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狄更斯德语小说:双城记-13 Sechstes Kapitel. Hunderte von Leuten.
日期:2017-07-12 13:24  点击:270
Die ruhige Wohnung des Doktors Manette befand sich an der Ecke einer stillen Straße, nicht weit von Soho-Square. An einem schönen Sonntagnachmittag – es waren bereits die Wellen von vier Monaten über den Hochverratsprozeß dahingegangen und hatten ihn, sofern das öffentliche Interesse und die Erinnerung daran in Frage kam, weit in die hohe See entführt – wanderte Mr. Jarvis Lorry von seiner Wohnung in Klerkenwall aus durch die sonnigen Straßen, um bei dem Doktor zu speisen. Nach mehreren Rückfällen ausschließlicher Vertiefung ins Geschäft war Mr. Lorry endlich des Doktors Freund geworden, und die stille Straßenecke bildete den sonnigen Teil seines Lebens.
An dem gedachten schönen Sonntag wanderte Mr. Lorry aus drei Gewohnheitsgründen früh am Nachmittag Soho zu: erstlich weil er gerne an schönen Sonntagen vor dem Diner mit dem Doktor und Lucie einen Spaziergang zu machen pflegte; zweitens weil er an unschönen Sonntagen daran gewöhnt war, als Hausfreund mit ihnen zu plaudern, zu lesen, zum Fenster hinauszuschauen und so in der Regel den ganzen Tag hinzubringen: und drittens, weil er zufällig einige eigene schlaue Zweifel zu lösen hatte und ihm bekannt war, daß er in der Weise, wie man im Hause des Doktors lebte, wahrscheinlich dort am ehesten Zeit für diese Lösung fand.
Ein niedlicheres Eckhaus als das, in dem der Doktor wohnte, gab es in ganz London nicht. Es ging kein Weg da durch, und die Vorderfenster von des Doktors Wohnung beherrschten eine angenehme kleine Aussicht auf eine Straße, die so recht gemütlich abgeschieden aussah. Nördlich von dem Oxforder Wege standen damals noch nicht viele Häuser, und auf den jetzt verschwundenen Feldern sah man Waldbäume sich erheben, wilde Blumen aufschießen und den Weißdorn blühen. Eine Folge davon war, daß in Soho die Landluft in kräftigender Freiheit sich umtrieb und nicht in das Kirchspiel hineinschlich wie verirrte obdachlose Arme. Auch sah man manche südlich gelegene Mauer, an deren Spalieren zur geeigneten Jahreszeit Pfirsiche hingen.
In der früheren Tageszeit hatte die Ecke eine prächtige Sommerbeleuchtung, aber wenn die Straßen heiß wurden, trat sie in den Schatten, doch nicht so sehr, daß man nicht darüber hinaus in ein Lichtmeer hätte schauen können. Es war ein kühles Plätzchen, gesetzt, aber doch zugleich heiter, ein wundervoller Platz für Widerhalle und ein wahrer Sicherheitshafen gegen die tobenden Wogen in den Straßen.
An einem solchen Ankerplatz konnte man mit Recht eine ruhige Barke erwarten, und sie war auch vorhanden. Der Doktor bewohnte zwei Stockwerke eines großen stillen Hauses, in dem den Tag über angeblich mehrere Berufsarten verfolgt wurden, obschon man nur wenig davon hörte, und nachts alles ausgeflogen zu sein schien. In einem Gebäude an der Hinterseite, zu dem man über einen Hof mußte, wo die grünen Blätter einer Platane im Wind rauschten, wurde, wie es den Anschein hatte, Kirchenorgelbau betrieben und Silberschmelz gefertigt, ferner Gold geschlagen von einem geheimnisvollen Riesen, der mit einem goldenen Arme durch die Vordermauer durchgefahren war, als habe er sich selbst so kostbar zerklopft und drohe allen Besuchern mit einer ähnlichen Umwandlung. Doch sah oder hörte man nur wenig von diesen Gewerben, ebensowenig wie von dem einsamen Mietsmann, der eine Treppe hoch wohnte, oder von dem blödsichtigen Kutschenstaffierer, der unten sein Kontor haben sollte. Hin und wieder legte wohl ein einzelner Arbeiter seinen Rock an und kam durch die Halle, sah sich zufälligerweise ein Fremder darin um, vernahm man über den Hof herüber ein fernes Klimpern oder hörte man einen Puff des goldenen Riesen. Dies waren jedoch nur Ausnahmen, die zur Bestätigung der Regel dienten, daß auf der Platane hinter dem Haus das Volk der Sperlinge und an der Ecke vor demselben das Echo unbestrittene Herrschaft übte, vom Sonntagmorgen an bis zum Samstagabend.
Doktor Manette empfing hier die Patienten, die ihm sein alter Ruf oder die Wiederbelebung desselben durch die umlaufenden Gerüchte über seine Schicksale zuführte. Sein Wissen, seine Aufmerksamkeit und sein Geschick in Durchführung sinnreicher Versuche führte ihm auch in anderer Beziehung einige Kundschaft zu, so daß er bald verdiente, was er brauchte.
Von alledem hatte Mr. Jarvis Lorry Kunde, und seine Gedanken waren eben damit beschäftigt, als er an dem schönen Sonntagnachmittag die Klingel vor der Tür des stillen Eckhauses anzog.
»Doktor Manette zu Hause?«
Wurde zurückerwartet.
»Miß Proß zu Hause?«
Möglich; doch wußte das Stubenmädchen nicht im voraus, ob Miß Proß den Tatbestand zuzugeben oder abzuleugnen geneigt war.
»Ich bin selbst hier zu Haus und werde hinaufgehen«, sagte Mr. Lorry.
Obschon die Tochter des Doktors nichts von ihrem Geburtslande gesehen hatte, schien doch das Geschick, aus wenigem viel zu machen – ein ebenso angenehmer wie nützlicher Zug im Charakter der Französinnen – mit der Luft ihr angeflogen zu sein. Das Möbelwerk wurde bei all seiner Einfachheit sehr gehoben durch unterschiedliche kleine Verzierungen, die nur durch die geschmackvolle Anordnung Wert erhielten und einen recht angenehmen Eindruck machten. Die Aufstellung der Gegenstände in den Zimmern, vom größten an bis zum kleinsten, die Verteilung der Farben und die zierliche Abwechslung, die eine geschickte Hand, ein klares Auge und ein feiner Sinn durch den Gegensatz selbst mit Kleinigkeiten zu erzielen gewußt hatten, wirkten so gewinnend und verdankten dem Geist der Ordnerin ein so eigentümliches Gepräge, daß sogar die Stühle und die Tische unsern Freund Lorry, wie er umherschauend dastand, mit einem Anflug von jenem ihm mit der Zeit so geläufig gewordenen Gesichtsausdruck zu fragen schienen, wie es ihm hier gefalle.
Es waren drei ineinandergehende Zimmer auf dem Boden, und ihre Türen standen offen, damit die Luft frei durchstreichen konnte. Mr. Lorry trat von dem einen ins andere und machte sich lächelnd Gedanken über die Ähnlichkeit, die er in allem um ihn her mit Miß Manette zu finden glaubte. Das erste Zimmer war das beste; in ihm befanden sich Luciens Vögel, ihre Blumen und Bücher, ihr Schreibpult und Arbeitstisch und ein Kistchen mit Wasserfarben. Das zweite diente dem Doktor als Ordinationszimmer und wurde außerdem zum Speisen benutzt. In dem dritten, in welches die rauschende Platane ihre zitternden Schatten warf, stand das Bett des Doktors, und dort in einer Ecke die nicht mehr gebrauchte Schuhmacherbank mit dem Handwerkszeug, gerade so wie wir sie im fünften Stock jenes unheimlichen Hauses neben dem Weinschank in der Vorstadt Saint Antoine zu Paris gesehen haben.
»Es wundert mich«, sagte Mr. Lorry, davor stehenbleibend, »daß er diesen Mahner an seine Leiden beibehält.«
»Was ist da zu verwundern?« lautete eine Frage, die so plötzlich sein Ohr traf, daß er darob zusammenfuhr.
Sie ging von Miß Proß aus, der wildaussehenden und selbst bis auf die Haare roten Weibsperson mit der kräftigen Hand, deren Bekanntschaft er ursprünglich zu Dover im Hotel König Georg gemacht und seitdem weiter ausgebildet hatte.
»Ich meinte«, begann Mr. Lorry.
»Pah, wer wird meinen«, unterbrach ihn Miß Proß, und Mr. Lorry enthielt sich einer weiteren Kundgebung.
»Wie geht's Euch?« fragte sodann die Dame in einem scharfen Tone, zugleich aber mit einem Beiklang, der andeutete, daß sie keinen Groll gegen ihn hege.
»Ziemlich gut; ich danke Euch«, antwortete Mr. Lorry bescheiden. »Und wie befindet Ihr Euch?«
»Kann's nicht rühmen«, versetzte Miß Proß.
»Wirklich?«
»Jawohl!« erwiderte Miß Proß. »Ich bin sehr in Not wegen meinem Täubchen.«
»Wirklich?«
»Um's Himmels willen, sagt doch einmal etwas anderes als 'wirklich', oder Ihr bringt mich damit unter den Boden«, entgegnete Miß Proß kurz angebunden.
»In der Tat also?« sagte Mr. Lorry, um seine Sache besser zu machen.
»In der Tat ist schlimm genug, aber ich will mir's gefallen lassen«, versetzte Miß Proß. »Ja, ich bin sehr bekümmert.«
»Darf ich um den Grund fragen?«
»Ich brauche nicht die Dutzende von Leuten hier, die meines Täubchens gar nicht würdig sind, aber gleichwohl herkommen, um nach ihm zu sehen«, sagte Miß Proß.
»Finden sich denn so viele in dieser Absicht ein?«
»Hunderte«, sagte Miß Proß.
Die Dame hatte die Eigenheit, der man auch sonst häufig genug begegnet, daß sie eine ursprüngliche Behauptung, wenn man sie in Zweifel zog, erst recht übertrieb.
»Du mein Himmel!« rief Mr. Lorry, der nichts Besseres darauf zu erwidern wußte.
»Ich lebte von ihrem zehnten Jahre an bei dem Herzblättchen – oder vielmehr, das Herzblättchen hat so lang bei mir gelebt und mich dafür bezahlt, was sie sicherlich – Ihr könnt einen Eid darauf ablegen – nun und nimmermehr hätte tun sollen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, sie und mich auch so fortzubringen. Und das ist in der Tat sehr hart«, sagte Miß Proß.
Mr. Lorry, der nicht recht darüber ins klare kommen konnte, was sehr hart war, schüttelte den Kopf, indem er sich dieses wichtigen Teils seines Ichs sozusagen als eines Feenmantels bediente, der überall paßte.
»Stets tauchen Leute aller Art auf, die meines Täubchens durchaus nicht würdig sind«, sagte Miß Proß. »Als Ihr damit anfingt–«
»Ich hätte damit angefangen, Miß Proß?«
»Etwa nicht? Wer hat denn ihren Vater wieder unter die Lebendigen gebracht?«
»Oh! Wenn dies der Anfang ist –« sagte Mr. Lorry.
»Es war doch nicht das Ende, schätz' ich. Ich sage, als Ihr damit anfingt, war es schon hart genug. Nicht daß ich etwas anderes gegen ihn auszusetzen hätte, als daß er eine solche Tochter nicht verdient, und dies ist keine üble Nachrede, denn es stand nicht zu erwarten, daß irgendein Mensch wert sein konnte, ihr Vater zu heißen. Aber zwei- und dreimal hart ist's, daß nach ihm, dem ich noch hätte vergeben können, ganze Schwärme von Leuten hierherkamen, um mir die Liebe meines Täubchens zu entziehen.«
Mr. Lorry wußte, daß Miß Proß sehr eifersüchtig war, hatte aber auch unter der rauhen Oberfläche eines von jenen uneigennützigen Geschöpfen kennengelernt, die man nur bei dem Frauengeschlecht findet, und die sich freiwillig aus lauterer Anhänglichkeit und Liebe sklavisch fesseln an die Jugend, die für sie entschwunden ist, an die Schönheit, die sie nie besaßen, an Vollkommenheiten, die zu erringen sie nie so glücklich waren, und an glänzende Hoffnungen, die nie den düstern Pfad ihres eigenen Lebens erhellten. Er kannte die Welt hinreichend, um zu wissen, daß nichts über den treuen Dienst des Herzens geht, und da ihm derselbe hier so rein und fleckenlos entgegentrat, so zollte er ihm auch eine so hohe Verehrung, daß er in der Vergeltungsstufenleiter, die er in seinem Innern sich ausdachte – wir alle entwerfen uns solche Skalen –, Miß Proß den niederen Engeln viel näher stellte als viele durch Natur und Kunst unendlich mehr begünstigte Damen, die ein Konto bei Tellsons hatten.
»Es hat nur einen einzigen Mann gegeben, und außer ihm gibt's keinen mehr, der meines Täubchens würdig gewesen wäre«, sagte Miß Proß; »ich meine damit meinen Bruder Salomon und beklage nur, daß ihm ein Unglück passiert ist.«
Auch in diesem Punkt hatte Mr. Lorry durch Erkundigungen über Miß Proß' persönliche Geschichte die Tatsache ermittelt, daß ihr Bruder Salomon ein herzloser Wicht war, der sie durch törichte Spekulationen um ihr ganzes Vermögen gebracht und ohne Gewissensbisse für immer der Armut preisgegeben hatte. Der treue Glaube der Miß Proß an Salomon aber, der nur durch das kleine Ungeschick einen leichten Abtrag erlitten, erschien in Mr. Lorrys Augen als ein ernster Umstand und trug nicht wenig dazu bei, seine gute Meinung von ihr zu erhöhen.
»Da wir im Augenblick allein und beide Geschäftsleute sind«, sagte er, als sie in das erste Zimmer zurückgekehrt waren und sich freundschaftlich einander gegenübergesetzt hatten, »so erlaubt Ihr mir wohl eine Frage: kommt der Doktor, wenn er mit Lucie spricht, nie auf die Zeit seiner Schuhmacherei zu reden?«
»Nie!«
»Und doch behält er jene Bank und das Handwerkszeug bei sich?«
»Ja«, entgegnete Miß Proß, den Kopf schüttelnd: »aber aus seinem Schweigen folgt noch nicht, daß er sich nicht in Gedanken damit zu schaffen macht.«
»Glaubt Ihr, daß er oft daran zurückdenkt?«
»Ja«, sagte Miß Proß.
»Und bildet Ihr Euch ein –« begann Mr. Lorry aufs neue, wurde aber hastig von Miß Proß unterbrochen. »Ich bilde mir nie etwas ein – habe keine Einbildungskraft.« »Ich lasse mich zurechtweisen. Vermutet Ihr –so weit kommt's doch hin und wieder bei Euch, daß Ihr vermutet?«
»Bisweilen«, sagte Miß Proß.
»Vermutet Ihr also«, fuhr Mr. Lorry mit einem heitern Zwinkern seines hellen Auges fort, wahrend er sie zugleich freundlich ansah, »daß Doktor Manette aus dieser langen Zeit sich die Erinnerung an die Ursache seiner Unterdrückung bewahrt oder wohl gar den Namen seines Bedrückers behalten hat?«
»Ich vermute hierüber nichts, als was mir mein Täubchen sagt.«
»Das wäre?«
»Sie glaubt, daß dies wirklich der Fall ist.«
»Seid nicht ungehalten, daß ich alle diese Fragen an Euch richte, denn ich bin nur ein einfältiger Geschäftsmann, und Ihr seid eine Geschäftsfrau.«
»Auch einfältig?« fragte Miß Proß heiter.
Mr. Lorry, der gern das bescheidene Beiwort weggewünscht hätte, entgegnete:
»Nein, nein: gewiß nicht. Um auf die Sache zurückzukommen – ist es nicht merkwürdig, daß Doktor Manette, von dem wir alle vollkommen überzeugt sind, daß er kein Verbrechen begangen haben kann, nie auf diesen Punkt eingeht? Ich will nicht sagen, gegen mich, obschon er viele Jahre vorher zu mir in Geschäftsbeziehung stand und wir jetzt sehr vertraut miteinander sind, sondern gegen seine schöne Tochter, die er so innig liebt und die auch ihm so innig zugetan ist? Glaubt mir, Miß Proß, ich habe diesen Gegenstand nicht aus Neugierde, sondern aus eifriger Teilnahme in Anregung gebracht.«
»Wohlan«, sagte Miß Proß, durch den Ton besänftigt, in dem diese Verwahrung vorgebracht wurde, »er fürchtet sich vor der ganzen Sache.«
»Er fürchtet sich?«
»Der Grund davon ist einfach genug, sollt' ich denken«, sagte Miß Proß. »Es ist eine schreckliche Erinnerung, und außerdem ging der Verlust seiner selbst daraus hervor. Da er nicht weiß, wie er seinen Verstand verlor und wie er wieder zu sich kam, so mag er wohl in Angst leben, er könnte wieder irre werden. Schon dieser Umstand, denk' ich, könnte ausreichen, um die Sache zu einer gar nicht angenehmen zu machen.«
Mr. Lorry hatte keine so tiefe Bemerkung erwartet.
»Ihr habt recht«, sagte er, »es ist ein schrecklicher Gedanke. Doch bin ich ein wenig zweifelhaft, Miß Proß, ob es für Doktor Manette auch gut sei, daß er ihn so in sich verschlossen trägt. Und wirklich ist das Bedenken und die Unruhe, die dieser Umstand bisweilen in mir erregt, der Anlaß zu unserm gegenwärtigen vertraulichen Gespräch.«
»Das läßt sich nicht ändern«, sagte Miß Proß mit Kopfschütteln. »Wenn man diese Saite berührt, so hört man nichts als Mißklang, und es ist am besten, man läßt ihn gehen; mit einem Wort, das muß man tun, mag man wollen oder nicht. Bisweilen steht er mitten in der Nacht auf, und wir hören dann, wie er über unsern Häuptern in seinem Zimmer auf und ab, auf und ab geht. Mein Täubchen hat herausgebracht, daß dann sein Geist in dem alten Gefängnis umherwandelt. Sie eilt zu ihm hinauf, und sie gehen dann miteinander auf und ab, auf und ab, bis er ruhig geworden ist. Aber er läßt nie ein Wort über die wahre Ursache gegen sie fallen, und sie findet es als das beste, wenn sie nichts davon gegen ihn berührt. So wandeln sie denn schweigend im Zimmer auf und ab, auf und ab, bis ihre Liebe und ihre Gesellschaft ihn wieder zu sich gebracht hat.«
Miß Proß hatte zwar geleugnet, daß sie Einbildungskraft besitze; doch lag in der Wiederholung der Phrase »auf und ab« eine Auffassung der Pein, eintönig stets von demselben traurigen Gedanken verfolgt zu werden, die bewies, daß doch etwas von diesem Vermögen in ihr lebte.
Wie bereits bemerkt wurde, war die Ecke wegen ihres Widerhalls merkwürdig: er hatte eben jetzt den Tritt kommender Füße so volltönig eingeführt, daß es den Anschein gewann, als seien sie durch die bloße Erwähnung des Aufundabwandelns in Bewegung gesetzt worden.
»Da sind sie!« sagte Miß Proß, indem sie aufstand, um die Unterhaltung abzubrechen, »und nun werden wir gar bald Hunderte von Leuten hier haben.«
Die Ecke hatte so besondere akustische Eigentümlichkeiten, war sozusagen das leibhaftige Ohr eines Platzes, daß Mr. Lorry, als er an dem offenen Fenster stand und nach dem Vater und der Tochter aussah, deren Schritte er bereits hörte, sich einbildete, sie würden gar nie kommen. Nicht nur erstarb das Echo, als seine Tritte vorüber, sondern man hörte auch statt ihrer den Widerhall anderer Tritte, die nie kamen und die plötzlich verstummten, wenn man sie in unmittelbarster Nähe zu haben meinte. Gleichwohl kamen Vater und Tochter endlich doch, und Miß Proß stand an der Haustür bereit, um sie zu empfangen.
Trotz ihres abenteuerlichen roten Äußeren bot doch Miß Proß einen erquicklichen Anblick, als sie ihrem die Treppe heraufsteigenden Liebling den Hut abnahm, mit den Zipfeln ihres Taschentuchs darüber hinstrich, den Staub abblies, den Mantel in die zum Ablegen gerechten Falten brachte und ihr das reiche Haar mit soviel Stolz glättete, wie es nur die schönste und eitelste der Frauen mit ihrem eigenen tun konnte. Auch ihr Liebling bot einen erfreulichen Anblick, indem er die treue Pflegerin umarmte, ihr dankte und durchaus nicht haben wollte, daß man sich um ihretwillen so viel Mühe gebe – letzteres natürlich nur im Scherz, da sonst Miß Proß sich ernstlich beleidigt gefühlt hätte und in ihr Zimmer zurückgegangen wäre, um zu weinen. Nicht minder bot der Doktor einen wohltuenden Anblick, als er Miß Proß erklärte, daß sie Lucie verwöhne, aber in den Ton, mit dem er dies sagte, und in die Blicke, mit denen er die beiden betrachtete, ebensoviel Verhätschelndes legte wie Miß Proß, wenn sie sich Mühe gab. Und endlich war auch Mr. Lorry lieblich anzusehen, wie er unter seiner kleinen Perücke all dies strahlend beobachtete und seinen Junggesellensternen dankte, daß sie ihm am Abend seines Lebens nach einer Heimat geleuchtet hatten. Aber es kamen keine Hunderte von Leuten, um sich dieses Anblicks zu erfreuen, und Miß Lorry sah sich vergeblich um, wann einmal diese Prophezeiung der Miß Proß in Erfüllung gehen würde.
Dinerzeit, und noch keine Hunderte von Leuten.
Zur Führung des kleinen Haushalts verwaltete Miß Proß die unteren Regionen und benahm sich dabei stets außerordentlich gut. Ihre Diners waren zwar sehr bescheiden in Qualität, aber trefflich gekocht und in ihrer halb englischen, halb französischen Anordnung so zierlich und appetitlich serviert, daß man sich's nicht besser wünschen konnte. Miß Proß, die sich in ihrer Freundschaft durchaus praktisch erwies, hatte nämlich Soho und seine ganze Umgegend durchstöbert, bis es ihr gelungen war, einen oder den andern verarmten Franzosen aufzufinden, den sie durch Schillinge und Halbkronen verführte, sie in die Geheimnisse der französischen Küche einzuweihen. Von diesen heruntergekommenen Söhnen und Töchtern Galliens hatte sie sich so wunderbare Kunststücke angeeignet, daß die Magd und die Ausläuferin, die den Stab des Hausgesindes bildeten, sie für eine Zauberin oder gar für Aschenbrödels Patin ansahen, die sich ein Huhn, ein Kaninchen oder ein paar Sorten Gemüse aus dem Garten holen lassen durfte, um sie in alles Beliebige umzuwandeln.
An den Sonntagen speiste Miß Proß mit am Tische des Doktors, an Werktagen aber ließ sie sich's nicht nehmen, ihre Mahlzeiten zu unbekannten Stunden entweder in den unteren Regionen oder auf ihrem im zweiten Stock gelegenen Stübchen (ein blautapeziertes Gelaß, zu dem niemand als das Täubchen Zutritt hatte) zu versorgen. Bei dem gegenwärtigen Anlaß verlief auch das Diner gar gemütlich und im Einklang mit Täubchens lieblichem Gesicht und dessen lieblichem Bemühen, Miß Proß zu gefallen, die darob ganz strahlend wurde.
Es war ein schwüler Tag, und Lucie machte deshalb nach dem Essen den Vorschlag, den Wein draußen in freier Luft unter der Platane zu genießen. Da sich nun alles nach ihr richtete und um sie drehte, so begab man sich nach der Platane hinunter, und sie selbst trug Mr. Lorry die Flasche nach. Sie hatte sich nämlich schon vor einiger Zeit zu Mr. Lorrys Mundschenk ernannt, und während man unter der Platane plauderte, sorgte sie dafür, daß sein Glas nicht leer wurde.
Dennoch wollten die Hunderte von Leuten noch immer nicht kommen. Während sie unter der Platane saßen, stellte sich zwar Mr. Darnay ein; aber das war nur einer.
Doktor Manette empfing ihn freundlich, und Lucie tat desgleichen; Miß Proß dagegen wurde plötzlich von einem Reißen im Kopf und im Leibe befallen und kehrte in das Haus zurück. Sie war diesem Übel nicht selten ausgesetzt und bezeichnete es in der vertraulichen Unterhaltung als »ihre Umstände«.
Der Doktor war in seiner besten Stimmung und sah ganz besonders jugendlich aus. In solchen Zeiten fiel die Ähnlichkeit zwischen ihm und ihr namentlich in die Augen, und es gewährte einen Genuß, sie bis in die einzelnen Züge zu verfolgen, während beide nebeneinander saßen, sie an seine Schulter gelehnt und er den Arm auf die Lehne seines Stuhles stützend.
Er hatte den ganzen Tag über viele Gegenstände mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit gesprochen.
»Erlaubt mir die Frage, Doktor Manette«, sagte Mr. Darnay, während sie unter der Platane saßen, in natürlicher Anknüpfung an das eben behandelte Gesprächsthema, das sich um die alten Gebäude von London drehte, »ob Sie viel von dem Tower gesehen haben?«
»Ich bin mit Lurie schon dort gewesen, aber nur gelegentlich. Wir haben soviel davon gesehen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß er reich an Interesse ist, weiter nicht.«
»Auch ich war dort, wie Sie sich erinnern werden«, versetzte Darnay mit einem Lächeln, obschon zugleich ein unmutiges Rot leicht über sein Antlitz glitt, »freilich in einer Eigenschaft, die mir keine Gelegenheit gab, viele Wahrnehmungen zu machen. Indes wurde mir während meines dortigen Aufenthalts eine merkwürdige Geschichte erzählt.«
»Und die war?« fragte Lucie.
»Bei Gelegenheit vorzunehmender Veränderungen stießen die Werkleute auf einen alten Kerker, der vor vielen Jahren gebaut und vergessen worden war. In seinem Innern konnte man auf jedem Mauerstein von den Gefangenen eingegrabene Inschriften lesen – Daten, Namen, Klagen und Gebete. Auf einen Eckstein in einem Mauerwinkel hatte ein Gefangener, der wahrscheinlich hingerichtet wurde, als letzte Arbeit drei Buchstaben eingeritzt. Der Ausführung sah man die Flüchtigkeit, die unstete Hand und das dürftige Werkzeug an. Anfangs hatte man gelesen: D. I. C.; bei sorgfältigerer Untersuchung aber erkannte man in dem letzten Buchstaben ein G. Da man von einem Gefangenen, dessen Namen diese Anfangsbuchstaben hatte, nichts wußte, so erschöpfte man sich in allerlei Mutmaßungen, bis endlich jemand auf die Ansicht kam, daß man hier keine Initialen, sondern das Wort Dig (grabe) vor sich habe. Sofort wurde der Boden unter der Inschrift bedächtig untersucht, und man fand richtig unter einem Stein, einem Ziegel oder einem Pflasterbruchstück die Asche von Papier, gemischt mit der eines kleinen Lederfutterals oder eines Beutels. Was der Gefangene geschrieben, wird nie mehr ans Licht kommen; aber geschrieben hatte er etwas und es versteckt, damit es von seinem Schließer nicht aufgefunden würde.«
»Mein Vater!« rief Lucie, »Du bist unwohl!«
Er war plötzlich aufgefahren und hatte die Hand an seinen Kopf gelegt. Sein Blick und sein ganzes Wesen beunruhigte sie alle.
»Nein, mein Kind, nicht unwohl. Es sind große Regentropfen gefallen, und sie haben mich erschreckt. Laßt uns lieber hineingehen.«
illustration
Er hatte sich schnell wieder gefaßt. Der Regen fiel wirklich in großen Tropfen, und er zeigte sie auf der Rückenfläche seiner Hand. Über die Entdeckung aber, von der die Rede gewesen, verlor er kein Wort, und während sie ins Haus hineingingen, machte Mr. Lorry geschäftsmäßiges Auge die Wahrnehmung, oder glaubte wenigstens sie gemacht zu haben, daß auf dem Gesicht des Doktors, als er sich gegen Charles Darnay hinwandte, jener eigentümliche Ausdruck zu bemerken war, mit dem er in den Gängen des Gerichtshauses nach ihm hingesehen hatte.
Dies war jedoch nur so flüchtig gewesen, daß Mr. Lorry die Verläßlichkeit seines Geschäftsauges fast bezweifelte. Der Arm des goldenen Riesen in der Halle erschien nicht ruhiger als der Doktor, der, während er unter demselben haltmachte, die Bemerkung hinwarf, daß er gegen kleine Erschütterungen noch nicht gehörig gestählt sei, vielleicht es auch nie werde, und der Regen habe ihn wirklich erschreckt.
Teezeit. Miß Proß bereitete den Tee unter einer abermaligen Wiederkehr ihrer Umstände; aber noch immer keine Hunderte von Leuten. Mr. Carton hatte sich eingefunden; doch machte er erst zwei.
Der Abend war so übermäßig schwül, daß sie vor Hitze fast verschmachteten, obschon die Türen und Fenster offen standen. Nachdem der Teetisch abgeräumt war, traten sie an eines der Fenster und schauten in die düstere Dämmerung hinaus, Lucie saß neben ihrem Vater, Darnay neben Lucie, und Carton lehnte sich auf den Sims. Die Vorhänge waren lang und weiß, und einige von den Windstößen, die in die Ecke hereinwirbelten, hatten sie an die Decke hinaufgerissen, daß sie wehten wie Gespensterflügel.
»Noch immer fallen die Tropfen spärlich, groß und schwer«, sagte Doktor Manette. »Es kommt langsam.«
»Aber sicher«, bemerkte Carton.
Sie sprachen leise, wie wartende Leute gewöhnlich zu tun pflegen, namentlich wenn sie in einem dunklen Zimmer sitzen und des Blitzstrahls harren.
In den Straßen wurde es sehr rührig, und Leute eilten, um sich vor dem Losbrechen des Gewitters ein Unterkommen zu suchen. Die durch ihren Widerhall so merkwürdige Ecke führte wohl das Echo von kommenden und gehenden Fußtritten her, aber keine Fußtritte.
»Eine Menge Volks und doch eine solche Abgeschiedenheit«, sagte Darnay, nachdem sie eine Weile gehorcht hatten.
»Ist dies nicht eindrucksvoll, Mr. Darnay?« fragte Lucie. »Hin und wieder habe ich den ganzen Abend hier gesessen, bis ich mir einbildete – aber heute, wo alles so schwarz und feierlich ist, macht sogar der Schatten einer törichten Vorstellung mich schaudern –«
»So wollen wir mitschaudern. Dürfen wir wissen, was Ihnen Ihre Phantasie vorführte?«
»Es wird Ihnen wohl als nichts erscheinen. Ich glaube, solche Grillen machen nur im Augenblick ihres Entstehens einen Eindruck; er läßt sich nicht übertragen. Ich habe bisweilen in den Abendstunden allein hier gesessen und habe gelauscht, bis es mir vorkam, die Echos, die ich vernähme, seien der Widerhall aller der Fußtritte, die bestimmt sind, uns in unserm Leben zu begegnen.«
»Wenn dies zur Wirklichkeit würde, müßte es eines Tages in unserm Leben ein starkes Gedränge geben«, fiel Sydney Carton in seiner mürrischen Weise ein.
Die Tritte hörten nicht auf und wurden immer schneller und schneller. Die Ecke echote und echote wider von Schritten, einige, wie es schien, unter den Fenstern, andere im Zimmer, die einen kommend, die andern gehend, die einen innehaltend, die andern ganz aufhörend – alles dies in den fernen Straßen, ohne daß man eines Menschen ansichtig wurde.
»Ist die Gesamtheit dieser Fußtritte für uns alle bestimmt oder werden wir uns darin teilen müssen, Miß Manette?«
»Ich weiß es nicht, Mr. Darnay. Ich sagte Ihnen ja, es sei eine törichte Vorstellung; aber Sie haben sie wissen wollen. Als ich mich in sie hineinträumte, war ich allein, und ich bildete mir ein, es seien die Fußtritte von Menschen, die in mein und meines Vaters Leben hereinkämen.«
»Ich nehme sie für das meinige in Anspruch«, sagte Carton, »und ich stelle keine Fragen und mache keine Bedingungen. Da kommt eine schwere Menge auf uns herunter, Miß Manette, und ich sehe sie – ein Leuchten des Blitzes.« Letztere Worte fügte er nach einem heftigen Blitzstrahl hinzu, bei dessen Licht man ihn, auf den Fenstersims gelehnt, hatte sehen können.
»Und ich höre sie«, fuhr er fort, als das Rollen des Donners aufhörte. »Da kommen sie, rasch, wild und wütend.«
Er hatte damit das Ungestüm des Regens versinnbildlichen wollen, der jetzt so übermächtig geworden war, daß man keine Stimme mehr hören konnte. Die Regengüsse wurden von unablässigem Blitzen und Donnergekrach begleitet und ließen erst nach, als gegen Mitternacht der Mond aufging.
Die große Glocke von Saint Paul rief eben ein Uhr in die geklärte Luft hinaus, als Mr. Lorry, von dem hochgestiefelten, mit einer Laterne versehenen Jerry begleitet, den Rückweg nach Klerkenwall antrat. Zwischen dem letzteren Platze und Soho gab es einige kaum besuchte Wegstriche, und Mr. Lorry, der allen Respekt vor Räubern hatte, mietete Jerry regelmäßig für diesen Abendgang, obschon dieser sonst seinen Dienst gut um ein paar Stunden früher erfüllen durfte.
»Was ist das für eine Nacht gewesen, Jerry«, sagte Mr. Lorry. »Fast eine Nacht wie die, die die Toten wieder aus den Gräbern ruft.«
»Eine solche Nacht habe ich nie erlebt, Herr, und ich hoffe sie auch nicht wieder zu erleben«, entgegnete Jerry.
»Gute Nacht, Mr. Carton«, sagte der Geschäftsmann. »Gute Nacht, Mr. Darnay. Werden wir wohl je miteinander wieder eine solche Nacht erleben?«
Vielleicht. Vielleicht sehen sie auch das schwere Menschengedränge stürmend und tobend auf sich niederkommen. 

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