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大卫·科波菲尔 52. Kapitel Ich wohne einer Explosion bei
日期:2017-07-14 10:24  点击:295
Als zu der von Mr. Micawber so geheimnisvoll bestimmten Zeit noch vierundzwanzig Stunden fehlten, berieten meine Tante und ich, was wir zunächst zu tun hätten, denn sie wollte nur ungern Dora allein lassen.
 
Ach wie leicht ich jetzt Dora die Treppe hinauf und hinunter tragen konnte!
Mr. Micawber hatte zwar die Anwesenheit meiner Tante zur Bedingung gemacht, doch wollten wir es so einrichten, daß Mr. Dick und ich an ihrer Statt gingen. Das war bereits beschlossene Sache, als Dora alles wieder umstürzte, indem sie erklärte, daß sie es sich und ebensowenig ihrem bösen Mann verzeihen würde, wenn die Tante unter irgendeinem Vorwand bei ihr bliebe.
»Ich spreche nicht mehr mit dir«, sagte sie und schüttelte energisch ihre Locken. »Ich werde sehr böse sein. Jip muß dich den ganzen Tag anbellen. Und ich werde im Ernst glauben, du bist eine mürrische alte Frau, wenn du nicht gehst!«
»Aber Blümchen«, lachte meine Tante, »du weißt doch, du kannst mich nicht entbehren.«
»O doch«, sagte Dora, »du bist mir zu gar nichts nütze. Du läufst nicht den ganzen Tag für mich herum, treppauf, treppab. Du sitzest niemals an meinem Bett und erzählst mir Geschichten von Doady, als seine Schuhe durchgelaufen und er mit Staub bedeckt war – der arme kleine Junge –, du tust mir überhaupt nie etwas zu Gefallen, nicht wahr, Tante!« Sie beeilte sich, meine Tante zu küssen und zu sagen: »Ich scherze ja nur.«
»Aber Tante«, fuhr sie schmeichelnd fort, »hör mich an. Du mußt gehen! Ich will dich quälen, bis ich meinen Willen habe. Ich will dem nichtsnutzigen Jungen das Leben so schwer machen, wie ich nur kann, wenn er dir nicht auch zuredet. Ich würde sehr böse sein und auch Jip. Übrigens«, sagte sie, strich sich das Haar zurück und sah meine Tante und mich verwundert an, »warum wollt ihr denn eigentlich nicht beide gehen? Ich bin doch wirklich nicht sehr krank. Oder doch?«
»Mein Gott, was für eine Frage!« rief meine Tante.
»Was für ein Einfall!« sagte ich.
»Ja, ja, ich weiß wohl, ich bin ein albernes Ding«, sagte Dora, blickte von einem zum andern und spitzte ihre Lippen, um uns zu küssen, während sie in ihren Kissen liegenblieb. »Also ihr müßt beide gehen, oder ich glaube euch nicht und müßte dann weinen.«
An dem Gesicht meiner Tante merkte ich, daß sie anfing nachzugeben, und Dora wurde wieder heiter, da sie es ebenfalls sah.
»Ihr werdet mir bei eurer Rückkehr so viel zu erzählen haben, daß ihr wenigstens eine Woche brauchen werdet, um es mir verständlich zu machen, denn ich weiß, es wird lange dauern, ehe ich es begreife, wenn es Geschäftsangelegenheiten sind. Und es sind sicher Geschäftsangelegenheiten. Aber jetzt geht ihr, nicht wahr? Ihr bleibt ja bloß eine Nacht weg, und Jip nimmt mich unterdessen unter seinen Schutz. Doady trägt mich jetzt hinauf, und ich komme erst nach eurer Rückkehr wieder herunter, und du nimmst Agnes einen Brief mit, in dem ich sie fürchterlich ausschelte, weil sie uns noch nicht besucht hat.«
So beschlossen wir beide zu gehen und erklärten, daß Dora eine kleine Heuchlerin sei, die sich nur krank stelle, um sich verhätscheln zu lassen; sie freute sich sehr darüber und war sehr lustig, und wir vier, nämlich meine Tante, Mr. Dick, Traddles und ich, fuhren abends mit der Post nach Canterbury.
 
In dem Gasthause, wohin uns Mr. Micawber bestellt hatte und bei dem wir um Mitternacht ankamen, fand ich einen Brief des Inhalts vor, daß Mr. Micawber sich pünktlich um zehn Uhr früh hier einstellen werde. Hierauf begaben wir uns in dieser vorgerückten Stunde fröstelnd nach unseren Betten durch verschiedene Gänge, die rochen, als ob sie seit Jahrhunderten in eine Lösung von Suppe und Stalljauche getaucht worden wären.
Früh am nächsten Morgen schlenderte ich durch die alten lieben stillen Straßen und betrachtete die schattigen Winkel der ehrwürdigen Torwege und Kirchen. Die Krähen segelten um die Spitzen des Doms, und die Türme, die auf das fruchtbare Land und die schönen Ströme hinaussahen, ragten in die helle Morgenluft empor, als ob es kein Heute und Morgen auf Erden gäbe. Die Glocken fingen an zu läuten und erzählten mir sorgenvoll von der Wandelbarkeit der irdischen Dinge, von ihrem eignen hohen Alter und von meiner hübschen Dora Jugend und von den vielen, die nie alt gewesen, gelebt und geliebt hatten und gestorben waren, während der Hall der Glocken Tag für Tag den rostigen Harnisch des schwarzen Prinzen, der drinnen in der Kirche hing, durchsummte und die Sonnenstäubchen über dem Abgrund der Zeit sich in der Luft verloren wie Kreise im Wasser.
Ich betrachtete von weitem das alte Haus an der Ecke der Straße, ging aber nicht näher, um nicht gesehen zu werden und vielleicht unwissentlich dem Plane zu schaden, den zu unterstützen ich hierher gekommen war. Die Morgensonne schien mit ihren schrägen Strahlen auf die Giebel und Gitterfenster und faßte sie mit Gold ein, und Strahlen alten Friedens schienen in mein Herz zu fallen.
Ich machte einen Spaziergang ins Freie und kehrte nach ungefähr einer Stunde durch die Hauptstraße zurück, die unterdessen den Schlaf der vergangenen Nacht abgeschüttelt hatte. Unter den Leuten, die in den Läden tätig waren, sah ich meinen alten Feind, den Fleischer, der es jetzt zu Stulpenstiefeln, einem kleinen Kind und einem eignen Geschäft gebracht hatte. Er wiegte das Kleine auf den Knien und schien ein wohlwollendes Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden zu sein.
 
Wir waren alle sehr unruhig und ungeduldig, als wir uns zum Frühstück setzten. Je näher die Stunde rückte, desto mehr steigerte sich unsere Aufregung. Endlich gaben wir uns nicht mehr den Anschein, als äßen wir, denn für uns alle, mit Mr. Dicks Ausnahme, war das Frühstück von Anfang an eine bloße Form gewesen. Meine Tante ging im Zimmer auf und ab, Traddles setzte sich aufs Sofa und tat, die Augen auf die Decke gerichtet, als ob er die Zeitung läse, und ich sah von Zeit zu Zeit zum Fenster hinaus, um als erster Mr. Micawbers Ankunft melden zu können. Ich brauchte nicht lange zu warten, denn mit dem Glockenschlag erschien er auf der Straße.
»Jetzt kommt er«, rief ich, »und zwar nicht in Amtskleidung.«
Meine Tante band sich die Hutbänder zu; den Hut hatte sie schon vor dem Frühstück aufgesetzt und nahm ihren Schal mit einer Miene um, als sei sie jetzt bereit, nicht in einem einzigen Punkte nachzugeben. Traddles knöpfte sich den Rock mit entschlossenem Gesichte zu. Beunruhigt durch solche unheilverkündende Anzeichen, aber erfüllt von der Überzeugung, daß er sie nachahmen müsse, zog Mr. Dick mit beiden Händen den Hut so fest über die Ohren wie nur möglich, nahm ihn aber sofort wieder ab, um Mr. Micawber zu bewillkommnen.
»Gentlemen und Maam, guten Morgen! Mein verehrter Herr, Sie sind außerordentlich gütig!« – Mr. Micawber und Mr. Dick schüttelten sich heftig die Hände.
»Haben Sie schon gefrühstückt?« fragte Mr. Dick. »Essen Sie ein Kotelett!«
»Nicht um alles in der Welt, mein bester Herr«, rief Mr. Micawber und hielt Mr. Dick ab, der eben klingeln wollte. »Appetit und ich, Mr. Dixon, sind einander seit langem fremd.«
Mr. Dixon fand so viel Gefallen an seinem neuen Namen und schien die Erfindung desselben Mr. Micawber so hoch anzurechnen, daß er ihm wieder die Hand schüttelte und recht kindisch lachte.
»Dick«, mahnte meine Tante, »achtgeben!«
Mr. Dick sammelte sich errötend.
»Also, mein Herr«, sagte meine Tante zu Mr. Micawber und zog sich ihre Handschuhe an, »wir sind fertig für den Berg Vesuv und das, was dazu gehört, wenn es Ihnen gefällig ist.«
»Maam«, entgegnete Mr. Micawber, »ich hoffe, Sie werden in Kürze Zeuge seines Ausbruchs sein. Sie werden mir erlauben, Mr. Traddles, jetzt zu sagen, daß wir bereits alle Vorkehrungen getroffen haben.«
»Ja, das ist der Fall, Copperfield«, bestätigte Traddles, als ich ihn überrascht anblickte. »Mr. Micawber hat mich hinsichtlich dessen, was er beabsichtigt, eingeweiht, und ich habe ihm nach meinem besten Wissen Ratschläge erteilt.«
»Wenn ich mich nicht täusche, Mr. Traddles«, fuhr Mr. Micawber fort, »so handelt es sich um eine Enthüllung wichtigster Art.«
»Allerdings, höchst wichtiger Art«, stimmte Traddles bei.
»Unter diesen Umständen, meine Herrschaften«, fuhr Mr. Micawber fort, »werden Sie mir vielleicht die Gunst erweisen, sich für den Augenblick der Anordnung einer Person zu unterwerfen, die, wenn auch unwürdig, in anderm Lichte als ein gestrandetes Wrack an der Küste der Menschheit betrachtet zu werden, dennoch immerhin Ihr Nebenmensch ist, wenn auch individuelle Irrtümer und das Zusammenwirken von Umständen sie ihres ursprünglichen Ansehens beraubt haben.«
»Wir setzen volles Vertrauen in Sie, Mr. Micawber«, versicherte ich, »und werden uns ganz nach Ihnen richten.«
»Mr. Copperfield, unter den gegebenen Umständen schenken Sie Ihr Vertrauen keinem Unwürdigen. Ich wollte Sie bitten, mir zu erlauben, fünf Minuten vor Ihnen weggehen zu dürfen, um Sie dann alle mit Einschluß Miss Wickfields in der Kanzlei von Wickfield & Heep, deren Söldling ich zur Zeit bin, zu empfangen.«
Meine Tante und ich blickten fragend auf Traddles, der mit einem Nicken seine Zustimmung gab.
»Vorderhand habe ich weiter nichts zu sagen«, bemerkte Mr. Micawber.
Damit machte er uns eine allgemeine Verbeugung und verschwand; sein Benehmen war außerordentlich gemessen und sein Gesicht totenblaß. Ich wußte mir vor Staunen gar nicht zu helfen.
Traddles lachte und schüttelte den Kopf, und jedes Haar stand ihm einzeln zu Berge, als ich ihn fragend ansah; so nahm ich denn die Uhr heraus und zählte als letzte Zuflucht die fünf Minuten ab. Meine Tante folgte genau meinem Beispiel. Als die Zeit verstrichen war, reichte ihr Traddles den Arm, und wir begaben uns alle miteinander in das alte Haus, ohne ein Wort unterwegs zu wechseln.
Wir fanden Mr. Micawber an seinem Pult in dem Parterrezimmer, anscheinend eifrigst arbeitend. Das große Lineal steckte in seinem Busen und guckte ein Stück hervor wie eine neue Art Jabot.
Da es mir vorkam, als lüde er mich ein, zu reden anzufangen, sagte ich laut:
»Wie geht es Ihnen, Mr. Micawber?«
»Mr. Copperfield«, antwortete er mit großem Ernst, »ich hoffe, Sie befinden sich wohl.«
»Ist Miss Wickfield zu Hause?«
»Mr. Wickfield liegt an einem rheumatischen Fieber zu Bett, aber Miss Wickfield wird sich jedenfalls glücklich schätzen, alte Freunde zu empfangen. Wollen Sie eintreten, Sir!«
Er führte uns in das Speisezimmer, öffnete die Tür von Mr. Wickfields früherer Kanzlei und meldete mit sonorer Stimme:
»Miss Trotwood! Mr. David Copperfield! Mr. Thomas Traddles! und Mr. Dixon!«
Ich hatte Uriah Heep seit der Ohrfeige nicht gesehen. Unser Besuch überraschte ihn sichtlich. Die Augenbrauen konnte er nicht zusammenziehen, denn er hatte keine, aber er runzelte die Stirn so sehr, daß die kleinen Augen fast verschwanden, während das schnelle Emporfahren seiner Knochenhand an das Kinn Bangen oder Überraschung verriet. Das war nur eine Sekunde; einen Augenblick später zeigte er sich so kriecherisch und demütig wie immer.
»Wahrhaftig«, sagte er, »das ist in der Tat ein unerwartetes Vergnügen. Alle seine Freunde aus London auf einmal bei sich zu sehen, ist wirklich eine ungeahnte Freude. Mr. Copperfield, ich hoffe, Sie befinden sich wohl und sind, wenn ich meine bescheidnen Hoffnungen in Worte fassen darf, freundlich gesinnt gegen die, mögen Sie es wollen oder nicht, die immer Ihre Freunde geblieben sind. Mrs. Copperfield ist hoffentlich auf dem Wege der Besserung begriffen? Was wir in letzter Zeit über ihr Befinden hörten, hat uns sehr besorgt gemacht, das kann ich Ihnen versichern.«
Ich schämte mich, daß ich ihm meine Hand lassen mußte, aber ich wußte nicht, wie ich mich benehmen sollte.
»Die Dinge haben sich hier sehr verändert seit der Zeit, Miss Trotwood, als ich noch ein niedriger Schreiber war und Ihnen das Pony hielt, nicht wahr?« sagte Uriah mit seinem tückischsten Lächeln, »aber ich habe mich nicht verändert, Miss Trotwood.«
»Nun, um Ihnen nur die Wahrheit zu sagen«, gab meine Tante zur Antwort, »ich glaube, Sie haben gehalten, was Sie in Ihrer Jugend versprochen haben, wenn Ihnen das vielleicht Freude macht.«
»Ich danke Ihnen, Miss Trotwood«, sagte Uriah und krümmte sich in seiner widerwärtigen Weise, »für Ihre gute Meinung! – Micawber, melden Sie Miss Agnes den Besuch – und Mutter! Mutter wird ganz außer sich sein, wenn sie die Herrschaften sieht«, fügte er hinzu und stellte die Stühle zurecht.
»Haben Sie nichts zu tun, Mr. Heep?« fragte Traddles, den listigen roten Augen Uriahs, die uns forschend ansahen, wie zufällig begegnend.
»Nein, Mr. Traddles!« gab Uriah Heep zur Antwort und setzte sich wieder auf seinen Schreibstuhl, seine magern Hände zwischen den knochigen Knien quetschend. »Nicht so viel, wie ich wünschen möchte. Sie wissen doch, Advokaten, Haifische und Blutegel sind nicht so leicht zu befriedigen. Nicht etwa, daß ich und Micawber nicht alle Hände voll zu tun hätten, denn Mr. Wickfield ist kaum noch zu irgend etwas fähig, aber es ist ein Vergnügen und eine Pflicht, für ihn zu arbeiten. Sie haben Mr. Wickfield nicht genauer gekannt, Mr. Traddles, glaube ich. Wenn ich nicht irre, hatte ich nur einmal die Ehre, Sie hier zu sehen?«
»Nein, ich bin nicht mit Mr. Wickfield intim«, entgegnete Traddles, »sonst hätte ich Sie wohl schon längst einmal aufgesucht, Mr. Heep.«
Es lag etwas in dem Ton dieser Antwort, was Uriah veranlaßte, mit finsterm und argwöhnischem Ausdruck aufzusehen. Aber da er Traddles mit seinem gutmütigen Gesicht, dem schlichten Benehmen und dem zu Berge stehenden Haar gelassen dastehen sah, fuhr er beruhigt und mit einem Schnellen seines Körpers fort:
»Das ist schade, Mr. Traddles! Sie hätten ihn so sehr bewundert wie wir alle. Seine kleinen Fehler hätten ihn Ihnen nur noch teurer gemacht. Aber wenn Sie beredt über meinen Kompagnon sprechen hören wollen, so muß ich Sie an Copperfield weisen. In dem Thema ›Familie‹ ist er groß, wenn Sie ihn noch nicht davon haben sprechen hören.«
In diesem Augenblick trat Agnes ein. Mir kam sie nicht ganz so ruhig wie gewöhnlich vor, und offenbar hatte sie viel Leid und Sorgen ausgestanden. Aber ihre ernste Herzlichkeit und ihre stille Schönheit traten nur in um so sanfterem Glanz hervor.
Ich sah, wie Uriah sie beobachtete, während sie uns begrüßte, und er kam mir wie ein scheußlicher rebellischer Dämon aus Tausendundeiner Nacht vor, der einen Schatz bewacht. Mittlerweile wechselten Mr. Micawber und Traddles heimlich ein Zeichen, und Traddles ging, ohne daß es jemand außer mir merkte, hinaus.
»Sie brauchen nicht zu warten, Micawber«, sagte Uriah. Mr. Micawber, die Hand an das große Lineal in seinem Busen gelegt, stand aufgerichtet vor der Tür und musterte ungeniert seinen Prinzipal.
»Worauf warten Sie?« fragte Uriah. »Micawber! Hören Sie nicht, daß Sie nicht warten sollen?«
»Ja«, entgegnete Mr. Micawber unbeweglich.
»Also, warum warten Sie dann?«
»Weil – kurz, weil es mir beliebt«, platzte Mr. Micawber heraus.
Aus Uriahs Wangen wich die Farbe, und eine ungesunde Blässe, aus der rote Flecken schwach hervorschimmerten, verbreitete sich über sein Gesicht. Er sah Mr. Micawber lauernd an, und sein ganzes Gesicht arbeitete in jeder Fiber.
»Sie sind ein liederlicher Mensch, das weiß alle Welt«, sagte er mit einem krampfhaften Lächeln, »und ich fürchte, ich werde Sie entlassen müssen. Gehen Sie! Ich will gleich nachher mit Ihnen sprechen.«
»Wenn es einen Schurken auf dieser Erde gibt«, donnerte Mr. Micawber plötzlich mit größter Heftigkeit los, »mit dem ich schon viel zu viel gesprochen habe, so heißt dieser Schurke – Heep!«
Uriah sank zurück, als ob ihn ein Schlag oder Stich getroffen hätte. Dann sah er uns alle langsam der Reihe nach mit dem tückischsten Ausdruck, den sein Gesicht nur annehmen konnte, an und sagte mit gepreßter Stimme:
»Oho! Eine Verschwörung! Sie haben sich hier bestellt! Sie stecken mit meinem Schreiber unter einer Decke, Copperfield? Hüten Sie sich! Das wird zu nichts führen. Wir verstehen einander, Sie und ich! Es herrscht Haß zwischen uns. Sie waren von jeher ein hochfahrender Geck und neiden mir mein Emporkommen, was? Gegen mich werden Sie keine Komplotte schmieden. Ich bin Ihnen über. Und Sie, Micawber, schauen Sie, daß Sie hinauskommen! ... Ich werde gleich mit Ihnen draußen sprechen.«
»Mr. Micawber«, sagte ich, »schon die Veränderung in diesem Kerl, und daß er plötzlich die Wahrheit spricht, verrät, daß wir ihn gefaßt haben. Behandeln Sie ihn, wie er es verdient!«
»Das sind mir ja nette Leute«, sagte Uriah mit derselben gepreßten Stimme, während der kalte Schweiß ihm auf die Stirne trat, die er mit seiner Skeletthand abwischte, »nette Leute! Meinen Schreiber, der zum Abschaum der Gesellschaft zählt, zu dem Sie selbst einmal gehörten, Copperfield, ehe sich Ihrer jemand erbarmte, zu bestechen, damit er Lügen gegen mich erfinde! – Miss Trotwood, für Sie wäre es auch besser, Sie machten der Sache ein Ende, wenn Sie nicht wollen, daß ich Ihrem Gatten zu einem schnellern Ende verhelfe, als Ihnen angenehm sein wird. Ich habe Ihre Geschichte nicht umsonst in unsern Akten genau studiert! Und Sie, Miss Wickfield, wenn Sie Ihren Vater lieben, täten auch besser, Ihre Finger davon zu lassen. Wenn Sies nicht tun, richte ich ihn zugrunde. Nur heran! Ich habe einige von euch unter dem Daumen. Überlegen Sie sichs zweimal, ehe Sie mit mir anbinden! Und Sie, Micawber, überlegen Sie sichs auch zweimal, sonst vernichte ich Sie. Verstehen Sie? Ich rate Ihnen, gehen Sie hinaus, Sie Narr, und lassen Sie mit sich reden, solange es noch Zeit ist. – Wo ist Mutter?« fuhr er plötzlich auf, die Abwesenheit Traddles mit einem Mal mit Schrecken gewahr werdend; und heftig riß er an der Klingel. »Schöne Freiheiten nimmt man sich in meinem Haus heraus!«
»Mrs. Heep ist hier, Sir«, antwortete Traddles, mit der würdigen Dame zurückkehrend. »Ich habe mir nur die Freiheit genommen, mich ihr vorzustellen.«
»Was soll das bedeuten«, herrschte ihn Uriah an, »und was wollen Sie überhaupt hier?«
»Ich bin der Vertreter und Freund von Mr. Wickfield, Sir«, sagte Traddles in kühlem, geschäftsmäßigem Ton. »Ich habe eine von ihm ausgestellte Vollmacht in der Tasche, an seiner Statt in allen Angelegenheiten zu verhandeln.«
»Der alte Esel hat sich blödsinnig getrunken«, fauchte Uriah und verzerrte sein scheußliches Gesicht, »und sich etwas abschwindeln lassen.«
»Mr. Wickfield hat sich allerdings etwas abschwindeln lassen, das weiß ich«, entgegnete Traddles gelassen, »und Sie wissens auch, Mr. Heep. Wir wollen uns diesbezüglich an Mr. Micawber wenden, wenn es Ihnen angenehm ist.«
»Ury –!« begann Mrs. Heep mit flehender Gebärde.
»Halte den Mund, Mutter! Je weniger Worte, desto weniger Schaden!«
»Aber mein Ury –!«
»Willst du nicht den Mund halten, Mutter, und die Sache mir überlassen!«
 
Obgleich ich längst wußte, daß sein demütiges Wesen und all sein Tun und Lassen falsch und heuchlerisch war, so hatte ich doch keinen Begriff von dem Übermaß seiner Heuchelei, bis er jetzt die Maske abwarf. Die Plötzlichkeit, wie er jetzt sein wahres Gesicht zeigte, einsehend, daß Verstellung nichts mehr half, – die Bosheit und Unverschämtheit und der Haß, den er an den Tag legte, der Hohn, mit dem er sich selbst jetzt noch des Übels freute, das er angerichtet, während er zu gleicher Zeit in wilder Verzweiflung nach Mitteln suchte, unsern Sieg zu vereiteln, – waren zwar ganz so, wie ich sie von ihm erwarten konnte, überraschten mich aber anfangs nichtsdestoweniger.
Von dem Blick, den er auf mich warf, will ich nichts sagen, denn ich wußte, daß er mich von jeher haßte; und mußte an die Ohrfeige denken, die ich ihm versetzt; aber als sein Blick auf Agnes fiel und ich die Wut sah, mit der er fühlte; daß ihm seine Macht über sie entschlüpfte, und als sich in seinen Mienen die häßlichen Leidenschaften verrieten, die ihn nach dem Besitz eines Wesens hatten streben lassen, dessen Wert er weder würdigen noch erkennen konnte, empörte mich schon der bloße Gedanke, daß Agnes auch nur eine Stunde lang im Augenbereich eines solchen Menschen hatte leben müssen.
Nachdem Uriah sich das Kinn gerieben und uns über seine Totenfinger hinweg tückisch und unsicher angesehen hatte, wendete er sich noch einmal halb kriecherisch, halb keifend an mich.
»Daß Sie sich nicht scheuen, Copperfield, wo Sie soviel auf Ihre Ehre und alles das halten, in meinem Haus zu spionieren, und mit meinem Schreiber gemeinschaftliche Sache machen! Wenn ich das getan hätte, wäre es kein Wunder, denn ich nenne mich keinen Gentleman, wenn ich auch nie ein Vagabund gewesen bin wie Sie, nach dem, was mir Micawber erzählt hat. Aber daß Sie das tun konnten! Und haben Sie gar keine Furcht vor den Folgen? Bedenken Sie nicht, wie ich mich rächen kann? Oder daß Sie in Ungelegenheiten kommen werden wegen Aufreizungen und Anzettlungen? Wir werden ja sehen, Mr. Dingsda, was dabei herauskommt, wenn Sie sich auf Micawber verlassen! Soll er doch reden! Er hat seine Lektion auswendig gelernt, wie ich sehe.«
Als er merkte, daß seine Worte auf keinen von uns auch nur den geringsten Eindruck machten, setzte er sich auf den Rand des Tisches, die Hände in die Taschen gesteckt und einen seiner Plattfüße um das andere Bein geschlungen, und wartete verbissen auf das, was da kommen sollte.
Mr. Micawber, dessen Ungestüm ich bis dahin mit der größten Schwierigkeit im Zaume gehalten hatte und der wiederholt die erste Silbe von Schur-ke dazwischengerufen hatte, ohne bis zur zweiten zu gelangen, brach jetzt los. Er zog das Lineal aus dem Busen, offenbar um es als Verteidigungswaffe zu benützen, und aus der Tasche ein Dokument auf Aktenpapier, das wie ein großer Brief zusammengelegt war. Er entfaltete das Schreiben mit seiner gewohnten Wichtigkeit, überflog es mit Künstlerstolz und fing dann an zu lesen wie folgt:
»Verehrte Miss Trotwood und meine Herren!«
»Gott erbarme sich des Mannes!« flüsterte mir meine Tante zu. »Ich glaube, er schriebe schockweise Briefe und wenn es gesetzlich verboten wäre.«
Mr. Micawber, ohne sie zu hören, fuhr fort:
 
»Indem ich vor Ihnen erscheine, um den vollendetsten Schurken, der jemals gelebt hat«, – er deutete, ohne von dem Brief aufzusehen, wie mit einem Feldherrnstabe auf Uriah Heep – »anzuklagen, so verlange ich keinen Lohn für mich. Von der Wiege an das Opfer pekuniärer Verpflichtungen, denen ich niemals habe nachkommen können, war ich stets der Spielball erniedrigender Verhältnisse. Schmach, Not, Verzweiflung und Wahnsinn sind zusammen oder einzeln die Begleiter meiner Laufbahn gewesen.«
 
Der Genuß, mit dem Mr. Micawber sich als Beute schrecklichster Unglücksfälle hinstellte, kam nur der Emphase gleich, mit der er den Brief vorlas, und der Befriedigung, mit der er den Kopf wiegte, wenn er einen ganz besonders verschnörkelten Satz herausgebracht hatte.
 
»Schmach, Not, Verzweiflung und Wahnsinn stürmten mit vereinten Kräften auf mich ein, als ich in die Kanzlei oder wie es unsere lebhaften Nachbarn, das Volk der Gallier, nennen würden, »Bureau« der Rechtsfirma eintrat, die unter der Bezeichnung Wickfield & Heep bekannt ist, in Wirklichkeit jedoch nur von – Heep allein geleitet wird. Heep allein ist die Triebfeder dieser Maschine. Heep, und nur Heep allein, ist der Fälscher und Schwindler.«
 
Uriah, mehr blau als weiß bei diesen Worten, fuhr mit der Hand nach dem Brief, als wollte er ihn zerreißen. Mit beispielloser Geschicklichkeit oder vielleicht aus Zufall traf Mr. Micawber die Hand mit dem schweren Lineal, daß sie wie gelähmt herabfiel. Es klang, als ob er auf Holz geschlagen hätte.
»Der Teufel soll Sie holen!« schrie Uriah und krümmte sich vor Schmerz. »Das will ich Ihnen heimzahlen!«
»Kommen Sie mir nur noch einmal zu nahe, – Sie – Sie – Heep – Sie! Und wenn Ihr Schädel wirklich aus Fleisch und Knochen ist, so will ich ihn Ihnen blutig schlagen. Nur heran, nur heran!«
Es konnte nichts Lächerlicheres geben als den Anblick, wie Mr. Micawber sich mit dem Lineal wie mit einem Schläger auslegte und rief: »Nur heran!« während Traddles und ich ihn in die Ecke zurückdrängten, wo er immer wieder hervor wollte, kaum daß es uns gelungen war.
Vor sich hinmurmelnd rieb sich Uriah die verletzte Hand und verband sie langsam mit seinem Halstuch. Dann setzte er sich wieder auf den Tisch und blickte verbissen vor sich hin.
Als Mr. Micawber sich ein wenig beruhigt hatte, fuhr er fort:
 
»Das Honorar, gegen das ich in die Dienste – Heeps trat, war nicht genau bemessen mit Ausnahme einer Kleinigkeit von zweiundzwanzig Schilling sechs Pence die Woche. Das übrige sollte von dem Wert meiner geschäftlichen Tätigkeit abhängen. Mit andern und deutlicheren Worten ausgedrückt, von der Niedrigkeit meines Charakters, meiner Habsucht, den gedrückten Verhältnissen meiner Familie, der sittlichen oder vielmehr unsittlichen Ähnlichkeit zwischen mir und – dem Heep da. Brauche ich erst zu erzählen, daß ich mich genötigt sah, von – diesem Heep da pekuniäre Vorschüsse zur Unterstützung Mrs. Micawbers und unserer unglücklichen, aber immer größer werdenden Familie zu verlangen? Brauche ich erst zu sagen, daß diese Umstände von diesem – Heep da vorausgesehen worden waren und daß diese Vorschüsse durch Schuldverschreibungen und ähnliche Dokumente, die den gesetzlichen Institutionen des Landes entsprechen, sichergestellt werden mußten, auf daß ich in das Netz, das er für mich vorbereitet hielt, verstrickt würde?«
 
Mr. Micawbers Freude über seinen Briefstil schien jeden Schmerz oder jede Besorgnis, die die Wirklichkeit ihm hätte verursachen können, aufzuwiegen. Er las weiter:
 
»Jetzt fing dieser – Heep da – an, mich soweit ins Vertrauen zu ziehen, als er es für nötig hielt, um seine teuflischen Geschäftsgebarungen auf mich abzuladen. Jetzt fing ich an, um in der Sprache Shakespeares zu reden, zu ›schwinden, zu kranken und zu siechen‹. Ich fand heraus, daß meine Unterstützung stets zur Täuschung und Hintergehung einer Person, die ich kurz als Mr. W. bezeichnen will, herangezogen wurde. Mr. W. wurde in jeder Weise betrogen, hintergangen und getäuscht, während der Schurke – Heep – immerwährend unbegrenzte Dankbarkeit und Freundschaft gegen diesen Gentleman heuchelte. Das war schlimm genug, aber wie der philosophische Däne, der die berühmte Zier des Elisabethschen Zeitalters bildet, sagt: Schlimmeres kommt noch!«
 
Der schöne Satzschluß mit einem Zitat gefiel Mr. Micawber derart, daß er sich den Genuß nicht versagen konnte, unter dem Vorwand, aus dem Zusammenhang gekommen zu sein, den ganzen Satz noch einmal vorzulesen.
 
»Es liegt nicht in meiner Absicht, hier in diesem Brief in die Einzelheiten, zumal sie anderweitig schriftlich niedergelegt sind, der verschiednen Niederträchtigkeiten nebensächlicherer Art einzugehen, die die von mir Mr. W. benannte Person benachteiligen sollten und denen ich stillschweigend zugesehen habe. Als der Kampf in mir zwischen Gehalt und keinem Gehalt, zwischen Bäcker und keinem Bäcker, zwischen Existenz und Nichtexistenz zum Stillstande kam, beschloß ich, die sich mir bietenden Gelegenheiten zu benützen und die hauptsächlichsten Niederträchtigkeiten, die dieser – Heep da zum größten Schaden und Nachteil des genannten Gentleman begangen, aufzudecken.
Angestachelt von dem stummen Mahner in der Brust und von dem Anblick einer nicht weniger rührenden und eindringlichen Mahnerin in der Außenwelt – die ich kurz als Miss W. bezeichnen will –, begann ich eine nicht mühelose Arbeit heimlicher Nachforschung, die ich nach bestem Wissen und Gewissen auf die Dauer von zwölf Kalendermonaten veranschlage.«
 
Er las diese Stelle, als ob sie aus einem Parlamentsakte stammte, und schien sich am Klang der Worte förmlich zu laben.
 
»Meine Anklagen gegen diesen – Heep da«, las er weiter und zog das Lineal mit einem Blick auf Uriah ein wenig unter dem linken Arm hervor, um es nötigenfalls gleich bei der Hand zu haben, »sind folgende:«
 
Ich glaube, wir hielten alle den Atem an. Uriah wenigstens tat es bestimmt.
 
»Erstens verwirrte – dieser Heep da absichtlich alle Geschäfte, als Mr. W.s Fähigkeiten und Gedächtnis durch Ursachen, die hier nebensächlich sind, nachließen. Immer zu der Zeit, wenn Mr. W. am wenigsten imstande war, sich mit Geschäften abzugeben, da war dieser – Heep da immer bei der Hand, ihn zu Entschlüssen zu nötigen. Er überredete Mr. W. in solchen Zeitpunkten zur Unterschrift wichtiger Dokumente, wenn er ihn durch Unterschiebung einer Reihe nebensächlicher Geschäfte entsprechend verwirrt hatte. Er verleitete Mr. W. auf diese Weise, ein gewisses Depositum von zwölftausend sechshundertvierzehn Pfund zwei Schilling neun Pence anzugreifen und es zur Bezahlung angeblicher Geschäftskosten und Mankos zu verwenden, die entweder schon bezahlt oder niemals vorhanden gewesen waren. Er unterschob diesem Verfahren den Anschein, als habe es in einer unehrlichen Absicht Mr. W.s seinen Ursprung, und hat seitdem diese Angelegenheit unausgesetzt dazu mißbraucht, Mr. W. zu peinigen und in seiner Gewalt zu behalten.«
»Das sollen Sie mir beweisen, Copperfield«, rief Uriah und schüttelte drohend den Kopf. »Aber alles zu seiner Zeit!«
»Fragen Sie diesen – Heep da, Mr. Traddles, wer in seinem Haus nach ihm gewohnt hat«, sagte Mr. Micawber, von seinem Schreiben aufblickend; »wollen Sie so gut sein?«
»Niemand als der Narr selber, der jetzt noch dort wohnt«, fiel Uriah verächtlich ein.
»Fragen Sie diesen – Heep da, ob er in dieser Wohnung Privatnotizen geführt hat; wollen Sie so gut sein?«
Ich sah, wie Uriahs Knochenhand plötzlich aufhörte, das Kinn zu reiben.
»Oder fragen Sie ihn, Mr. Traddles, ob er sein Buch dort einmal verbrannt hat. Und wenn er Ja sagt und fragt, wie die Asche aussieht, so kann er sich an Wilkins Micawber wenden, wenn er etwas, was nicht zu seinem Vorteil gereicht, zu hören bekommen will.«
Der triumphierende Ton, in dem Mr. Micawber in diesen Worten schwelgte, versetzte die Mutter Heeps in größte Unruhe, und sie rief in größter Erregung:
»Ury, Ury, demütige dich und gib nach!«
»Mutter, willst du ruhig sein!« schrie Uriah. »Du weißt nicht, was du sagst. Demütigen!« wiederholte er und sah mich giftig an. »Ich habe mich Ihresgleichen lange genug demütigen müssen.«
Mr. Micawber schob mit vornehmer Miene sein Kinn in seine Halsbinde und fuhr fort:
 
»Zweitens. Heep hat bei verschiednen Gelegenheiten, soviel ich weiß und glaube –«
 
»Damit kommt er nicht durch«, murmelte Uriah erleichtert. »Mutter, sprich kein Wort!«
»Wir werden uns schon bemühen, dafür zu sorgen, daß wir mit Ihnen sehr bald fertig sein werden, werter Herr«, antwortete Mr. Micawber.
 
»Zweitens. – Heep hat bei verschiednen Gelegenheiten, soviel ich weiß und glaube, zu verschiednen Eintragungen, Buchauszügen und Dokumenten systematisch die Unterschrift Mr. W.s gefälscht und hat dies ganz bestimmt bei einer Gelegenheit getan, wie ich nachweisen kann. Nämlich in folgender Weise: Da Mr. W. kränklich war und es im Bereich der Wahrscheinlichkeit lag, daß sein Tod zu gewissen Entdeckungen und zum Sturze der Macht Heeps über die Familie W. führen konnte, wenn es nicht gelingen sollte, die Kindesliebe der Tochter Mr. W.s dahin auszunützen, daß von einer Prüfung der mit Associeangelegenheiten in Verbindung stehenden Papiere abgesehen werden sollte, so hielt es dieser – Heep da für angezeigt, sich eine scheinbar von Mr. W. ausgestellte Schuldverschreibung über 12614 £ 2 sh und 9 d nebst Zinsen zu verschaffen, welche Summe angeblich dieser Heep da Mr. W., um diesen vor Schande zu retten, vorgeschossen haben wollte, obgleich eigentlich gerade umgekehrt diese Summe Heep vorgeschossen worden und längst ersetzt war. Die Unterschriften zu diesem Dokument, angeblich geschrieben von Mr. W. und bezeugt von Wilkins Micawber, sind Fälschungen – Heeps. In meinem Besitze befinden sich verschiedne ähnliche Nachahmungsproben von Mr. W.s Unterschrift von Heeps Hand in dessen Notizbuch. Teilweise verkohlt, aber deutlich für jedermann lesbar. Ich habe nie ein solches Dokument als Zeuge unterschrieben, und das Dokument selbst befindet sich in meinem Besitz.«
 
Uriah Heep sprang auf, nahm einen Bund Schlüssel aus der Tasche und zog eine Schublade auf; besann sich aber plötzlich eines Bessern und wendete sich wieder gegen uns, ohne hineinzusehen.
»Und das Dokument ist in meinem Besitz«, las Mr. Micawber wieder und sah sich um wie ein Prediger; »oder richtiger gesagt, es war noch heute morgen in meinem Besitz, denn ich habe es inzwischen Mr. Traddles ausgehändigt.«
»Sehr richtig«, bestätigte Traddles.
»Ury, Ury!« rief die Mutter. »Demütige dich und gib nach! Ich weiß gewiß, mein Sohn wird sich demütigen, wenn Sie ihm Zeit zum Nachdenken lassen, meine Herrschaften! Mr. Copperfield, Sie wissen doch, wie demütig er immer war.«
Es war ein merkwürdiger Anblick, wie die Mutter immer noch an dem alten Trick festhielt, während der Sohn die Nutzlosigkeit längst eingesehen hatte.
»Mutter«, sagte er und biß ungeduldig in das Tuch, mit dem er seine Hand verbunden hatte, »eher kannst du eine geladene Flinte auf mich abfeuern.«
»Aber ich liebe dich, Ury!« rief Mrs. Heep. Ich zweifle gar nicht, daß sie ihn wirklich liebte, so seltsam das auch war. Sie glichen einander eben vollständig.
»Ich kann es nicht mit anhören, Ury, wenn du den Herrn reizest und deine Sache nur noch schlimmer machst. Als der Herr mir oben sagte, es sei alles an den Tag gekommen, da beteuerte ich ihm, du würdest dich demütigen und alles wiedergutmachen. Ach, sehen Sie doch, meine Herren, wie demütig ich bin, und hören Sie nicht auf meinen Sohn!«
»Sieh dort Copperfield, Mutter!« rief Uriah wütend und wies haßerfüllt mit dem Finger auf mich. »Copperfield dort hätte dir 100 £ gegeben für weniger, als du ausgeplaudert hast.«
»Ich kann nichts dafür, Ury«, jammerte die Mutter. »Ich kann es nicht mitansehen, daß du ins Verderben rennst, indem du den Kopf so hoch trägst! Sei demütig, wie du es immer warst!«
Uriah schwieg eine Weile, nagte an dem Taschentuch und sagte dann zu mir mit finsterem Gesicht:
»Was haben Sie sonst noch gegen mich vorzubringen? Nur weiter. Was glotzen Sie mich so an?«
Mr. Micawber, überglücklich, wieder fortfahren zu dürfen, las weiter.
 
»Drittens und letztens. Ich bin nun in der Lage, zu beweisen, und zwar durch Heeps wirkliche, das heißt natürlich gefälschte Bücher, die mit dem zum Teil verbrannten Notizbuch anfingen, – das ich früher zur Zeit seiner zufälligen Entdeckung durch Mrs. Micawber anläßlich unseres Einzugs in unsere gegenwärtige Wohnung in dem zur Aufnahme der auf unserm häuslichen Herde verbrannten Asche bestimmten Kasten nicht verstehen konnte –, ich bin also in der Lage, zu beweisen, daß die Schwächen, die Fehler, ja sogar die väterliche Liebe des unglücklichen Mr. W. jahrelang zu den Infamien dieses Heep mißbraucht worden sind. Jahrelang wurde Mr. W. in jeder nur möglichen Weise von dem heuchlerischen und habsüchtigen – Heep da hintergangen und ausgeplündert. Das Hauptziel dieses – Heep war, Mr. und Miss W. – von seinen letzten Absichten in bezug auf diese Dame ganz zu schweigen – völlig in seine Gewalt zu bekommen. Seine letzte erst vor wenigen Monaten vollbrachte Tat bestand darin, daß er Mr. W. zur Ausstellung einer Verzichtleistung auf seinen Anteil im Geschäft und sogar eines Verkaufskontraktes des Meublements des ganzen Hauses gegen ein gewisses Jahresgeld bewog, das – Heep – an den gesetzlichen Pauschaltagen richtig und getreulich auszuzahlen versprach. Dieses Netz, – das mit verfälschten Alarmnachrichten anfing über einen Landbesitz, den Mr. W. zu verwalten hatte, zu einer Zeit, wo Mr. W. sich in unvorsichtige und schlecht überlegte Spekulationen eingelassen und vielleicht wirklich das Geld, für das er moralisch und juristisch verantwortlich war, nicht mehr in der Kasse hatte, – wurde weiter gestrickt, indem angeblich Geld gegen ungeheure Zinsen aufgenommen wurde, während in Wirklichkeit die Summen von Heep kamen und von ihm Mr. W. betrügerischerweise entlockt oder vorenthalten worden waren. Das Netz wurde immer dichter und dichter, bis der unglückliche Mr. W. vollständig umstrickt war. Seinem Glauben nach bankrott an Vermögen und an Ehre, setzte er seine einzige Hoffnung auf dieses Ungeheuer da in der Gestalt eines Menschen. Alles dies verpflichte ich mich zu beweisen. Und voraussichtlich noch mehr.«
 
Ich flüsterte Agnes, die halb vor Freude, halb vor Kummer weinte, ein paar Worte zu, und die ganze Gruppe kam in Bewegung, annehmend, daß Mr. Micawber fertig sei. Er aber sagte mit tiefstem Ernst: »Verzeihen Sie« und fuhr mit einem Gemisch von Niedergeschlagenheit und Triumphgefühl über seinen Brief fort:
 
»Ich komme jetzt zum Schluß. Es bleibt mir nur noch übrig, meine Anklagen zu beweisen und dann mit meiner vom Verhängnis verfolgten Familie im Dunkel zu verschwinden. Das wird bald geschehen sein. Es dürfte kein Trugschluß sein, wenn ich sage, daß unser Säugling als erster seine Seele aushauchen wird, da er das schwächste Mitglied unseres Familienkreises ist, und daß die Zwillinge ihm zunächst folgen werden. Sei es an dem! An mir hat diese Pilgerfahrt nach Canterbury bereits genagt. Schuldgefängnis und die Not werden alles bald vollenden, und ich hoffe, daß die aufreibende Mühe und Gefahr einer Untersuchung – deren kleinstes Ergebnis langsam zusammengestellt wurde unter dem Druck angestrengtester Tätigkeit und der Geldverlegenheiten am frühen Morgen, am tauigen Abend, im Schatten der Nacht, unter dem wachsamen Auge eines Geschöpfs, das man nicht erst Dämon zu nennen braucht, – in Verbindung mit den Bemühungen, sie nach ihrer Beendigung in richtiger Weise anzuwenden, wie das Besprengen des zur Aufnahme eines Leichnams bestimmten Holzstoßes mit einigen Tropfen wohlriechenden Wassers sein wird. Mehr verlange ich nicht. Möge man von mir sagen wie von dem tapfern Seehelden, mit dem ich mich zu vergleichen mir nicht anmaßen darf, daß ich das, was ich getan habe, allen selbstischen und geldsüchtigen Motiven zum Trotz nur tat für ›Schönheit, Reich und Vaterland‹.
Ich verbleibe immer usw. usw.
Wilkins icawber«
Tief ergriffen, aber immer noch in seinem Triumphe schwelgend, faltete Mr. Micawber seinen Brief zusammen und überreichte ihn mit einer Verbeugung meiner Tante.
Wie ich schon bei meinem ersten Besuch als Kind bemerkt hatte, stand ein eiserner Geldschrank im Zimmer. Der Schlüssel stak im Schlosse.
Ein plötzlicher Verdacht durchzuckte Uriah, und mit einem raschen Blick auf Micawber riß er die Schranktür so heftig auf, daß sie klirrte. Die Kassa war leer.
»Wo sind die Bücher?« rief er mit entsetzter Miene. »Jemand hat die Bücher gestohlen!«
Mr. Micawber spielte mit dem Lineal:
»Ich war so frei! Als ich von Ihnen wie gewöhnlich die Schlüssel holte – nur ein wenig früher – und den Schrank heute morgen aufmachte, habe ich sie herausgenommen.«
»Seien Sie unbesorgt, Mr. Heep«, sagte Traddles. »Ich habe sie in Besitz genommen. Ich werde sie kraft der erwähnten Vollmacht aufbewahren.«
»Sie sind also ein Hehler gestohlenen Gutes?« schrie Uriah.
»Unter solchen Umständen ja«, gab ihm Traddles zur Antwort.
Wie groß war mein Erstaunen, als auf einmal meine Tante, die bis jetzt ganz ruhig und aufmerksam dagesessen hatte, auf Uriah Heep losstürzte und ihn mit beiden Händen am Kragen packte.
»Sie wissen, was ich will«, rief sie.
»Eine Zwangsjacke«, gurgelte Heep.
»Nein, mein Vermögen! Liebe Agnes, solang ich glaubte, dein Vater wäre an dem Verlust schuld, wollte ich auch nicht eine Silbe davon sagen, daß ich es hier deponiert hatte; nicht einmal Trot wußte davon. Aber jetzt, wo ich weiß, daß dieser Kerl dafür verantwortlich ist, will ich es wiederhaben! Trot, komm und nimm es ihm ab!«
Ob meine Tante in diesem Augenblick glaubte, daß er ihr Vermögen an seinem Leibe verborgen trüge, weiß ich nicht, aber jedenfalls zerrte sie ihn so derb am Kragen, daß es so aussah.
Ich beeilte mich die beiden zu trennen und ihr zu versichern, wir würden schon Sorge tragen, daß alles wieder rechtmäßig zurückerstattet werden sollte. Diese Versicherung und ein paar Minuten Nachdenken beruhigten sie, obschon sie ihren Angriff auf Uriah nicht im geringsten zu bereuen schien.
 
Die letzten paar Minuten hatte Mrs. Heep ununterbrochen ihren Sohn angefleht, sich zu demütigen, war vor uns allen der Reihe nach auf die Knie gefallen und hatte die ausschweifendsten Versprechungen gemacht. Uriah drückte sie in ihren Stuhl zurück und stand mit verbissenem Gesicht neben ihr und hielt sie am Arme fest. Mit einem haßerfüllten Blick sagte er zu mir:
»Was soll also geschehen?«
»Ich will Ihnen sagen, was geschehen muß«, mischte sich Traddles ein.
»Hat dieser Copperfield keine Zunge?« knirschte Uriah. »Ich würde viel darum geben, wenn mir einer sagen könnte, er hätte sie ihm ausgerissen.«
»Mein Ury wird sich demütigen!« beteuerte die Mutter. »Bitte, bitte, achten Sie nicht auf seine Worte, meine Herren!«
»Was zu geschehen hat«, fuhr Traddles fort, »ist folgendes. Erstens muß die eben erwähnte Verzichtleistungsurkunde mir augenblicklich übergeben werden.«
»Gesetzt den Fall, ich hätte keine bekommen«, unterbrach Uriah.
»Da Sie aber eine bekommen haben«, sagte Traddles, »brauchen wir nicht erst das Gegenteil anzunehmen.«
Ich ließ innerlich, vielleicht zum ersten Mal, dem klaren, gesunden Menschenverstande meines alten Schulkameraden wirklich Gerechtigkeit widerfahren.
»Ferner haben Sie alles herauszugeben, was Sie sich in Ihrer Habsucht bisher angeeignet haben, und zwar bis zum letzten Heller. Alle Bücher und Belege der Firma, sowie auch Ihre Privatbücher und Papiere, Rechnungen, Sicherstellungen, kurz alles, was hier ist, bleibt in unserm Gewahrsam.«
»So, muß ich das? Das weiß ich noch nicht«, sagte Uriah. »Ich muß erst Zeit haben, mir das zu überlegen.«
»Gewiß«, erwiderte Traddles, »aber unterdessen und bis alles zu unserer Zufriedenheit geordnet ist, bleiben wir im Besitz, und Sie – kurz und gut, Sie haben in Ihrem Zimmer zu bleiben und mit keinem Menschen zu verkehren.«
»Das will ich nicht!« schrie Uriah mit einem Fluch.
»Das Maidstone-Gefängnis ist allerdings sicherer«, bemerkte Traddles, »und wenn auch das gerichtliche Verfahren länger dauern und uns nicht so vollständig zu unserm Recht verhelfen kann, wie es wünschenswert wäre, so steht es doch außer Zweifel, daß Sie Zuchthaus bekommen. Mein Gott, Sie wissen das so gut wie ich! Copperfield, möchtest du nicht nach der Guildhall gehen und ein paar Polizeidiener holen?«
Mrs. Heep riß sich wieder von ihrem Sohne los, warf sich weinend vor Agnes auf die Knie und flehte sie an, sich für sie zu verwenden, beteuerte, daß ihr Sohn sich demütigen werde und daß alles wahr sei, und wenn er nicht täte, was wir wollten, so wollte sie es tun und noch viel mehr; kurz, sie war halb wahnsinnig vor Besorgnis um ihren Liebling.
Die Frage, was er hätte tun können, wenn er Mut besessen haben würde, ist überflüssig. Ebensogut hätte man fragen können, was wohl ein elender Köter getan hätte, wenn er die Seele eines Tigers gehabt haben würde.
Uriah war eine Memme von Kopf bis Fuß und verriet seine feige Natur durch Ingrimm und Verbissenheit wie nur je in seinem erbärmlichen Leben.
»Halt!« knurrte er mir zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und du, Mutter, schweig still. Also gut! Sie sollen das Dokument haben. Hol es herunter!«
»Bitte, helfen Sie ihr, Mr. Dick«, sagte Traddles, »wenn Sie so freundlich sein wollen.«
Stolz auf seinen Antrag, den er vollkommen begriff, ging Mr. Dick neben Mrs. Heep her wie ein Schäferhund neben einem Schaf. Sie gab ihm übrigens nicht die geringste Gelegenheit, sich einmengen zu müssen, und kehrte nicht nur mit dem Dokument, sondern auch mit dem Koffer zurück, in dem es gelegen, und worin wir außerdem noch ein Bankbuch und andere Papiere, die uns später gute Dienste leisteten, fanden.
»Gut«, sagte Traddles, als die Sachen in unserm Besitz waren. »Jetzt, Mr. Heep, können Sie in Ihr Zimmer gehen, um sich alles zu überlegen. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß es nur einen Weg für Sie gibt, und zwar den, den ich Ihnen vorgezeichnet habe, und der muß ohne Verzug eingeschlagen werden.«
Ohne die Augen zu erheben, schlich Uriah, die Hand am Kinn, nach der Tür, blieb dort einen Augenblick stehen und sagte:
»Copperfield, ich habe Sie immer gehaßt. Sie waren von jeher ein Glückspilz und immer mein Feind.«
»Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal gesagt«, gab ich zur Antwort, »daß Sie in Ihrer Gier und Verschlagenheit aller Welt entgegen gewesen sind. Vielleicht ist es gut für Sie, wenn Sie in Zukunft einsehen lernen, daß Gier und niedrige List in der Welt noch nicht mehr zuwege gebracht haben, als übers Ziel hinauszuschießen und sich selbst ein Bein zu stellen. Das ist sicher wie der Tod.«
»Oder so sicher, wie man uns in der Schule von neun bis elf lehrte, die Arbeit sei ein Fluch, und von elf bis eins, daß sie ein Segen, eine Freude und eine Ehre sei, und ich weiß nicht, was sonst noch, was?« sagte er mit einem höhnischen Grinsen. »Ihre Predigten sind gerade so konsequent wie diese. Mit Unterwürfigkeit kommt man nicht durch, sagen Sie? Anders hätte ich bei meinem Associe gewiß nichts durchgesetzt! Micawber, Sie alter Renommist, Ihnen werd ichs noch heimzahlen.«
Mr. Micawber sah ihn mit größter Verachtung an und blähte sich gewaltig auf, während Uriah zur Tür hinausschlich. Dann wendete er sich an mich, mit der Bitte, Zeuge seiner Aussöhnung mit Mrs. Micawber zu sein, und lud auch die übrige Gesellschaft ein, diesem rührenden Schauspiel beizuwohnen.
»Der Schleier, der lange zwischen mir und Mrs. Micawber gehangen hat, ist nun weggezogen«, sagte er, »und meine Kinder und der Urheber ihres Daseins können wieder auf gleicher Stufe miteinander verkehren.«
Da wir ihm alle sehr dankbar waren und es ihm zu zeigen wünschten, so gut unsere aufgeregte Stimmung dies erlauben wollte, wären wir gewiß alle gegangen, wenn nicht Agnes zu ihrem Vater hätte zurückkehren müssen, dessen Gesundheit zu zerrüttet war, als daß er mehr als das Aufdämmern neuer Hoffnung hätte ertragen können; außerdem mußte noch jemand zurückbleiben, um Uriah in sicherm Gewahrsam zu halten. So blieb denn Traddles ebenfalls, um später durch Mr. Dick abgelöst zu werden. Inzwischen gingen meine Tante, Mr. Dick und ich mit Mr. Micawber nach dessen Hause.
 
Als ich einen eiligen Abschied von Agnes nahm und an den Abgrund dachte, aus dem sie diesen Morgen gerettet worden, so mußte ich Gott preisen für die Not meiner Jugendjahre, die mich mit Mr. Micawber bekannt gemacht hatte.
Die Wohnung war nicht weit entfernt, und da die Haupttür unmittelbar in das Wohnzimmer führte und er mit der ihm eigentümlichen Hast hineinstürzte, befanden wir uns im Augenblick mitten im Kreis der Familie.
Mr. Micawber stürzte mit dem Ausruf: »Emma, mein Leben!« in die Arme seiner Gattin. Mrs. Micawber schrie auf und drückte ihn an ihre Brust. Miss Micawber, die den in Mrs. Micawbers letztem Brief erwähnten »bewußtlosen Neuling« auf den Armen wiegte, war sichtlich gerührt. Der Neuling begann zu strampeln. Die Zwillinge legten ihre Freude durch verschiedne unpassende, aber gutgemeinte Demonstrationen an den Tag. Master Micawber, durch frühzeitige Enttäuschungen offenbar verbittert und sehr mürrisch dreinsehend, gab seinen besseren Gefühlen nach und heulte.
»Emma!« sagte Mr. Micawber. »Die Wolke ist von meiner Seele genommen! Das alte Vertrauen zwischen uns ist wiederhergestellt und soll nie wieder aufhören. Jetzt willkommen, Armut!« rief er unter Tränen. »Willkommen, Not! Willkommen, Obdachlosigkeit! Willkommen, Lumpen, Hunger, Sturm und Betteln! Gegenseitiges Vertrauen wird uns bis zu Ende aufrechterhalten.«
Mit diesen Worten drückte er seine Frau in einen Stuhl und umarmte seine Sprößlinge der Reihe nach, wobei er eine Unzahl trostloser Zukunftsbilder willkommen hieß, die – meinem Urteil nach – ihnen nichts weniger als erwünscht zu sein schienen, und forderte sie auf, auf den Hauptplatz von Canterbury zu gehen und einen Chor anzustimmen, da dies von jetzt an ihre einzige Erwerbsquelle sein werde.
Aber da Mrs. Micawber, von ihren Gefühlen überwältigt, in Ohnmacht gefallen war, galt es, ehe der Chor als vollzählig betrachtet werden konnte, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Dies bewerkstelligten meine Tante und Mr. Micawber, und dann ließ sich meine Tante ihr vorstellen, und Mrs. Micawber erkannte mich.
»Entschuldigen Sie, lieber Mr. Copperfield«, sagte die arme Frau und reichte mir die Hand, »aber ich bin nicht stark, und die Beseitigung des Mißverständnisses zwischen Micawber und mir war im ersten Augenblick zu viel für mich.«
»Ist das Ihre ganze Familie, Maam?« fragte meine Tante.
»Vorderhand habe ich nicht mehr«, entschuldigte sich Mrs. Micawber.
»Gütiger Himmel, das meinte ich nicht«, sagte meine Tante. »Ich wollte fragen, ob das alles Ihre Kinder sind?«
»Maam«, nahm Mr. Micawber das Wort, »so ist es.«
»Und der älteste junge Gentleman da«, fragte meine Tante nachdrücklich, »was will er werden?«
»Ich trug mich bei meiner Hierherkunft mit der Hoffnung«, antwortete Mr. Micawber, »Wilkins in der Kirche unterzubringen, oder besser ausgedrückt, im Chor. Aber es war keine Stelle für einen Tenor in dem ehrwürdigen Baudenkmal, dessentwegen diese Stadt mit Recht so berühmt ist, vakant, und er hat – kurz, er singt lieber in Wirtshäusern als in Kirchen.«
»Aber er meint es gut!« sagte Mrs. Micawber zärtlich.
»Allerdings meint er es im allgemeinen gut«, entgegnete Mr. Micawber, »aber ich habe noch nicht gefunden, daß er seine gute Meinung in irgendeiner bestimmten Richtung betätigt hätte.«
Master Micawbers mürrische Miene kehrte sofort zurück, und er fragte temperamentvoll, was er denn eigentlich tun sollte. Ob er vielleicht als Zimmermann oder Rosselenker auf die Welt gekommen sei, ob er etwa in die nächste Straße gehen und eine Apotheke eröffnen könnte oder zum nächsten Gerichtshof laufen und sich als Advokat vorstellen? Ob er vielleicht durch einen Gewaltstreich zur Oper kommen und sich dort einen Erfolg sichern könnte? Ob er denn überhaupt irgend etwas tun könnte, ohne für das Geringste erzogen zu sein?
Meine Tante sann eine Weile nach und sagte dann:
»Mr. Micawber, es wundert mich, daß Sie nie ans Auswandern gedacht haben.«
»Maam«, gab Mr. Micawber zur Antwort, »es war der Traum meiner Jugend und der gescheiterte Plan meiner reifern Jahre.« (Nebenbei gesagt, ich meinesteils bin fest überzeugt, daß er niemals im Leben daran gedacht hatte.)
»So?« sagte meine Tante und warf mir einen Blick zu. »Nun, wie wäre es, wenn Sie, Mr. und Mrs. Micawber, samt Familie jetzt auswanderten?«
»Kapital, Kapital!« seufzte Mr. Micawber düster.
»Das ist die hauptsächlichste, ich möchte wohl sagen, einzige Schwierigkeit, mein lieber Mr. Copperfield«, stimmte seine Gattin bei.
»Kapital?« fragte meine Tante. »Sie haben uns doch einen so großen Dienst geleistet, denn zweifellos wird vieles wieder zum Vorschein kommen. Und was könnten wir Besseres für Sie tun, als Ihnen das Kapital verschaffen?«
»Ich würde es nicht als Geschenk annehmen«, rief Mr. Micawber, ganz Feuer und Flamme, »aber wenn ich eine genügende Summe, sagen wir zu fünf Prozent jährlich, geliehen bekommen könnte gegen persönliche Sicherheit, etwa meine Unterschrift, auf zwölf, achtzehn oder vierundzwanzig Monate, damit ich Zeit habe zu warten, bis sich etwas findet «
»Bekommen könnte? Sie sollen und werden sie bekommen«, entgegnete meine Tante. »Sie brauchen nur ein Wort zu sagen. Überlegen Sie sich jetzt beide die Sache. Ein paar Leute, die David kennt, schiffen sich in wenigen Tagen nach Australien ein. Wenn Sie sich zum Auswandern entschließen wollten, könnten Sie ja mit demselben Schiff fahren und einander beistehen. Überlegen Sie sich das jetzt, Mr. und Mrs. Micawber! Lassen Sie sich Zeit und erwägen Sie es reiflich.«
»Nur eine einzige Frage, meine liebe Maam, gestatten Sie mir«, fiel Mrs. Micawber ein. »Ist das Klima gesund?«
»Das beste Klima der Welt.«
»Sehr gut. Also meine Frage ist, sind die Zustände des Landes derart, daß ein Mann von Mr. Micawbers Fähigkeiten Aussicht hat, auf der Leiter der Gesellschaft eine höhere Stufe einzunehmen? Ich meine zurzeit damit nicht, daß er nach einer Gouverneurstelle oder nach etwas Ähnlichem streben würde, ? aber ist seinen Talenten Gelegenheit geboten, sich zu entwickeln?«
»Nirgends bieten sich bessere Gelegenheiten für einen Mann, der sich gut aufführt und fleißig ist«, versicherte ihr meine Tante.
»Für einen Mann, der sich gut aufführt und fleißig ist«, wiederholte Mrs. Micawber mit ihrer überlegensten Geschäftsmiene. »Ausgezeichnet! Es liegt auf der Hand, daß Australien der richtige Boden für Mr. Micawbers Tätigkeit ist.«
»Ich bin der Überzeugung, verehrteste Maam«, sagte Mr. Micawber, »daß es unter den gegebenen Verhältnissen das Land, ja, das einzige Land für mich und meine Familie ist, und daß sich an jenen fernen Küsten etwas ganz Außerordentliches finden wird. Es gibt keine Entfernung, abstrakt gesprochen, und obgleich wir Ihrem Vorschlage, uns die Sache zu überlegen, Rücksicht schulden, versichere ich Ihnen, daß wir das bloß als Formalität betrachten.«
 
Nie werde ich vergessen, wie er im Handumdrehen wieder der alte Sanguiniker war und voll Selbstvertrauen in die Zukunft blickte, und wie Mrs. Micawber sofort von den Gewohnheiten des Känguruhs zu erzählen begann! Nie wieder kann ich mir vorstellen, wie die Straße von Canterbury an einem Markttage aussieht, ohne daß mir Mr. Micawber nicht vor das Auge tritt, wie er uns begleitet und mit der Fremdlingsmiene eines nur für kurze Zeit nach England zurückgekehrten australischen Farmers die vorüberziehenden Ochsen mit Kennerblick mißt! 

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