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德语恐怖故事:Tante Traudels Zähne
日期:2016-06-29 10:18  点击:226

Hätte Getrud Overkott an diesem für sie selbst prinzipiell ereignislosen Dezemberabend vor dreiunddreißig Jahren nicht aus einer undefinierbaren Laune heraus ihren Haarknoten gelöst, wäre Mechthild nach einem letzten Schluck Milch ins Bett gegangen. Sie wäre an der Seite der einarmigen blauen Stoffkatze, die sie nach ihrer zweitliebsten Cousine Roswitha genannt hatte, einfach so eingeschlafen, freilich nicht, ohne sich vorweg mit einem vorsichtigen Blick hinter die Übergardine zu vergewissern, dass da niemand stand, der darauf wartete, dass das Licht ausging.

Warum Mechthilds Mutter die weinroten bodenlangen Vorhänge, die sich schon seit Urzeiten im Familienbesitz befanden, ausgerechnet im Kinderzimmer aufgehängt hatte, war eine der Fragen, die in Mechthilds Leben unbeantwortet blieben. Vermutlich gab es keinen Grund dafür, vermutlich hatte ihre Mutter gar nicht in Erwägung gezogen, dass der scheußliche schwere Samt für ihre kleine Tochter die Nacht war, eine einzige böse rote ultimative Nacht ohne Mond und ohne Kinderreime.

Irgendwie hatte die Mutter es geschafft, auf ihre unbekümmerte Art Ängste in ihr zu wecken, denen Mechthild viele Jahre später, als sie erwachsen war und in hellen, von Licht durchfluteten Räumen lebte, schlichtweg verbot, in ihr zu atmen. Die Furcht davor, sich doch irgendwann eingestehen zu müssen, dass sie nicht ihr Leben lang die Luft anhalten konnte, um durchzuhalten, holte sie ein, als es ihr grad besonders gut gefiel, so, wie es war.

Sie empfand sich als anständig glücklich, bevor Jonas ihr die Frage stellte, die ihrer Mutter niemals über die Lippen gekommen wäre. "Wovon träumst du wirklich?"

Weil sie einfach nicht ernsthaft wissen wollte, wie düster es in kleinen Köpfen, die größer und anstrengender werden, bei aller Hoffnung auf Leichtigkeit aussehen kann. Vielleicht war es auch gar nicht wirklich gewollt, das nie Gefragte und Unbeantwortete, vielleicht sollte es nicht stattfinden im feinen vorsichtigen Leben von Mechthilds Mutter, die gern lachte und dreimal kräftig ausspuckte, wenn jemand mit dem Teufel um die Wette fluchte. Und die erst einsilbig, dann böse wurde, wenn ihr Bruder von seiner Hand erzählte.

Mechthilds onkel Hannes, der um drei Jahre ältere Bruder ihrer Mutter, hatte nie besonders viel Aufhebens darum gemacht, dass ihm die linke Hand fehlte. Die meisten Leute guckten eh nur hin und schnell wieder weg, zumal er dieses phantastische Ding als Ersatz trug, da war kein peinliches Nichts am Gelenk. "Sauber abgehackt", sagte er, wenn jemand sich dafür tapfer interessierte. "Egal, der Kunstscheiß macht seine Sache ordentlich. Noch was?"

Noch was beschäftigte seine kleine Nichte sehr wohl. Er mochte ihre dunklen alten Augen, die nicht jung sein wollten, er mochte die Falte, die sich zwischen ihre Brauen drängte, wenn sie ihn drängend ansah und ihre Lippen sich zusammenkniffen, weil er jetzt reden sollte. "Wer hat das gemacht, onkel Hannes?"

Sie blickte ihn an, wartete, sie blickte ihre Mutter an, die immer noch lächelte und Kuchen verteilte und Likör einschenkte und einfach nur "Hannes!" sagte. Freundlich klang das. Aber da war auch was im Ton der Mutter, eben wie sie den Namen des onkels aussprach, der entschied, nicht weiter von der lästigen abgehackten Hand zu sprechen. Manchmal gelang das, manchmal redeten sie dann einfach über ganz andere Dinge, eben über irgendwas, das Mechthild grundsätzlich nicht hören mochte.

Sie langweilte sich, starrte zum Fenster, das eine schwarze Scheibe war, und stellte sich vor, dort wären Farben. Das beruhigte. Sie las viel, das lenkte sie ab von all dem Rot und Grün und Gelb, das immer schmutziger wurde, bis es hässlich war und ihr Angst machte.

onkel Hannes ließ sich nicht immer von seiner Schwester unterbrechen. Wenn sein Gesicht sich leicht gerötet hatte und er sein Glas in der Hand hielt, nicht gewillt, es abzusetzen, nur gewillt, es hinzuhalten, um mehr zu bekommen, was in Ordnung war, weil sie alle dort saßen und trinken wollten, sprach er einfach weiter.

"Ist beim Holzhacken in Kanada passiert. Lausig kalt da, Hunger bis unter die Arme. So ein Bär von Kerl haut einfach daneben, erwischt meine Hand, hab' ich gebrüllt. Halleluja."

Mechthild glaubte das nicht. Aber sie war wohlerzogen, schwieg, nickte erwachsen, vergrub sich in ihrem Buch und wollte am Abend von ihrer Mutter nach dem Gutenachtsagen wissen: "Wann war onkel Hannes denn in Kanada?"

"In seinen Träumen, Schäfchen, die sind besser als das, was du nicht wissen musst."

Als Mechthild ihren onkel Hannes beim Weltkugelpuzzle, vor dem sie beide neben der Schlafhöhle im Kinderzimmer hockten und Nordamerika suchten, nach Kanada und seinen Träumen und seiner abgehackten Hand und dem, was sie nicht wissen musste, einfach so nebenher fragte, was aber tatsächlich nicht nur so nebenher schlimmes Herzklopfen bei ihr verursachte, sagte der: "War wohl vielleicht alles ganz anders, Mecki, aber du bist noch zu klein, und du solltest da auch gar nicht drüber nachdenken. Manchmal ist es besser, ganz fest die Augen zu schließen und sich was richtig Schönes vorzustellen."

"Und wenn ich das nicht kann? Wenn ich immer an den schwarzen Mann denke, der da steht?"

"Wo soll der stehen?"

Mechthild holte tief Luft, beugte sich nach vorn, um ihrem onkel beruhigend näher zu sein, während sie auf den Vorhang zeigte: "Na, dort vielleicht."

Er schüttelte den Kopf und strich ihr übers Haar.

"Nein, dort nicht. Mit Sicherheit nicht. Aber ich sag dir was, ich sag dir, dass du immer gut aufpassen musst, weil sie alle lügen, wenn sie behaupten, keinen verdammten Hosenschiss vor dem schwarzen Mann zu haben. Irgendwo steckt er. Er sieht dich und merkt sich, wer du bist. Aber er kriegt dich nicht, solange du über ihn lachst."

Mechthild verstand nicht, sie verspürte nur diese Sehnsucht nach der heißen gezuckerten Schokolade ihrer Mutter, die sie trinken würde mit der vertrauten warmen Stimme direkt neben sich. Ein Flüstern nur, freilich stark genug, um einen Bären in die Flucht zu jagen. "Pscht, mein Schäfchen, nichts passiert, Mama ist bei dir."

Aber ihre Mutter stand nur dort im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und sie war blass und wütend, als sie seinen Namen rief: "Hannes!" Und gleich darauf deutlich ruhiger, mit Blick auf Mechthild, die dort neben ihrem onkel auf dem Boden wie ein verschrecktes Kätzchen kauerte, das nicht weiß, wo es sich verstecken kann. "Hannes, bitte, nein. Ich fass das einfach nicht. Nicht meine Tochter, hörst du?"

Der blickte überrascht kurz auf und winkte ab. Ärgerlich.

"Ja ja, lassen wir das. Gut ist das nicht."

"Was ist denn besser? Willst du ihr jetzt auch noch von Cornelia erzählen?"

Er lachte. Heiser. Nicht wirklich belustigt. "Jetzt bewegst du dich aber auf Glatteis, Schwesterchen. Hatte ich tatsächlich nicht vor. Jetzt möchte unsere kleine wachsame Mecki natürlich gern wissen, wer Cornelia war. Blöder Fehler. Und nun?"

Mechthild dachte, weine bloß nicht, nützt nichts, merkwürdig ist das alles, merkwürdig sind sie alle, und wer ist denn Cornelia, noch nie gehört, nicht weinen, vielleicht wäre es gescheit, weiter zu puzzlen, vielleicht würde Mama Kakao kochen und onkel Hannes eine Zigarette rauchen, die in seiner falschen Hand stecken würde, aber das war ja in Ordnung, die sah aus wie echt. Nicht weinen.

"Cornelia war meine Puppe. Dein onkel hat sie im Garten vergraben, als ich sechs war. So wie du jetzt, mein Schäflein. Ich hab sie wochenlang gesucht. Das war böse von onkel Hannes. Als ich sie wieder hatte, war sie völlig dreckig und nicht mehr schön. Aber ich war glücklich. Und dein onkel hat sich entschuldigt. Stimmt's, Hannes? Hat dir leid getan. Warst ja selbst noch klein. Wie alt? Acht. Ich war sechs. Stimmt doch, Hannes?"

Mechthilds Mutter nickte ihrem Bruder zu. Der sah seine Schwester nur müde an, nickte nicht zurück. Schwieg.

"Hannes?"

"Ja." Er starrte auf die Puzzleteile, die wild ausgebreitet vor seinen Knie lagen, nahm eins, zögerte, betrachtete es von allen Seiten, kicherte, legte es zurück.

"Ich konnte dieses verdammte Spiel noch nie. Zu dämlich. Ich. Ich meine, doch. Doch. Es hat mir leid getan, dass Cornelia weg war. Es hat mir leid getan. Was willst du hören, verdammt?"

Er sprang auf, rieb sich den schmerzenden Rücken - immerhin hatte er die ganze Zeit in Mechthilds Augenhöhe auf dem Teppich gehockt und seine Nichte war eben klein, noch sehr klein -, warf seiner Schwester einen zornigen Blick zu und tippte auf seine Armbanduhr. "Weißt du, wie spät es ist? Wo bleibt der Mistkerl von deinem Mann? Wir waren verabredet. Scheiß was drauf, entschuldige, Süße, so was sagt man nicht. Mund ausspülen, ich weiß. Ich trink jetzt erstmal was. Wir spielen morgen weiter, Mecki."

"Und der schwarze Mann?" Mechthild fragte ganz leise, sie wollte nicht stören, nur wissen.

Ihre Mutter und ihr onkel zuckten zusammen. Hatten beide vergessen, dass Kinder nicht so einfach ein lästiges Thema wechseln, wenn bessere Themen wie ein kaltes Bier und Skatkarten sich als prima Alternativen anbieten.

"Den gibt's nicht, Schäflein. Und wenn er doch kommt, was er nicht macht, dann sorg ich dafür, dass er verschwindet und sich nie, nie wieder hier blicken lässt. Aber er kommt nicht, großes Ehrenwort."

Mechthilds Mutter legte sich verschwörerisch zwei Finger auf die Lippen und lächelte. Mechthild lächelte nicht. Sie hätte mit dieser Antwort zufrieden sein sollen, das wusste sie, aber irgendwas sehr Erwachsenes in ihr sagte ihr, dass ihre Mutter einen völligen Blödsinn erzählt hatte. Sie runzelte ihre kleine Stirn. "Kommt er nicht oder gibt's ihn nicht, Mama? onkel Hannes ..."

"Dein onkel wollte dich nur erschrecken. Das ist nicht lustig, Hannes."

"Nein. Nicht lustig. Und du holst jetzt endlich die grauenvollen Vorhänge da vor Mechthilds Fenster runter, klar? Ich warne dich. Du machst es schlimmer. Denk an deine Puppe. Wie hieß sie noch? Cornelia."

Die Vorhänge blieben.


Fünfzehn Jahre später erfuhr Mechthild, dass ihre Mutter keine Plastikpuppe mit dem prinzipiell unsympathischen Namen Cornelia besessen hatte, die von einem ungezogenen achtjährigen Lauser in der Gartenerde verbuddelt worden war, um sie zum Heulen zu bringen. Cornelia Spokowski hieß eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die kurz nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag spurlos verschwunden und niemals wieder aufgetaucht war. Medizinstudentin im siebten Semester, Barbie- und Menstruationsfreundin ihrer Mutter und wohl auch eine, vielleicht die eine wirkliche Freundin ihres Onkels.

Es war das Jahr, der Monat und exakt auch der Tag, an dem Hannes Overfeld seine Hand verloren hatte.

Kein Holzfäller. Kein unkonzentrierter Schlag auf Muskeln und Knorpel und Fleisch. Nur Schmerz. Verblüffung. Erkenntnis. Und Angst. Viel Angst.

 

Als Hannes Overfeld seiner Nichte Mechthild von diesem Abend erzählte, der alles verändert hatte, war er betrunken.
 


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11/28 15:41