Wiederum waren Jahre vorüber. – Auf einem abwärts fahrenden schattigen Waldwege wanderte an einem warmen Frühlingsnachmittage ein junger Mann mit kräftigem, gebräuntem Antlitz. Mit seinen ernsten grauen Augen sah er gespannt in die Ferne, als erwarte er endlich eine Veränderung des einförmigen Weges, die jedoch immer nicht eintreten wollte. Endlich kam ein Karrenfuhrwerk langsam von unten herauf. »Holla! guter Freund«, rief der Wanderer dem nebengehenden Bauer zu, »geht's hier recht nach Immensee?«
»Immer geradeaus«, antwortete der Mann und rückte an seinem Rundhute.
»Hat's denn noch weit bis dahin?«
»Der Herr ist dicht davor. Keine halbe Pfeif' Tobak, so haben's den See; das Herrenhaus liegt hart daran.«
Der Bauer fuhr vorüber; der andere ging eiliger unter den Bäumen entlang. Nach einer Viertelstunde hörte ihm zur linken plötzlich der Schatten auf; der Weg führte an einem Abhang, aus dem die Wipfel hundertjähriger Eichen nur kaum hervorragten. Über sie hinweg öffnete sich eine weite, sonnige Landschaft. Tief unten lag der See, ruhig, dunkelblau, fast ringsum von grünen, sonnbeschienenen Wäldern umgeben; nur an einer Stelle traten sie auseinander und gewährten eine tiefe Fernsicht, bis auch diese durch blaue Berge geschlossen wurde. Quer gegen über, mitten in dem grünen Laub der Wälder, lag es wie Schnee darüberher; das waren blühende Obstbäume, und daraus hervor auf dem hohen Ufer erhob sich das Herrenhaus, weiß mit roten Ziegeln. Ein Storch flog vom Schornstein auf und kreiste langsam aber dem Wasser. – »Immensee!« rief der Wanderer. Es war fast, als hatte er jetzt das Ziel seiner Reise erreicht; denn er stand unbeweglich und sah über die Wipfel der Bäume zu seinen Füßen hinüber ans andere Ufer, wo das Spiegelbild des Herrenhauses leise schaukelnd auf dem Wasser schwamm. Dann setzte er plötzlich seinen Weg fort.
Es ging jetzt fast steil den Berg hinab, so daß die untenstehenden Bäume wieder Schatten gewährten, zugleich aber die Aussicht auf den See verdeckten, der nur zuweilen zwischen den Lücken der Zweige hindurchblitzte. Bald ging es wieder sanft empor, und nun verschwand rechts und links die Holzung; statt dessen streckten sich dichtbelaubte Weinhügel am Wege entlang; zu beiden Seiten desselben standen blühende Obstbäume voll surrender, wühlender Bienen. Ein stattlicher Mann in braunem Überrock kam dem Wanderer entgegen. Als er ihn fast erreicht hatte, schwenkte er seine Mütze und rief mit heller Stimme:
»Willkommen, willkommen, Bruder Reinhard! Willkommen auf Gut Immensee!«
»Gott grüß dich, Erich, und Dank für dein Willkommen!« rief ihm der andere entgegen.
Dann waren sie zueinander gekommen und reichten sich die Hände.
»Bist du es denn aber auch?« sagte Erich, als er so nahe in das ernste Gesicht seines alten Schulkameraden sah.
»Freilich bin ich's, Erich, und du bist es auch; nur siehst du noch fast heiterer aus, als du schon sonst immer getan hast.«
Ein frohes Lächeln machte Erichs einfache Züge bei diesen Worten noch um vieles heiterer. »Ja, Bruder Reinhard«, sagte er, diesem noch einmal seine Hand reichend, »ich habe aber auch seitdem das große Los gezogen, du weißt es ja.« Dann rieb er sich die Hände und rief vergnügt: »Das wird eine Überraschung! Den erwartet sie nicht, in alle Ewigkeit nicht!«
»Eine Überraschung?« fragte Reinhard.
»Für wen denn?«
»Für Elisabeth.«
»Elisabeth! Du hast ihr nicht von meinem Besuch gesagt?«
»Kein Wort, Bruder Reinhard; sie denkt nicht an dich, die Mutter auch nicht. Ich hab' dich ganz im geheim verschrieben, damit die Freude desto größer sei. Du weißt, ich hatte immer so meine stillen Plänchen.«
Reinhard wurde nachdenklich; der Atem schien ihm schwer zu werden, je näher sie dem Hofe kamen. An der linken Seite des Weges hörten nun auch die Weingärten auf und machten einem weitläufigen Küchengarten Platz, der sich bis fast an das Ufer des Sees hinabzog. Der Storch hatte sich mittlerweile niedergelassen und spazierte gravitätisch zwischen den Gemüsebeeten umher. »Holla«, rief Erich, in die Hände klatschend, »stiehlt mir der hochbeinige Ägypter schon wieder meine kurzen Erbsenstangen!« Der Vogel erhob sich langsam und flog auf das Dach eines neuen Gebäudes, das am Ende des Küchengartens lag und dessen Mauern mit aufgebundenen Pfirsich- und Aprikosenbäumen überzweigt waren. »Das ist die Spritfabrik«, sagte Erich; »ich habe sie erst vor zwei Jahren angelegt. Die Wirtschaftsgebäude hat mein Vater selig neu aufsetzen lassen; das Wohnhaus ist schon von meinem Großvater gebaut worden. So kommt man immer ein bißchen weiter.«
Sie waren bei diesen Worten auf einen geräumigen Platz gekommen, der an den Seiten durch die ländlichen Wirtschaftsgebäude, im Hintergrunde durch das Herrenhaus begrenzt wurde, an dessen beide Flügel sich eine hohe Gartenmauer anschloß; hinter dieser sah man die Züge dunkler Taxuswände, und hin und wieder ließen Syringenbäume ihre blühenden Zweige in den Hofraum hinunterhängen. Männer mit sonnen- und arbeitsheißen Gesichtern gingen über den Platz und grüßten die Freunde, während Erich dem einen und dem anderen einen Auftrag oder eine Frage über ihr Tagewerk entgegenrief. – Dann hatten sie das Haus erreicht. Ein hoher, kahler Hausflur nahm sie auf, an dessen Ende sie links in einen etwas dunkleren Seitengang einbogen. Hier öffnete Erich eine Tür, und sie traten in einen geräumigen Gartensaal, der durch das Laubgedränge, welches die gegenüberliegenden Fenster bedeckte, zu beiden Seiten mit grüner Dämmerung erfüllt war; zwischen diesen aber ließen zwei hohe, weit geöffnete Flügeltüren den vollen Glanz der Frühlingssonne hereinfallen und gewahrten die Aussicht in einen Garten mit gezirkelten Blumenbeeten und hohen, steilen Laubwänden, geteilt durch einen graden breiten Gang, durch welchen man auf den See und weiter auf die gegenüberliegenden Wälder hinaussah. Als die Freunde hineintraten, trug die Zugluft ihnen einen Strom von Duft entgegen.
Auf einer Terrasse vor der Gartentür saß eine weiße, mädchenhafte Frauengestalt. Sie stand auf und ging den Eintretenden entgegen; aber auf halbem Wege blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den Fremden unbeweglich an. Er streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. »Reinhard!« rief sie. »Reinhard! Mein Gott, du bist es! – Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Lange nicht«, sagte er und konnte nichts weiter sagen; denn als er ihre Stimme hörte, fühlte er einen feinen körperlichen Schmerz am Herzen und wie er zu ihr aufblickte, stand sie vor ihm, dieselbe leichte, zärtliche Gestalt, der er vor Jahren in seiner Vaterstadt Lebewohl gesagt hatte.
Erich war mit freudestrahlendem Antlitz an der Tür zurückgeblieben. »Nun Elisabeth«, sagte er, »gelt, den hättest du nicht erwartet, den in alle Ewigkeit nicht!«
Elisabeth sah ihn mit schwesterlichen Augen an. »Du bist so gut, Erich!« sagte sie.
Er nahm ihre schmale Hand liebkosend in die seinen. »Und nun wir ihn haben«, sagte er, »nun lassen wir ihn so bald nicht wieder los. Er ist so lange draußen gewesen; wir wollen ihn wieder heimisch machen. Schau nur, wie fremd und vornehm er aussehen worden ist.«
Ein scheuer Blick Elisabeths streifte Reinhards Antlitz. »Es ist nur die Zeit, die wir nicht beisammen waren«, sagte er.
In diesem Augenblick kam die Mutter, mit einem Schlüsselkörbchen am Arm, zur Tür herein. »Herr Werner«, sagte sie, als sie Reinhard erblickte; »ein ebenso lieber wie unerwarteter Gast« – Und nun ging die Unterhaltung in Fragen und Antworten ihren ebenen Tritt. Die Frauen setzten sich zu ihrer Arbeit, und während Reinhard die für ihn bereiteten Erfrischungen genoß, hatte Erich seinen soliden Meerschaumkopf angebrannt und saß dampfend und diskurrierend an seiner Seite.
Am andern Tage mußte Reinhard mit ihm hinaus ; auf die Acker, in die Weinberge, in den Hopfengarten, in die Spritfabrik. Es war alles wohl bestellt; die Leute, welche auf dem Felde und bei den Kesseln arbeiteten, hatten alle ein gesundes und zufriedenes Aussehen. Zu Mittag kam die Familie im Gartensaal zusammen, und der Tag wurde dann, je nach der Muße der Wirte, mehr oder minder gemeinschaftlich verlebt Nur die Stunden vor dem Abendessen, wie die ersten des Vormittags, blieb Reinhard arbeitend auf seinem Zimmer. Er hatte seit Jahren, wo er deren habhaft werden konnte, die im Volke lebenden Reime und Lieder gesammelt und ging daran seinen Schatz zu ordnen und womöglich mit neuen Aufzeichnungen aus der Umgegend zu vermehren. – Elisabeth war zu allen Zeiten sanft und freundlich; Erichs immer gleichbleibende Aufmerksamkeit nahm sie mit einer fast demütigen Dankbarkeit auf, und Reinhard dachte mitunter, das heitere Kind von ehedem habe wohl eine weniger stille Frau versprochen.
Seit dem zweiten Tage seines Hierseins pflegte er abends einen Spaziergang an deren Ufer des Sees zu machen. Der Weg führte hart unter dem Garten vorbei. Am Ende desselben, auf einer vorspringenden Bastei, stand eine Bank unter hohen Birken; die Mutter hatte sie die Abendbank getauft, weil der Platz gegen Abend lag und des Sonnenuntergangs halber um diese Zeit am meisten benutzt wurde. – Von einem Spaziergange auf diesem Wege kehrte Reinhard eines Abends zurück als er vom Regen überrascht wurde Er suchte Schutz unter einer an Wasser stehenden Linde; aber die schweren Tropfen schlugen bald durch die Blätter. Durchnäßt, wie er war, ergab er sich darein und setzte langsam seinen Rückweg fort. Es war fast dunkel; der Regen fiel immer dichter. Als er sich der Abendbank näherte, glaubte er zwischen den schimmerden Birkenstämmen eine weiße Frauengestalt zu unterscheiden. Sie stand unbeweglich und, wie er beim Näherkommen zu erkennen meinte, zu ihm hingewandt, als wenn sie jemanden erwarte. Er glaubte, es sei Elisabeth. Als er aber rascher zuschritt, um sie zu erreichen und dann mit ihr zusammen durch den Garten ins Haus zurückzukehren, wandte sie sich langsam ab und verschwand in die dunklen Seitengänge. Er konnte das nicht reimen; er war aber fast zornig auf Elisabeth, und dennoch zweifelte er, ob sie es gewesen sei; aber er scheute sich, sie danach zu fragen; ja, er ging bei seiner Rückkehr nicht in den Gartensaal, nur um Elisabeth nicht etwa durch die Gartentür hereintreten zu sehen. 许多年又过去了。——在一个温暖的春天的下午,一个有着健康的,褐色面庞的青年正行走在一条通向下方的阴凉的林荫道上。他那双严肃的灰色眼睛急切地眺望着远处,仿佛正期待着这条单调的路途最终会有什么变化产生,可是这种变化却偏偏一直不肯出现。到最后才算有一辆车子慢慢地由下边往上奔来。“喂!好朋友,”这位路人向过路的农民喊道,“这路通往茵梦湖吗?”
“一直走。”农民回答说,碰了一下他的圆帽子。
“到那里还很远吗?”
“先生已经到了跟前了。用不着半袋烟的功夫,就可以到达湖边;庄园就紧挨着湖。”
农民过去了;路人加快步伐沿路在树荫下走去。一刻钟后左边的树荫忽然一下没有了;这条路经过一个陡坡,坡下的百年老橡树的树梢差不多跟坡顶一样高。越过那些树梢展示出一片辽阔而明亮的景色。下面深处是宁静的、深蓝色的湖水,四周差不多全被翠绿的,为阳光照耀着的树林所环抱着;只有一个地方的树木分了开来,露出一片远处的景致,直到被一群青山挡住为止。正面望过去,在绿叶丛中出现了像雪花般的白色,那是盛开着花朵的果树,再过去,在高高的湖岸上耸立着一所庄园,白墙红瓦。从烟囱上飞起一只鹳鸟,缓慢地在水面上盘旋。——“茵梦湖!”路人叫了起来。仿佛他现在差不多已到达了他的旅程的终点;因为他一动不动地站停在那里,从他脚下的树梢望向湖的对岸,庄园的倒影在水面上轻轻地荡漾着。但过后他又突然继续往前走了起来。
现在走的几乎是陡直地通往山下的路,因而刚才在他脚下的树木现在又有了树荫,可是却也同时遮盖了湖景,只是有时穿过枝子的隙缝透出一点湖光。不久路面又稍稍有点向上,左右两旁的树木消失了;代之而起的沿路展开的是爬满了葡萄藤的小丘;两旁是茂盛的果树,周围到处是嗡嗡作响,在忙碌不停的蜜蜂。一位穿着棕色外衣仪表堂堂的男子迎着路人走向前来。
当他快到他身边时,他挥动他的帽子,并用响亮的声音喊道:“欢迎,欢迎,莱因哈特兄!欢迎你来茵梦湖庄园!”
“你好啊,埃利希,谢谢你的盛意!”对方回答说。
这时他们已经走后,大家握了握手。“难道真的是你吗?”
当埃利希走近看到他老同学这张严肃的脸时说道。
“当然是我呀,埃利希,你也还是你;只是看起来你比从前要更加开朗一些。”
听到这些话,一阵喜悦的微笑使得埃利希单纯的脸容格外地显得开朗起来。“是啊,莱因哈特兄,”说道,他把手再一次伸向莱因哈特,“自从那些日子以来,我交上了好运,你肯定已经知道了。”他搓着双手,快活地叫喊说:“这将是个意外!她不会料到是谁,绝不会想到!”
“一个意外?”莱因哈特问道,“指的是谁?”
“伊利莎白。”
“伊利莎白!你没有告诉她我要来这里?”
“一句话也没有提起过,莱因哈特兄;她想不到会是你,她的母亲也不会想到。我约请你来完全是偷偷进行的,为的是让她们更加高兴一些。你知道,我常常会有一些这类秘密的小计划的。”
莱因哈特转入了沉思;他们愈接近庄园,他的呼吸就显得沉重起来。
路左边的葡萄园到了尽头,接着是一大片菜园,差不多一直延伸到湖岸。那只鹳鸟在这期间已经飞到地面,正庄重地在菜畦地里散步。“喂!”埃利希喊道,拍着手掌,“这个长腿的埃及鬼又在偷我的短豌豆秆了!”鹳鸟慢慢地飞了起来,飞向一所新屋的顶上,这所房子座落在菜园的尽头,墙垣上盖了一层缚上去的桃杏的枝条。“这是酿酒厂。”埃利希说道;“两年前才盖起来的。
先父扩建了农事室;正室却早在祖父时期就有了。就这样一代比一代要前进一点。”
他们边说边来到了一处空旷的场地,这里两边是农事室,后边以正房为界线。正房的两则连有一道高高的花园围墙;人们可以看到墙后是一排一排紫杉树,丁香随处把它们盛开的枝子垂挂到庭园里。当那些由于日晒和劳动弄得满脸汗珠的人经过广场,向这两位朋友招呼的时候埃利希就一忽儿向这个交代些什么,一忽儿又向另一位问一些关于这天工作的问题——最后他们终于来到了住宅。他们走进高高的,阴凉的门廊,过了门廊转入一条有些暗黑的过道。埃利希在这里打开了一扇门,随即他们就进到了一间宽敞的花园客厅,由于对称的窗户为浓密的绿叶所遮蔽,使得厅堂的两边充满了幽幽的绿色;可是窗户之间两扇高高的敞开着的翼门却把灿烂的春日的阳光放了进来,而且从这两扇门望出去可以看到有着圆形花坛,一行一行高耸的树木的花园景色,中间是一条笔直的宽宽的路,顺着这条路可以望到湖水,再过去就是湖对岸的树林。当这两个朋友进来的时候,一阵风向他们送来了一股芳香。
花园门前的露台上坐着一位穿着白衣服的少女体态的女人。她站起来,迎向进来的人;可是走到半路她像生了根似地站定了,呆呆地注视着这位陌生人。他微笑着把手伸给她。
“莱因哈特!”她叫了起来,“莱因哈特!我的上帝,真是你吗!——我们已经有好久没有见面了。”
“好久没有见面了,”他说,却再也说不出什么别的话了。
因为他一听到她的声音,在他的心里就感觉到一种锐敏的肉体上的痛楚。当他再看她,站在他面前的,还是那个轻盈柔和的身影,跟几年前在他出生的城里向他告别时一个样。