Einige Tage nachher, es ging schon gegen Abend, saß die Familie, wie gewöhnlich um diese Zeit, im Gartensaal zusammen. Die Türen standen offen; die Sonne war schon hinter den Wäldern jenseit des Sees.
Reinhard wurde um die Mitteilung einiger Volkslieder gebeten, welche er am Nachmittag von einem auf dem Lande wohnenden Freunde geschickt bekommen hatte. Er ging auf sein Zimmer und kam gleich darauf mit einer Papierrolle zurück, welche aus einzelnen sauber geschriebenen Blätern zu bestehen schien.
Man setzte sich an den Tisch, Elisabeth an Reinhards Seite. »Wir lesen auf gut Glück«, sagte er, »ich habe sie selber noch nicht durchgesehen.«
Elisabeth rollte das Manuskript auf. »Hier sind Noten«, sagte sie, »das mußt du singen, Reinhard.«
Und dieser las nun zuerst einige Tiroler Schnaderhüpferl, indem er beim Lesen je zuweilen die lustige Melodie mit halber Stimme anklingen ließ. Eine allgemeine Heiterkeit bemächtigte sich der kleinen Gesellschaft. »Wer hat doch aber die schönen Lieder gemacht?« fragte Elisabeth.
»Ei«, sagte Erich, »das hört man den Dingern schon an; Schneidergesellen und Friseure und derlei luftiges Gesindel.«
Reinhard sagte: »Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, hierhin und dorthin und werden an tausend Stellen zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten.«
Er nahm ein anderes Blatt: »Ich stand auf hohen Bergen ...«
»Das kenne ich!« rief Elisabeth. »Stimme nur an, Reinhard, ich will dir helfen.«
Und nun sangen sie jene Melodie, die so rätselhaft ist, daß man nicht glauben kann, sie sei von Menschen erdacht worden; Elisabeth mit ihrer etwas verdeckten Altstimme dem Tenor sekundierend.
Die Mutter saß inzwischen emsig an ihrer Näherei, Erich hatte die Hände ineinander gelegt und hörte andachtig zu. Als das Lied zu Ende war, legte Reinhard das Blatt schweigend beiseite. – Vom Ufer des Sees herauf kam durch die Abendstille das Geläute der Herdenglocken; sie horchten unwillkürlich; da hörten sie eine klare Knabenstimme singen:
Ich stand auf hohen Bergen
Und sah ins tiefe Tal ...
Reinhard lächelte: »Hört ihr es wohl? So geht's von Mund zu Mund.«
»Es wird oft in dieser Gegend gesungen«, sagte Elisabeth.
»Ja«, sagte Erich, »es ist der Hirtenkaspar; er treibt die Starken heim.«
Sie horchten noch eine Weile, bis das Geläute oben hinter den Wirtschafts gebäuden verschwunden war. »Das sind Urtöne«, sagte Reinhard; »sie schlafen in Waldesgründen; Gott weiß, wer sie gefunden hat.«
Er zog ein neues Blatt heraus.
Es war schon dunkler geworden; ein roter Abendschein lag wie Schaum auf den Wäldern jenseit des Sees. Reinhard rollte das Blatt auf, Elisabeth legte an der einen Seite ihre Hand darauf und sah mit hinein. Dann las Reinhard:
Meine Mutter hat's gewollt,
den andern ich nehmen sollt;
was ich zuvor besessen,
mein Herz sollt es vergessen;
das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag ich an,
sie hat nicht wohl getan;
was sonst in Ehren stünde,
nun ist es worden Sünde;
was fang ich an?
Für all mein Stolz und Freud
gewonnen hab ich Leid.
Ach, war das nicht geschehen,
ach, könnt ich betteln gehen
über die braune Heid!
Während des Lesens hatte Reinhard ein unmerkliches Zittern des Papiers empfunden; als er zu Ende war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl zurück und ging schweigend in den Garten hinab. Ein Blick der Mutter folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die Mutter sagte: »Elisabeth hat draußen zu tun.« So unterblieb es.
Draußen aber legte sich der Abend mehr und mehr aber Garten und See die Nachtschmetterlinge schossen surrend an den offenen Türen vorüber durch welche der Duft der Blumen und Gesträuche immer stärker herein drang; vom Wasser herauf kam das Geschrei der Frösche, unter den Fenstern schlug eine Nachtigall, tiefer im Garten eine andere; der Mond sah über die Bäume. Reinhard blickte noch eine Weile auf die Stelle, wo Elisabeths feine Gestalt zwischen den Laubgängen verschwunden war; dann rollte er sein Manuskript zusammen, grüßte die Anwesenden und ging durchs Haus an das Wasser hinab.
Die Wälder standen schweigend und warfen ihr Dunkel weit auf den See hinaus, während die Mitte desselben in schwüler Mondesdämmerung lag. Mitunter schauerte ein leises Säuseln durch die Bäume; aber es war kein Wind, es war nur das Atmen der Sommernacht. Reinhard ging immer am Ufer entlang. Einen Steinwur vom Lande konnte er eine weiße Wasserlilie erkennen. Auf einmal wandelte ihn die Lust an, sie in der Nähe zu sehen; er warf seine Kleider ab und stieg ins Wasser. Es war flach, scharfe Pflanzen und Steine schnitten ihn an den Füßen, und er kam immer nicht in die zum Schwimmen nötige Tiefe. Dann war es plötzlich unter ihm weg, die Wasser quirlten über ihm zusammen und es dauerte eine Zeitlang, ehe er wieder auf die Oberfläche kam. Nun regte er Hand und Fuß und schwamm im Kreise umher, bis er sich bewußt geworden, von wo er hineingegangen war. Bald sah er auch die Lilie wieder; sie lag einsam zwischen den großen blanken Blättern. – Er schwamm lansam hinaus und hob mitunter die Arme aus dem Wasser, daß die herabrieselnden Tropfen im Mondlicht blitzten; aber es war, als ob die Entfernung zwischen ihm und derBlume dieselbe bliebe; nur das Ufer lag, wenn er sich umblickte, in immer ungewisserem Dufte hinter ihm. Er gab indes sein Unternehmen nicht auf, sondern schwamm rüstig in derselben Richtung fort. Endlich war er der Blume so nahe gekommen, daß er die silbernen Blätter deutlich im Mondlicht unterscheiden konnte; zugleich aber fühlte er sich wie in einem Netze verstrickt; die glatten Stengel langten vom Grunde herauf und rankten sich an seine nackten Glieder. Das unbekannte Wasser lag so schwarz um ihn her, hinter sich hörte er das Springen eines Fisches; es wurde ihm plötzlich so unheimlich in dem fremden Elemente, daß er mit Gewalt das Gestrick der Pflanzen zerriß und in atemloser Hast dem Lande zuschwamm. Als er von hier auf den See zurückblickte lag die Lilie wie zuvor fern und einsam über der dunkeln Tiefe. – Er kleidete sich an und ging langsam nach Hause zurück. Als er aus dem Garten in den Saal trat, fand er Erich und die Mutter in den Vorbereitungen einer kleinen Geschäftsreise, welche am andern Tage vor sich gehen sollte.
»Wo sind denn Sie so spät in der Nacht gewesen?« rief ihm die Mutter entgegen.
»Ich?« erwiderte er; »Ich wollte die Wasserlilie besuchen; es ist aber nichts daraus geworden.«
»Das versteht wieder einmal kein Mensch!« sagte Erich. »Was tausend hattest du denn mit der Wasserlilie zu tun?«
»Ich habe sie früher einmal gekannt«, sagte Reinhard; »es ist aber schon lange her.« 我的母亲作了主
几天以后,将近傍晚的时刻,全家像通常这时候一样聚坐在花园客厅里。两边的门敞开着,太阳已经隐在湖对岸的树丛后边。
大家请莱因哈特读几首民歌给他们听,那是一个住在农村的朋友寄来的,他中午刚收到。他回到自己的屋子,拿了卷纸马上又回到客厅,这是些写得非常整洁的散页纸。
大家围着桌子坐了下来,伊利莎白坐在莱因哈特的旁边。
“我们随便拿几首念吧,”莱因哈特说,“我自己还没有看过呢。”
伊利莎白打开稿件。“这里还有乐谱呢,”她说,“莱因哈特,你应该把它唱出来。”
他先读了几首梯罗尔人的小曲,在念的过程中,不时用半低的声音哼几首快乐的曲调。
于是在这小小的团体里产生了一种普遍的欢愉。“是谁作了这些美丽的歌呢?”伊利莎白问道。
“嗳,”埃利希说道,“听这些东西可以猜得出来,无非是些裁缝匠、理发师和这一类轻浮的浪子而已。”
莱因哈特说道:“它们不是作出来的,而是生出来的,它们从云端掉了下来,像游丝一样在地面上飘来飘去,这里,那里,同一个时候,就有成千的地方在唱着它们。从这些歌里可以找得到我们自己的经历和痛苦;就仿佛是我们大家都帮着一起写出来的。”
他拿起了另一页:“我站在高山上⋯⋯”
“我知道这个!”伊利莎白叫了起来。“你唱出来吧,莱因哈特,我帮你一起唱。”于是他们唱起了那个典调,它是这样地神秘,简直难以使人相信,这是从人的脑子里想出来的;伊利莎白用带点模糊的女低音伴着男高音。
这期间伊利莎白的母亲坐在那里忙她的针线活。埃利希交叉着双手,凝神地倾听着。唱完这一曲,莱因哈特默默地把这一篇放在一边。——从湖对岸,穿过黄昏的寂静传来了家畜的铃声;他们不由自主地倾听起来;正在这时他们听到一个清脆的童声唱道:我站在高山上望向深深的山谷⋯⋯莱因哈特微笑着说:“你们听到了没有?这些歌曲就这样一个传一个。”
“这曲子在这一带常有人唱的。”伊利莎白说道。
“说得对,”埃利希说道,“这是牧童卡斯派尔;他正赶牛回去呢?”
他们又听了一会,直到铃声消失在农事室的后边。“这些都是古老的曲调,”莱因哈特说道:“它们沉睡在森林的深处;上帝知道,究竟