Die unzähligen bunten Lichter des kürzlich erbauten Weihnachtsmarktes erhellten die sonst trist und trostlos wirkende gepflasterte Straße; der Duft von gebrannten Mandeln, Schmalzgebäck und Glühwein erfüllte die kühle, winterliche Luft. Eigentlich war es, wie ich fand, die schönste Zeit des Jahres; nur der Schnee ließ wie üblich auf sich warten.
Ich schlenderte zusammen mit einer recht guten Freundin, Rebecca, am Rande der Straße entlang, um nicht in den Menschenmassen, die sich ihren Weg durch die engen Gassen des Marktes bahnten, zu versinken. Ich wandte meinen Blick vom Gedränge ab und blickte nach rechts, direkt in Beccas Gesicht, welches jedoch im starken Kontrast mit der sonst so harmonischen Stimmung stand. Sie rümpfte wortlos die Nase und ich ahnte, dass sie unter dem schrägen Pony ihrer schwarz-grün kolorierten Haare stark die Stirn runzelte. Verächtlich erwiderte sie den Blick einer Dame etwas weiter links, welche sie soeben abwertend von oben bis unten gemustert hatte.
Ich war so etwas bereits gewöhnt; Becca zog auf Grund ihres Auftretens des Öfteren Blicke auf sich - insbesondere die herablassenden Blicke recht reich erscheinender, älterer Frauen, die mit ihren Spitzenhandschuhen, den Stöckelschühchen an ihren Füßen und ihren endlos verzwirbelten Turmfrisuren über die Straßen spazierten; die Krönung war hin und wieder auch mal ein eingekleideter Miniaturhund auf ihren Armen. Becca hingegen war ihr Aussehen mehr oder weniger gleichgültig; ihre weite, zerschlissene Jeans schleifte über die ausgelatschten Turnschuhe. Gegen die Kälte schützte sie lediglich ein dicker Pullover, unter dem sie, wie ich wusste, allerdings in etliche Schichten aus Kleidung gepellt war. Das von ihr sehr geliebte "Zwiebel-Prinzip". Das einzige, worauf sie penibel achtete, war ihre Frisur: Über ihrem Pony erstreckte sich ein bestimmt fünfzehn bis zwanzig Zentimeter hoher, schwarz grün gestreifter Iro; die Haare zu den Seiten waren genau genommen kaum noch als "Haare" zu bezeichnen - sie stellten kurze, knallrote Stoppeln dar. Haare zeigen den Charakter und die Einstellung eines Menschen mehr als alles andere. Man erkennt allein an der Frisur, ob ein Mensch eher extrovertiert oder schüchtern, frech oder höflich ist. Man sieht, wie wichtig ihnen das Aussehen ist oder ob sie stattdessen größeren Wert auf andere Dinge legen. Waren sie aufmüpfige Rebellen, wie Becca, oder doch viel mehr stille Mitläufer, die ihre Grundeinstellungen, ihr Outfit und ihre Frisur stets mit der Mode änderten; wie tote Fische, die stets mit, aber niemals gegen den Strom schwammen?
"Du bist so still, was ist los mit dir?" Wie in Trance, völlig versunken in meine Gedanken, war ich schweigend neben ihr hergetrottet; den Weihnachtsmarkt hatten wir längst hinter uns gelassen. Von starken Konturen umzogene, haselnussbraune Augen blickten mich so intensiv an, als wollten sie mich geradewegs durchbohren.
Ich hielt ihrem Blick stand und antwortete zögernd: "Ich habe über das Phänomen Mensch nachgedacht."
"Na das ist ja mal ganz was Neues", erwiderte sie breit grinsend, " - und weiter?"
"Ist dir schon einmal aufgefallen, wie viel die Haare über einen selbst aussagen können?"
Immer noch breit grinsend zog sie als Antwort ihre linke Augenbraue hoch, als sei dies eine rein rhetorische Frage gewesen, die keine weiteren Worte ihrerseits mehr bedurfte. Natürlich wusste sie das; allein ihr nun selbstsicherer und zufriedener Blick zeigten mir, dass sie sich insgeheim freute, dass auch ich nun endlich diese Erleuchtung gehabt hatte.
"Mich würde interessieren, wie du dich selbst einschätzen würdest. - Vergiss die ganzen verdammten inneren Werte für einen Moment", fügte sie hastig hinzu, als ich bereits tief Luft für meine Antwort holte, "geh allein von deinen Haaren aus. Von nichts anderem."
Ich atmete in einem Schweigen wieder aus und strich mir mit der Hand über meine hellbraunen Haare, die bisher kein einziges Mal mit Färbemitteln Kontakt hatten. Keine Schere hatte ihnen einen Stufenschnitt verpassen dürfen, kein Friseur durfte sie in Locken legen. Sie fielen schlicht und glatt über meine Schultern, endeten irgendwo auf Höhe der Schulterblätter. Aber ich war nicht so langweilig, so eintönig, so veraltet wie meine Frisur - oder war ich es doch? Ich schien es für die anderen zu sein, ich musste es sein, denn war es nicht stets der erste Eindruck, der zählte? War man das, für das die anderen einen hielten oder das, was man für sich selbst war? Natürlich war man das, was man im tiefen Innern selbst empfand - aber wieso hatte ich es bisher nie gewollt, diese Einstellung, meine Richtung zu teilen? War ich im Endeffekt doch nur zu schüchtern gewesen, wie es meine Haare ja nun zur Genüge bewiesen?
Dies war der Zeitpunkt, der einiges ändern würde, da war ich mir sicher; es war, als wäre ich aus einer Scheinwelt ausgetreten, hinein in die Realität - eine Realität, die ich von nun an aktiv leben und mitbestimmen würde, anstatt mich passiv von meinem Leben durch die Gegend schubsen zu lassen.
Nach dieser längeren Schweigepause hatte ich vor, Becca mit unzähligen Erklärungen zu überfluten, stockte aber augenblicklich -
"Was zum -?!"
Wir standen vor einem Friseursalon. Nein, Friseursalon war das falsche Wort - wir standen vor einer Bruchbude an Friseursalon irgendwo in einer Seitenstraße; durch die leicht beschlagene Fensterscheibe ließen sich bunte - in der Tat, bunte! - Köpfe erkennen. Becca hatte nicht lange auf meine Antwort gewartet, beziehungsweise hatte sie keine einzige Sekunde gewartet.
"Mir fiel ein, dass er in der Nähe liegt. Dachte, wir machen mal einen kleinen Abstecher hierhin und bringen wieder Schwung in dein Leben!"
Sie ging die drei kleinen Stufen herab und öffnete die Tür, sodass ich gar nichts anderes machen konnte, als ihr hinterher zu stolpern.
Ich fand mich in einem etwas größerem Raum wieder; wie in einem Friseursalon waren natürlich die Haarwaschschüsseln, Spiegel und Sessel vorhanden, jedoch in den absurdesten Farbkombinationen: die Sessel hatten eine knallrote Polsterung, während die Wände in neongrün gestrichen und mit grellen Farben besprüht worden waren. Alles in allem wollte ich nichts seliger als mich wieder umzudrehen und schnurstracks wieder durch die hinter mir liegende Tür zu marschieren. Dafür schien es jedoch bedauerlicherweise zu spät: Becca hatte bereits zwei Friseurinnen freundschaftlich begrüßt und dirigierte mich nun zu einem Sessel im hinteren Teil des Raumes; vielleicht dachte sie, so würden die Chancen auf einen von mir geplanten Fluchtversuch in Anbetracht der Strecke bis zur Tür drastisch sinken. Wie auch immer, nun war ich hier. Haare wachsen auch wieder, munterte ich mich still auf und begab mich auf den mir zugewiesenen Stuhl.
Während mir der Kittel umgelegt wurde, betrachtete ich skeptisch die Person, die sich in der nächsten halben Stunde an meinen Haaren austoben würde. Ich schluckte; ihre Haare glichen der Wandfarbe enorm und waren so verrückt geschnitten, als sollten sie ein Kunstwerk darstellen. "Lass sie nur machen", warf Becca ein, als sie meinen entgeisterten Blick sah, "sie weiß schon, was sie tut." Da war ich mir leider nicht ganz so sicher - aber ich ließ sie, nachdem ich ein letztes Stoßgebet gesprochen hatte, machen.
Zuerst wurden meine Haare gewaschen, inklusive einer herrlichen Kopfmassage. Was danach geschah, weiß ich nicht - ich hielt meine Augen aus Angst etwas zu sehen, das mir gar nicht gefiel, fest verschlossen; es störte mich nicht, dass ich mir so wahrscheinlich den ein oder anderen seltsamen Blick von anderen vereinzelten Gästen einfangen würde. Ich sah sie nicht, ich sah mich nicht und ich sah vor allem nicht, was gerade passierte - alles war gut. Ich hörte das Klappern der beiden Scherenklingen, die hastig aufeinander stießen, und schließlich das Rascheln von Papier - vermutlich Alufolie -, das mir nach einer Weile in die Haare gekleistert wurde. Ich blinzelte vorsichtig in den großen Spiegel gegenüber; ein verängstigtes Wesen mit Unmengen an Silberpapier in seiner Haartracht lugte zurück; leider - oder zum Glück?! - war weder ihre Farbe, noch ihr neuer Schnitt, erkennbar.. ich würde mich noch eine Weile gedulden müssen. Nach fünf Minuten Einwirkzeit, wie mir mitgeteilt worden war, entfernte die grünhaarige Dame die Alufolie und spülte die Restfarbe aus. Das Schnurren eines Föhns ertönte und warme Luft umströmte meinen Kopf und wirbelte durch meine neue Haarpracht. Erst als der Föhn tatsächlich ausgeschaltet und meine Haare zurechtgezupft worden waren, wagte ich es, mich anzusehen.
Die vorderen Haare umspielten mein Kinn und stiegen in einem Stufenschnitt zum Nacken auf. Ich strich mit meiner Hand über meinen unteren Hinterkopf und hatte das Gefühl, ich würde ein Igel-Plüschtier streicheln. Einen metallisch roten Plüschigel, verbesserte ich mich in Gedanken.
"Und?" Becca strahlte mich erwartungsvoll an.
"Es ist ...", ich rang nach Worten, " - ungewohnt".
Natürlich war es ungewohnt, wie sollte es auch anders sein? Aber irgendwie gefiel es mir; das rot war längst nicht so aufdrängend wie die schlecht gepolsterten Sessel, jedoch um einiges auffälliger als mein vorheriges, langweiliges Braun. Nach einigen weiteren Augenblicken des Betrachtens fügte ich hinzu: "Doch, es gefällt mir". Das erste Mal, seit ich diesen Laden betreten hatte, breitete sich nun endlich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. "Ich fühle mich, als sei ich ein anderer Mensch geworden - innerhalb einer halben Stunde!"