Einst wurde eine Stadt von einem Feind hart bedroht. Die Einwohner derselben flüchteten sich daher alle, so dass die Soldaten nichts fanden als einen kleinen Knaben, welchen seine Eltern in der Eile zurückgelassen hatten. Die Soldaten brachten diesen Knaben zu ihrem König, welcher ihn bei sich behielt und erziehen ließ.
Nachdem der Knabe herangewachsen war, fragte ihn der König, zu was er Lust habe.
»Ein gemeiner Soldat will ich werden«, antwortete er.
Da der König dies nicht zulassen wollte, so beschloss der Knabe in die weite Welt zu ziehen, um seine verlorenen Eltern zu suchen. Er bat sich vom König eine große Trommel aus, und mit dieser zog er seiner Wege.
Er gelangte in einen düsteren Wald, wo er eine alte, baufällige Hütte fand. Als er hineinsah, erblickte er ein altes Weib und eine große Anzahl von bärtigen Männern, welche Räuber zu sein schienen. Einige saßen bei Tisch, aßen und tranken, während andere Karten spielten. Sie waren bei Mahl und Spiel so vertieft, dass sie den Knaben gar nicht bemerkten. Dieser benützte den günstigen Augenblick, versteckte sich in einem dichten Gebüsch und fing an zu trommeln. Die Räuber, durch das Trommeln erschreckt, sprangen eilends vom Tisch auf und ergriffen die Flucht, da sie meinten, Soldaten seien im Anzug.
Der Knabe ging darauf in die Hütte, aß das von den Räubern Zurückgelassene und fragte die Alte, welche eine Hexe war, ob sie nicht wüsste, wo seine Eltern sich befänden.
»Ich selbst«, erwiderte sie, »kann es dir zwar nicht sagen; aber ich werde dich zu einem Brünnlein führen, bei dem eine alte Weißbuche steht und zu welchen drei weiße Tauben kommen. Wenn du so glücklich bist, eine derselben zu fangen, so reiß ihr die Flügel aus; denn die Taube ist eine verwünschte Prinzessin und wird durch diese Tat gezwungen werden, dich zu deinen Eltern zu führen. Die Flügel jedoch bewahre dir wohl auf, dass sie dieselben nicht in ihre Hände bekomme, da sie sonst wieder eine Taube würde.«
Die Hexe führte ihn nun zu dem Brünnlein, bei welchem sich soeben die drei weißen Tauben befanden. Er schlich leise hinzu und war wirklich so glücklich, eine derselben zu fangen. Er riss ihr die Flügel aus, und plötzlich stand die verwünschte Prinzessin vor ihm. Dieser sagte er nun sein Begehren, und sie führte ihn sogleich zu seinen Eltern. Diese waren aber durch die Eroberung der Stadt sehr verarmt und hatten sich in ein entferntes Dorf geflüchtet, wo sie eine kleine Bauernwirtschaft führten. Die Flügel bewahrte er nun in einem Kistchen auf, welches in zehn andere eingefügt war.
Beide brachten eine geraume Zeit bei seinen Eltern zu, und dort vertraute sie ihm, dass er sie erlösen könne, wenn er sich drei Proben unterziehen wolle.
Es verstrich ein Monat um den anderen, und so war schon ein Jahr vergangen, als sie eines Tages spazierengingen und er zufällig den Schlüssel von dem Kästchen vergessen hatte, in welchem die Flügel aufbewahrt waren. Er wollte deshalb zurückkehren, sie aber ließ ihn nicht und sagte, sie wolle statt seiner denselben holen, da sie viel schneller als er zurückkommen werde. Er willigte ein, da er den Rat, welchen ihm die Hexe gegeben, schon vergessen hatte. Sie ging zurück, sperrte das äußerste Kistchen auf, nahm die ineinander gesteckten Kistchen auseinander, ergriff die Flügel, wurde wieder eine Taube und flog fort. Bei seinen Eltern aber hatte sie die Nachricht hinterlassen, dass sie auf das goldene Schloss unweit des gläsernen Berges geflogen sei.
Nachdem er schon lange Zeit gewartet hatte und sie nicht wiederkam, kehrte er nach Hause zurück und erfuhr zu seinem Schrecken, dass sie auf das goldene Schloss sich begeben hätte. Er sagte nun zu seinen Eltern, er werde fortgehen und nicht früher zurückkommen, bis er sie gefunden habe.
Er machte sich auf und ging zuerst zur Sonne, um diese zu fragen, wo das goldene Schloss sich befinde, da sie überall ihre Strahlen hinsende und so alles wissen müsste.
Die Sonne aber erwiderte: »Obwohl ich überall meine Strahlen hinsende, so habe ich dennoch kein goldenes Schloss unweit eines gläsernen Berges gesehen.«
Er ging nun zum Mond, und als ihm dieser dieselbe Antwort wie die Sonne gegeben hatte, begab er sich zum Wind.
Als er diesen um das goldene Schloss gefragt hatte, erwiderte der Wind, er möge nur einen Augenblick warten, bis sein Lehrjunge, die Luft, nach Hause käme. Dann werde er ihn zu jenem Schloss führen. Es dauerte nicht lange, als die Luft nach Hause kam, worauf ihn der Wind wirklich nahm und zum goldenen Schloss trug.
Als er dort ankam, fand er drei Teufel, welche um einen Sack, einen Mantel und ein Paar Stiefel zankten und rauften. Er fragte sie, warum sie sich denn um diese drei Stücke rauften.
Sie antworteten: »Diese Dinge sind sehr viel wert, denn der Sack ist immer voll Geld, und wenn man den Mantel umhängt, so wird man unsichtbar, und man kann sich hin wünschen, wohin man will; zieht man aber die Stiefel an, so kann man zwanzig Meilen auf einmal zurücklegen.«
»Den Streit will ich schon schlichten«, sagte er. »Ich werde nämlich einen Groschen eine Strecke weit werfen, und derjenige, welcher ihn zurückbringt, soll diese drei Stücke bekommen.«
Die drei Teufel willigten sogleich ein und liefen nach dem geworfenen Groschen, während er schnell den Sack und die Stiefel nahm, den Mantel umhing und sich in das goldene Schloss wünschte.
Als er dort ankam, fand er die verwunschene Prinzessin samt den beiden anderen und noch einer alten Frau, welche über sie wachte und sie in der Zauberei unterrichtete. Er eröffnete der alten Frau, dass er die Prinzessin, welche ihn zu seinen Eltern geführt habe und die jüngste war, erlösen möchte.
Da erwiderte die Alte: »Wenn du das willst, so musst du in drei Tagen drei Arbeiten vollbringen, die ich dir aufgeben werde; erfüllst du sie nicht, so wird es dein Leben kosten.« Auf diese Bedingungen ging er ein.
Sie gab ihm am Morgen des ersten Tages eine gläserne Säge und eine gläserne Axt mit dem Auftrag, mit diesem Werkzeug hundert Klafter Holz in dem nahen Wald zu fällen und dasselbe bis zum Abend in Klafter zu schlichten.
Er ging in den Wald, und da natürlich die gläserne Axt und die Säge gleich bei Beginn der Arbeit zerbrachen, so setzte er sich auf einen Stein und weinte.
Mittlerweile war es schon Mittag geworden, da kam die jüngste Prinzessin mit dem Essen und fragte ihn, warum er denn weine. Da erzählte er ihr seine Aufgabe und sein Schicksal.
Die Prinzessin, welche sich seiner erbarmte, sagte zu ihm, er solle sich nach dem Essen schlafen legen, und wenn er aufgestanden sei, werde schon alles gemacht sein. »Und wenn am Abend die Alte kommt, so setz dich nicht in den Wagen, in dem sie fährt, denn er ist vom Teufel gezogen, besteht aus Feuer, und du müßtest sogleich verbrennen.«
Er befolgte dies genau, und als er gegen sechs Uhr wieder erwachte, war schon alles gemacht. Er richtete nun hier und da ein Stück Holz, und als die Alte in dem feurigen Wagen gefahren kam, erschrak sie nicht wenig. Sie suchte ihn nun in den Wagen zu locken, und als ihr dies nicht gelang, fuhr sie ganz zornig davon. Er aber hing nur seinen Mantel um und kam noch früher als sie in das goldene Schloss zurück.
Am anderen Tag gab sie ihm eine gläserne Sense und einen gläsernen Rechen und befahl, dass er von der nahen Wiese Gras, in der Ausdehnung von hundert Klaftern in Länge und Breite, zu mähen habe.
Er ging auf die Wiese und hatte mit der Sense kaum den ersten Streich geführt, als sie auch schon in Trümmer ging. Den Rechen konnte er nicht gebrauchen, da er noch nichts gemäht hatte. Er setzte sich ganz traurig wieder auf einen Stein und dachte, diesmal werde es ihn wohl das Leben kosten.
Als es Mittag geworden war, kam wieder die Prinzessin und sagte, er solle nicht so traurig sein, sondern sich lieber schlafen legen, denn seine Aufgabe werde schon gemacht werden. »Und wenn die Alte wieder kommt und dich in den Wagen zu locken sucht, so weigere dich abermals.«
Nachdem er gegessen hatte, tat er, was ihm die Prinzessin gesagt hatte und schlief wieder bis gegen Abend. Dann stand er auf, und als die Alte kam und es ihr trotz aller Bemühungen nicht gelang, ihn in den Wagen zu locken, fuhr sie noch zorniger als das erste Mal nach Hause. Er aber hing nur seinen Mantel um und erreichte wiederum früher als sie das Schloss.
Am Morgen des dritten Tages gab sie ihm eine gläserne Grabschaufel und ein gläsernes Maurerwerkzeug mit der Aufgabe, den gläsernen Berg abzugraben und an der Stelle ein Schloss in der Luft zu bauen, dessen Dach mit Federn von allen Vögeln der Welt gedeckt sei.
Er nahm das Werkzeug, ging zu dem gläsernen Berg und erwartete den Mittag. Als wieder die jüngste Prinzessin kam, sagte sie, er solle dasselbe tun wie das vorige Mal. Er gehorchte, und als er erwachte, war seine Aufgabe schon vollbracht.
Die Alte kam nachsehen, und da alles gemacht war, so nahm sie sich vor, ihm auf eine andere Art das Leben zu nehmen.
Die jüngste Prinzessin aber, welche dies bemerkte, beschloss, mit ihm noch in derselben Nacht zu flüchten, und teilte ihm ihr Vorhaben mit. Er willigte sogleich ein. Die jüngste Prinzessin wandte vor, sie werde sich heute erst später schlafen legen, um im Haus alles zu reinigen. Beide entfernten sich dann, nachdem die Prinzessin noch zuvor dreimal auf den Fußboden gespuckt und Licht gemacht hatte. Da sie Zwanzigmeilenstiefel hatten, so kam ihnen dies gut zustatten.
Gegen elf Uhr erwachte die Alte, und als sie noch Licht im Zimmer sah, sagte sie: »Wirst du bald fertig werden?«
»Gleich, gleich, Frau Mutter«, antwortete ein Speichel am Fußboden und verschwand.
Die Alte schlief darauf wieder ein, und als sie um zwölf und um ein Uhr abermals erwachte und die beiden Speichel auf die Frage, ob sie sich noch nicht zur Ruhe begeben hätte, dasselbe wie der vorige antworteten und verschwanden, beruhigte sie sich wieder.
Anders war es aber, als sie gegen zwei Uhr morgens aufwachte. Das Licht brannte noch immer, allein trotz aller Fragen erhielt sie keine Antwort. Nun suchte sie und erschrak nicht wenig, als sie weder die Prinzessin noch den Bauernsohn fand. Schnell zog sie Schuhe an, mit welchen sie dreißig Meilen auf einen Schritt machen konnte, und verfolgte die Flüchtlinge.
Sie hatte sie beinahe erreicht, als es die Prinzessin bemerkte, welche zu dem Bauernsohn sagte: »Du wirst jetzt ein großer Teich werden und ich ein Fisch.«
Und das geschah.
Als nun die Alte zu dem Teich kam, legte sie sich nieder, da sie wusste, was geschehen war. Sie versuchte den Teich auszusaufen, um dann den Fisch zu fangen. Sie hatte ihn beinahe ganz geleert, als sie auf einmal platzte. Auf diese Weise kam das Wasser wieder in den Teich zurück.