Es war einmal ein Graf, der besaß viele Wälder und hatte eine zahlreiche Dienerschaft. Er war sehr gottesfürchtig und hatte schon manchen Sieg erfochten. In den Tagen des Friedens war es sein größtes Vergnügen, dem Wild nachzujagen, wobei er sich von seinem Gefolge oft ganz weit entfernte.
Eines Tages, als er wieder auf einer Jagd war, sah er in der Ferne ein weißes Reh mit Blitzesschnelle über eine Wiese laufen. Eiligst ritt er ihm auf seinem Pferd nach und verfolgte es bis tief in den Wald. Von seiner Dienerschaft war ihm niemand gefolgt, denn er war jedem zu schnell und auch bald aus den Augen aller verschwunden. Das machte niemandem Sorge um ihn, denn er war oft schon allein, ja häufig erst am nächsten Tag von solcher Jagd zurückgekehrt; allein diesmal war ihm selbst bange.
Er sah, dass er sich schon tief in den Wald verirrt hatte, und obwohl er sein Jagdhorn ertönen ließ, das weithin hörbar war, kam niemand herbei. Dennoch folgte er immer noch dem Reh. Dieses führte ihn nun auf eine große schöne Wiese, wo er zu seinem Erstaunen noch sechs andere Rehe sah, die ebenfalls weiß waren, worunter jedoch eines etwas größer war und einen goldenen Ring um den Hals hatte. Er feuerte seine Pistole mehrere Male darauf ab; allein so gut er zielen mochte, der Schuss ging immer fehl.
Die sieben Rehe sprangen nun weiter, und auch der Graf folgte ihnen nach. Sie kamen abwechselnd durch dichte Wälder, über schöne Wiesen und Berge, bis sie endlich vor einem großen Schloss anlangten, das niemand zu bewohnen schien. Zu jeder Seite des Tores aber hielten zwei riesige Löwen Wache.
Als die Rehe angelangt waren, öffnete sich das Tor. Die Rehe und auch der Graf sprengten durch, und dann schloss es sich wieder von selbst. Der Graf sah sich nun in einem großen viereckigen Hof, in welchem noch ein Tor zu sehen war, das dem ersteren gegenüber lag. Auch dieses öffnete sich, und die sieben Rehe liefen bei demselben hinaus, worauf sich das Tor wieder schloss und der Graf nun zwischen den vier Mauern eingeschlossen war.
Er begab sich in die oberen Stockwerke und besah sich die Zimmer und Säle. Alle hatten goldene Wände, goldene Betten und Tische standen in denselben, und in einem kleineren Gemach hing ein großer Spiegel in einem breiten goldenen Rahmen, und hinter demselben steckte eine Pergamentrolle.
Er nahm sie hervor und las: »Wer die verbannte Königstochter befreit, soll ein ganzes Königreich haben. Doch muss er ein ungeheures Gespenst bezwingen, das jede Nacht um zwölf Uhr unter fürchterlichem Gepolter in das Schloss kommt und wieder verschwindet, nachdem es bis ein Uhr genug herumgetobt und sich von den Speisen, die auf den goldenen Tischen sind, gesättigt hat.«
Als der Graf dies gelesen hatte, wurde er zwar von Schauer ergriffen, allein er beschloss doch, es mit dem Ungeheuer aufzunehmen, denn er war gut bewaffnet. Er aß etwas und begab sich zur Ruhe, denn es war schon spät. Der Graf legte sich in eines der goldenen Betten, und auf einem nahen Tisch befanden sich sein Schwert und zwei geladene Pistolen, damit er alles gleich zur Hand nehmen könne.
Er schlief nicht lange, da hörte er mit fürchterlichem Kettengerassel etwas die Stiege heraufkommen, und es zeigte sich bald ein schwarzer Mann, der in der Mitte der Stirn ein großes Auge hatte, welches so stark leuchtete, dass davon das ganze Zimmer erhellt war. Er war ganz mit Haaren bewachsen und hatte Ketten um den Rücken geschlungen. Als der Graf ihn sah, sprang er auf ihn zu und war so glücklich, ihm mit seinem Schwert den Kopf entzweizuhauen. Noch aber konnte er dem Grafen sagen, er möge dem Reh mit dem goldenen Halsband einen Kuss geben. Der Graf legte sich nach diesem Kampf wieder ins Bett und ruhte noch die ganze Nacht.
Als er am Morgen in den Hof ging, sah er wieder die sieben Rehe, die ihn am vorigen Tag hierher geführt hatten. Er näherte sich ihnen und küsste das größte der Rehe, und siehe da, es standen sieben weißgekleidete Mädchen vor ihm, von denen eines besonders schön war und ein goldenes Halsband hatte. Dieses dankte dem Grafen für seine Erlösung und sagte, es sei die Prinzessin des Reiches und samt ihrem Gefolge von dem Gespenst in Rehe verwandelt worden. Die Prinzessin erzählte ferner, dass sie schon viele in das Schloss geführt habe, aber keiner sei so glücklich gewesen, das Gespenst zu bezwingen.
Sie heiratete dann ihren Retter, und beide waren glücklich; und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.