame«, sagte der Spion. »Sie wird demnächst heiraten.«
»Demnächst?« wiederholte Madame. »Sie war hübsch genug, daß man glauben sollte, sie hätte das längst getan. Ihr Engländer seid kalt, scheint mir.«
»Oh, Ihr wißt, daß ich ein Engländer bin?«
»Ich bemerke es an Eurer Sprache«, entgegnete Madame; »nach ihr beurteile ich den Mann.«
Er schien diese Identifikation nicht für ein Kompliment aufzunehmen; doch machte er gute Miene dazu und lachte. Nachdem er seinen Kognak ausgeschlürft hatte, fügte er hinzu:
»Ja, Miß Manette ist im Begriff, sich zu verehelichen. Aber nicht an einen Engländer, sondern an einen Mann, der wie sie selbst durch seine Geburt Frankreich angehört. Und da wir von Gaspard gesprochen haben – ach der arme Gaspard! es war grausam, sehr grausam – seltsamerweise muß es sich fügen, daß sie den Neffen des Herrn Marquis heiratet, um dessentwillen Gaspard um so viele Fuß erhöht wurde – mit andern Worten, den gegenwärtigen Marquis. Aber er lebt unbekannt in England und ist dort kein Marquis, sondern läßt sich Mr. Charles Darnay nennen. D'Aulnais heißt die Familie seiner Mutter.«
Madame Defarge strickte stetig fort; aber die Kunde machte einen sichtlichen Eindruck auf ihren Gatten. Er mochte hinter dem kleinen Zahltisch tun, was er wollte – Licht schlagen oder seine Pfeife anzünden – seine Unruhe verbarg sich nicht, und seine Hand blieb unsicher. Der Spion hätte kein Spion sein müssen, wenn dies ihm entgangen wäre und sich nicht seinem Gedächtnis eingeprägt hätte.
Nachdem Mr. Barsad wenigstens dieses Körnchen – vielleicht ließ sich doch etwas daraus machen – aufgefischt hatte, zahlte er, da kein anderer Gast kam, um ihm zu einem weiteren zu verhelfen, seine Zeche und verabschiedete sich, wobei er in höflicher Weise das Vergnügen fernerer Besuche bei Monsieur und Madame Defarge in Aussicht nahm. Er hatte sich schon einige Minuten in den Gassen von Saint Antoine verloren, während Mann und Frau noch immer für den Fall, daß er wieder zurückkäme, die gleiche Haltung bewahrten wie bei seinem Abgange.
»Kann es wahr sein, was er von Mamselle Manette gesagt hat?« begann endlich Defarge, der noch immer rauchend hinter seiner Frau stand und die Hand auf der Stuhllehne liegen hatte, mit gedämpfter Stimme.
»Da er's gesagt hat«, versetzte Madame, ihre Augenbrauen ein wenig in die Höhe ziehend, »so ist es wahrscheinlich eine Lüge. Indes wäre es wohl möglich.«
»Wenn's so wäre –« sagte Defarge und hielt wieder inne.
»Wenn's so wäre?« wiederholte seine Frau.
»Und wenn es so weit kommt, daß wir den Triumph erleben, so hoffe ich um ihretwillen, daß die Vorsehung ihren Mann von Frankreich fernhält.«
»Ihren Mann«, sagte Madame Defarge mit ihrer gewöhnlichen Fassung, »wird das ihm bestimmte Schicksal ereilen, wo er auch sei, und seinem Ziele zuführen. Was kümmert uns dies?«
»Ja, aber doch sonderbar – oder ist es wenigstens nicht jetzt sehr sonderbar«, versetzte Defarge, gewissermaßen unterhandelnd mit seiner Frau, als möchte er sie zu einem Zugeständnis bewegen, »daß bei aller unserer Sympathie für ihren Herrn Vater und sie der Name ihres Gatten in diesem Augenblick neben dem des höllischen Schurken, der uns eben verlassen hat, eingezeichnet werden mußte?«
»Wenn es so weit kommt, werden sich noch seltsamere Dinge zutragen«, antwortete Madame. »Ich habe allerdings beide hier, und sie stehen da um ihrer Verdienste willen. Das genügt.«
Während sie so sprach, rollte sie ihre Strickerei zusammen und nahm die Rose aus dem Tuche, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. Entweder ahnte Saint Antoine instinktartig die Beseitigung des anstößigen Schmuckes, oder hatte er darauf gelauert; kurz, der Heilige faßte bald nachher den Mut, wieder einzutreten, und die Weinstube erhielt abermals das gewohnte Aussehen.
Abends, um die Zeit, als Saint Antoine vorzugsweise sein Inneres nach außen kehrte, indem er sich auf die Türstufen und Fenstersimse setzte oder um die Ecken der stinkenden Straßen und Sackgassen kam, um ein wenig frischere Luft zu suchen, konnte man Madame Defarge ordnungsmäßig mit dem Strickzeuge in der Hand von einer Stelle, von einer Gruppe zur andern gehen sehen als einen Missionär – ihresgleichen hat es schon viele gegeben –, den die Welt hervorzubringen besser unterlassen hatte. Alle die Weiber strickten. Sie strickten unnütze Dinge, aber die mechanische Arbeit war ein mechanischer Ersatz für Essen und Trinken; die Hände bewegten sich statt der Kiefer und statt des Verdauungsapparats. Hätten die klapperdürren Finger geruht, so würden die Magen das Kneifen des Hungers schwerer empfunden haben.
Aber wie die Finger gingen, so gingen auch die Augen und die Gedanken. Und während Madame Defarge von Gruppe zu Gruppe wandelte, gingen alle drei rascher und eifriger unter jedem Weiberhaufen, mit dem sie gesprochen hatte.
Ihr Mann rauchte unter der Tür und sah ihr mit Bewunderung zu. »Eine große Frau«, sagte er, »eine starke Frau, eine großartige Frau, eine schrecklich großartige Frau!«
Die Dunkelheit brach herein; dann kam das Läuten der Kirchturmglocken und der ferne Zapfenstreich der königlichen Garde. Die Weiber saßen da und strickten und strickten. Es wurde Nacht um sie her. Eine andere Dunkelheit brach ebenso sicher herein, wenn einmal die Kirchenglocken, die von vielen stolzen Türmen lieblich über Frankreich hinläuteten, zu donnernden Kanonen umgeschmolzen waren und der Trommelschlag erscholl, um eine unglückliche Stimme zu ersticken – jene Nacht, allgewaltig wie die Stimme der Macht und des Überflusses, der Freiheit und des Lebens. Es dunkelte so sehr um die Weiber her, die strickend und strickend dasaßen, daß sie ihr eigenes Ich umgaben mit dem tiefen nächtigen Schatten eines noch nicht errichteten Gebäudes, in dem sie sitzen wollten, um zu stricken, zu stricken und fallende Köpfe zu zählen. 

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