Einst regierte in einem großen Reich ein König, welcher drei Töchter hatte, die er sehr liebte. Eines Tages gingen sie spazieren und kamen nicht mehr zurück. Der König war darüber außer sich und sandte Boten aus, um seine drei Töchter zu suchen; aber vergebens. Die Boten kehrten zurück, ohne die geringste Spur gefunden zu haben.
Nun entschloss sich der König, demjenigen, der die Verlorenen bringe, eine Tochter und das Königreich zu geben. Dies wurde in der Stadt laut verkündet.
Da boten sich zwei Schneidergesellen an, die Verlorenen zu suchen. Der alte König war damit zufrieden und gab ihnen eine Summe Geld, mit welcher sie ihre Entdeckungsreise antraten. Am ersten Abend kehrten sie in einem Gasthaus ein, welches an der Landstraße lag.
Ein ausgedienter Soldat namens Hans hatte auch von der Bekanntmachung des Königs gehört und sich bereit erklärt, die Prinzessinnen zu suchen. Der König gab ihm ebenfalls Geld auf die Reise. Hans schlug denselben Weg ein, auf dem die zwei Schneider fortgegangen waren, und kam auch in dasselbe Gasthaus. Er ließ sich ein Glas Wein geben und war ganz in Gedanken versunken, als ihn die Schneider fragten, warum er so tiefsinnig sei, und sie suchten ihn aufzuheitern. Hans sagte ihnen, er sei ausgezogen, die verlorenen Prinzessinnen zu suchen.
Die Schneider freuten sich, einen Gesellschafter gefunden zu haben; sie erzählten ihm auch, sie hätten dieselbe Absicht, und luden ihn ein, mit ihnen zu reisen. Erst spät am Abend begaben sie sich zur Ruhe.
Am anderen Morgen reisten sie weiter, und zwar schlug jeder einen anderen Weg ein. Sie verabredeten sich, am Abend wieder an einem bestimmten Ort zusammenzutreffen. All ihr Suchen war vergebens; sie kamen an dem bestimmten Ort zusammen und suchten sich wieder eine Herberge, in welcher sie übernachteten.
So ging's auch die folgenden zwei Tage. Am dritten Tag kam Hans zu einer kleinen, sehr schlechten Holzhütte, welche ein altes Mütterchen bewohnte und die mitten im Wald stand.
Er ging hinein und bat um frisches Wasser, damit er seinen Durst löschen könne. Die Alte gab ihm das Verlangte und fragte ihn, woher er komme und wohin er zu reisen gedenke. Hans erzählte ihr, dass er von der Residenz des Königs komme und ausgezogen sei, um die Königstöchter, die verschwunden seien, zu suchen.
Die Alte sagte: »Wenn du mir dein Geld gibst, so will ich dir den Ort offenbaren.«
Hans ließ sich das nicht zweimal sagen und gab der Alten seine Barschaft. Diese führte ihn zu einem Brunnen in den Wald und bezeichnete ihm denselben als den Ort, an welchem die Prinzessinnen verborgen wären. Jedoch warnte ihn die Alte vor den zwei Schneidern, die Böses im Sinn hätten, und machte ihn besonders darauf aufmerksam, wenn er in den Brunnen hinabgestiegen und die Töchter erlöst hätte, so solle er zuerst heraufsteigen und die Erlösten erst nach ihm.
Vor Freude außer sich kehrte er zu seinen Kameraden zurück und erzählte ihnen, was er erfahren hatte. Sie beschlossen, am folgenden Tag mit einem langen Seil, an welchem sie Hans hinablassen wollten, zu dem bekannten Brunnen hinzugehen.
Tags darauf gingen sie wirklich mit einem sehr langen Seil zu dem verhängnisvollen Brunnen und ließen Hans hinab; zugleich aber verabredeten sie sich, ihn nicht wieder heraufzuziehen, damit sie als Retter der Verlorenen anerkannt würden. Hans langte in der Tiefe des Brunnens glücklich an und irrte ziemlich lange in verschiedenen dunklen und schauderhaften Gängen umher, bis er endlich in einen sehr langen Gang kam, der in einen großen Saal führte. Dort öffnete er die mittlere Saaltür und wollte eintreten; aber wie erschrak er, als er dicht vor dem Eingang einen Drachen bemerkte, der ihn zu verschlingen drohte. Der Saal war auf das prachtvollste ausgeschmückt, und im Hintergrund saß auf einem Thron die älteste Prinzessin.
Als Hans diese bemerkte, zog er schnell seinen Säbel und begann mit dem Drachen einen für ihn sehr gefährlichen Kampf. Endlich aber gelang es ihm, das Untier zu erlegen. Auf diese Weise hatte er die Prinzessin erlöst; aber noch zwei blieben ihm zu erlösen übrig.
Nun öffnete er eine zweite große Tür, welche in einen noch größeren und schöneren Saal führte, welcher aber von einem Drachen, der sieben Köpfe hatte, bewacht wurde. Im Hintergrund saß die zweite Prinzessin. Hans säumte nicht lange, sondern begann den Kampf mit dem Drachen, welcher viel gefährlicher als der erste war. Nach zweistündigem Kampf blieb Hans Sieger. Nun war auch die zweite Prinzessin erlöst, und nur die jüngste war noch übrig.
Die zwei Erlösten blieben in ihren Sälen, und Hans schickte sich an, nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, sein Werk zu vollenden. Er öffnete die Tür des dritten Saales und kam von dort aus durch eine weitere Tür in einen langen, schmalen Gang, welcher in einen prachtvollen großen Garten führte. Nach langem Umherirren entdeckte er ein kleines, aber überaus schönes Schloss, welches von einem Drachen, der neun Köpfe hatte, bewacht wurde. Dieser bevorstehende Kampf mit dem Drachen schien noch schrecklicher zu werden, da dieser sogar Feuer spie. Jedoch Hans verlor den Mut nicht und fing wie ein Rasender zu kämpfen an. Beinahe wäre es um ihn geschehen gewesen, wenn das Untier nicht in eine sehr tiefe, steile Grube gefallen wäre. Als Hans dieses bemerkte, schleppte er so viele Steine herbei, als er nur konnte, und warf diese auf den Drachen hinunter, welcher bald darauf verendete.
Die Prinzessin war außer sich vor Freude und steckte ihm, als einen geringen Beweis ihrer Dankbarkeit, ihren Ring an seinen Finger, worauf sie sich dann zu den zwei früher erlösten Prinzessinnen begaben. Von dort aus traten sie ihren Rückweg zur Öffnung des Brunnens an, wo sie das Tageslicht wieder erblickten.
Ganz entzückt über die glückliche Erlösung, vergaß Hans die Worte der Alten und ließ die drei Erlösten zuerst hinauf ziehen. Wie erschrak er nun, als diese oben angelangt waren und die schändlichen Schneider das Seil nicht mehr hinabließen, um auch ihn hinauf zu ziehen. Die Prinzessinnen aber mussten den Schneidern schwören, sie für die Retter auszugeben, dann traten sie ihre Rückreise an.
Als sie in der Hauptstadt angekommen waren, strömten viele Leute des Reichs zusammen, und alle waren über die Zurückkunft der Prinzessinnen erfreut. Der König gab jedem Schneider eine Tochter und ein Drittel des Reiches. Am dritten Tag sollte die Hochzeit gefeiert werden.
Unser Hans, der unten im Brunnen geblieben war, wusste nicht, was er anfangen sollte. Matt und müde legte er sich in einem Saal nieder und schlief bis zum anderen Morgen. Dann ging er in dieser unterirdischen Welt umher und gelangte endlich in einen großen Wald, dann auf Berge und endlich auf sehr hohe Felsen. Auf diesen erblickte er das Nest eines Adlers, ging zu demselben hin und fütterte die jungen Adler mit Fleisch und Brot.
Nach einiger Zeit kam der alte Adler und sprach zu ihm: »Ich will dich auf die obere Welt bringen, aber du musst mich auf unserer Reise immer mit Fleisch sättigen.«
Hans ging mit Freuden auf den Vorschlag ein. Er setzte sich auf den Adler, und dieser flog mit ihm durch die Lüfte. So langte Hans glücklich oben an. Der Adler war aber ein König, und die Jungen waren seine Kinder, die auf diese Weise ebenfalls erlöst worden waren. Hans bedankte sich bei ihm und der König wieder bei Hans. Jeder trat die Reise in seine Heimat an.
Als Hans in die Stadt kam, war alles in größter Bewegung. Er fragte nach der Ursache und erfuhr, dass die Hochzeit der Prinzessinnen mit ihren Rettern gefeiert werden sollte. Hans verkleidete sich, ging in die Burg und gab sich für einen Sänger aus. Er wurde freundlich aufgenommen und sogar bei der Tafel mit einem Becher Wein beehrt, welchen ihm die jüngste Prinzessin reichte. Nachdem Hans denselben ausgetrunken hatte, warf er den Ring, welchen er von der jüngsten Königstochter erhalten hatte, in den Becher und gab diesen wieder zurück.
Als die Königstochter den Ring im Becher erblickte, erschrak sie und wurde totenbleich. Der alte König, der dies sah, fragte nach der Ursache und erfuhr, dass Hans der Retter sei und nicht die Schneider. Darum erhielt jener die jüngste Tochter und das ganze Königreich. Die zwei Schneider aber wurden in mit Nägeln ausgeschlagenen Fässern von einem Berg hinab gerollt, so dass sie elend zugrunde gehen mussten.
Die Hochzeit wurde nun mit großer Pracht gefeiert, und danach ging Hans wieder in den Wald, um das alte Weib, welches eine Hexe war, aufzusuchen. Hans hatte nämlich erfahren, dass die drei Prinzessinnen durch deren Gewalt in diesen Brunnen gebannt worden waren. Als er die Alte erblickte, ließ er sie festnehmen; in demselben Augenblick kamen von allen Seiten die verschiedensten Tiere, große und kleine.
Als Hans dies sah, hieb er mit seinem Säbel auf die Tiere ein, und plötzlich verwandelten sich diese in schöne Herren und Frauen, welche ebenfalls von der alten Hexe verzaubert worden waren und auf diese Weise von Hans erlöst wurden. Die Erlösten waren aber meist Prinzen und Prinzessinnen, und sie beschenkten Hans reichlich.