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德语恐怖故事:Das Klopfen der Edeltraud Finnisch
日期:2016-06-21 14:28  点击:267
Beschwören würde ich es nicht, aber ich vermute, dass Edeltraud Finnisch sich am Tag ihrer Beerdigung auf dem Wiltruper Friedhof einen kleinen Spaß mit mir erlaubt hat. Sie war endlich tot, und ich fühlte mich einfach nur erleichtert, dass alles vorbei zu sein schien. Bis sie klopfte.
 
Natürlich passte das Ganze zusammen, natürlich passte es vor allem zu ihr, sich auch noch als Leiche in meinen Verstand einzumischen. Sofern sie überhaupt im klassischen Sinn eine war. Sie war wohl keine. Und ist es vermutlich immer noch nicht.
 
Tatsächlich wäre ich niemals ernsthaft auf die absurde Idee gekommen, sie wieder zu hören, zumindest nicht so schnell. Vielleicht aber wollte es nur vor mir selbst nicht zugeben, auch weiterhin mit dieser Angst leben zu müssen, die einen genau dann eiskalt erwischt, wenn man beginnt, seine alten Alpträume wie ein Blatt Papier an ein Streichholz zu halten. Es erlischt zu früh, und ein zweites ist nicht zur Hand.
 
Wenn es so war - und es war so -, ich meine, wenn also Edeltraud Finnisch an diesem schwülen Sommertag mit ihren Fingerknöcheln von unten gegen den hölzernen Sargdeckel klopfte, um mich daran zu erinnern, dass sie mehr, sehr viel mehr wusste als ich, dann habe ich ein durchaus reelles Problem. Keins von der eher unschuldigen Sorte, die ein ansonsten vernünftig denkender Erwachsener manchmal hat, wenn es dunkel ist und sich Kindheitserinnerungen eigenartig verzerrt als persönliche Dia-Show im Kopf abspielen.
 
Wenn es dunkel ist und man selbst noch klein und offen für alles, wird aus der strengen alten Frau nebenan sehr gern und sehr schnell eine böse Hexe, die einem noch viele Jahre später den kindlichen Glauben an ihre Existenz lassen kann. Dann klopft sie plötzlich wieder, irgendwann, und obgleich man grundsätzlich längst schon recht ordentlich erwachsen ist, glaubt man in ungeschützten, einsamen Nächten an dieses Klopfen, glaubt tatsächlich es zu hören. Und ist sich sicher, dass es der Tod ist, der sich meldet.
 
Am helllichten Tag funktioniert das im Normalfall nicht, da läuft alles geregelter ab. Meist auch ungefährlicher, was Dinge betrifft, die gar nicht wahr sein dürfen, zumindest bei Licht betrachtet. Da man geht zum Bäcker, lässt den Hund in der Mittagspause pinkeln, äfft heimlich den Chef nach, verflucht das Telefon und trinkt Espresso beim Italiener um die Ecke. Ansonsten freut man sich auf guten Sex am Wochenende, der ruhig mal ausgefallener sein könnte, auf trockenen Weißwein beim Franzosen und eigene Kinder, irgendwann vielleicht, wenn nicht, auch nicht tragisch. Hauptsache, das Brot wird nicht teurer und es regnet es nicht. Und Tote sind und bleiben tot und klopfen nicht, um sich Gesellschaft zu holen. Tun sie es doch, ist irgendwas schief gelaufen im Paradies. Vielleicht auch in der Hölle. Ich bin da nicht ganz so optimistisch.
 
Edeltraud Finnisch, verwitwet und kinderlos mit fetter gelber Katze, gehörte das Haus, in dem meine Eltern, Bolle und ich wohnten. Backstein, asphaltierter Innenhof und schmuckloses Vorgärtchen, nicht schön, aber urig, wie man wohlwollend sagt, ohne zu viel von seinem Geschmack zu verraten. Im ausgebauten Dachgeschoss teilten sich zwei dicke unsichtbare Schwestern dreieinhalb Zimmer. Die beiden bekam ich so gut wie nie zu Gesicht, bis die eine, für mich mit meinen knapp zehn Jahren erstaunlicherweise jüngere, von zwei kräftigen Kerlen abgeholt wurde.
 
Maria Johannssen steckte in einem monströsen weißen Sack mit Reißverschluss, nicht einmal eine Haarsträhne oder der kleine Finger lugte hervor, und ihre dicke Schwester stand heulend an einer Art Lieferwagen, bis ihr runder großer Kopf so rot angelaufen war, dass ich befürchtete, er würde gleich platzen. "Das Herz", sagte Edeltraud Finisch zu meiner Mutter, "bei dem Gewicht", und die nickte stumm, als wäre ihr völlig klar gewesen, dass es so kommen musste. Ich klammerte mich an die Hand meiner Mutter, sah den Sack auf der Trage im Auto verschwinden und warf Frau Finnisch einen bösen Blick zu.
 
Mein Blick war nur kurz und vermutlich nicht wirkungsvoll genug, weil sie ihn nicht zu registrieren schien. Ich wagte ihn auch nur, weil kein Holz in Reichweite war. Sonst hätte sie vielleicht für mich geklopft. Wie für Wilfried Kattmann und Opa Gustel.
 
Zwei Tage vor dem Tod der jüngeren Schwester Johanssen hätte mein Bolle auch dran glauben sollen. Da hatte die Hexe sich wohl zum ersten Mal im Takt verirrt. Oder aus Langeweile mit mir ein Spielchen ausprobiert.
 
Zu Finnischs Wohnung gehörte ein recht winziger Balkon mit Blick auf den Apfelbaum hinter dem Haus. Rote Hängegeranien im späten Frühjahr, weiße Eriken im Herbst. Und dieser hässliche gelbe Kater, der durch die hölzernen Latten der Balkonverkleidung auf den Innenhof glotzte. Tagaus, tagein glotzte er. Wenn ich hochblickte, trafen sich unsere Augen, nie fraß oder schlief er, als würde er sich das aufsparen für die Zeit, in der ich nicht in Sichtweite war. Er hockte oder lag auf dem Schemel vor dem Korbsessel, in dem Frau Finnisch mit ihrer Blümchentasse thronte, bevor sie sich erhob um mitzugucken, und beobachtete mich.
 
Es machte mich nervös, wie dieser Kater glotzte. Noch nervöser machte mich das Klopfen seiner Herrin, das ich zum ersten Mal an diesem verregneten Herbsttag wahrnahm, an dem der graue klatschnasse Vogel vom Himmel fiel.
 
Ich ging erst seit wenigen Wochen zur Grundschule und war recht erfolglos damit beschäftigt, die Buchstaben auf dem vergilbten Reklameschild für irgendein längst ausgestorbenes Bier zu entschlüsseln, das in Schieflage am Geräteschuppen unter dem Apfelbaum hing. Und plötzlich hörte ich sie klopfen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah zu ihr hoch, fragend und so ungehalten, wie auch kleine Menschen sein können, wenn sie bei etwas Wichtigem gestört werden. Sie lehnte steif auf der Balkonbrüstung, starrte mich an und bewegte kurz ihre Lippen, freilich lang genug, um ein stummes Helena von ihnen ablesen zu können. Sie nannte meinen Namen, so wahr ich es erzähle. Dabei klopfte sie mit den Fingerknöcheln der linken Hand gegen das Holz. In der rechten hielt sie ihre Tasse, die war beschäftigt mit dem Profanen des Lebens. Die linke klopfte den Tod herbei.
 
Der Vogel fiel mit einem dumpfen Geräusch von irgendwo oben direkt vor meine Füße und lag dort wie hastig ausgestopft. Zuerst dachte ich, er sei versehentlich vom Baum gestürzt und in eine leichte Ohnmacht gefallen. Für einen Moment vergaß ich Frau Finnisch, blickte verstört auf den kleinen Körper am Boden und stupste ihn vorsichtig mit den Kappen meiner Gummistiefel an. Nichts. Zweifellos lebte er nicht mehr. Ich sah wieder hoch, um etwas zu sagen, vermutlich zu fragen, was auch immer. Aber sie war weg. Nur der Kater hatte sich nicht vom Fleck gerührt und gähnte, ohne mich aus den Augen zu lassen.
 
Als Edeltraud Finnisch nur wenige Tage später erneut klopfte und wortlos von mir verlangte, zum Balkon zu schauen und sie anzusehen, damit sie den Kopf schütteln und meinen Namen flüstern konnte, fand ich unter der Bank vor dem Geräteschuppen das Kaninchen. Es musste sich vom nahe liegenden Friedhof aus, den ein buckliger, von gewaltigen Brennnesselsträuchern umsäumter Hohlweg von unserem eingezäunten Innenhof trennte, direkt unter die Bank verirrt und beschlossen haben, dort zu sterben. Eine andere, vernünftigere Erklärung gab es nicht. Das Kaninchen schien spontan, wie aus einer ungewöhnlichen Laune heraus umgefallen zu sein, es war nicht verwundet und sah aus, als würde es nur tief schlafen. Zu tief. Es atmete nicht mehr. Einfach so. Wie die junge Katze, die mit heraus gestreckter Zunge, alle vier Pfoten kerzengerade von sich gestreckt, auf der obersten Stufe der Kellertreppe lag und sich nicht mehr rührte.
 
Der Keller befand sich direkt unter dem Balkon, von dem aus Frau Finnisch mit ihrer Tasse in der rechten Hand auf mich gewartet hatte um zu klopfen, der gelbe Kater an ihrer Seite, der wachsam glotzte. Er glotzte, um sich nicht entgehen zu lassen, wie auch ich erst hochsah, fragend, bereits ahnend, Frau Finnisch ansah, ihn ansah, dann zu einer Seite blickte, zur anderen, auf den betonierten Sockel neben den Tulpen, zuletzt auf die Treppe. Ich wusste sofort, dass die Katze tot war, und irgendwie machte ich mir keine Gedanken mehr darüber, wie so etwas hatte passieren können. Sie erinnerte mich an eines meiner Schlummertiere, so unschuldig, so schön und weich Ich weinte nicht. Ich war acht Jahre alt und kannte eine Hexe, die nur klopfen musste, um töten zu können.
 
Edeltraud Finnisch war wie Lillifee im Märchen, die nur in die Hände zu klatschen braucht, und ihr wird von unsichtbaren Dienern alles gebracht, was sie will: Schokolade, Eiscreme, ein Pferd, ein schmucker Jüngling. Nur war Frau Finnisch keine goldgelockte klatschende Prinzessin, sondern eine böse alte Frau, die oft und gern klopfte. Auch für Insekten, manche so winzig, dass ich vielen der kleinen toten Körper, die ich unter den welken Blumen, auf den Steinen, neben dem Schuppen im Innenhof fand, vermutlich gar nicht solch eine Bedeutung beigemessen hätte. Ich litt. Und ich hatte eine Wahnsinnsangst vor ihr. "Die Finnisch hasse ich", sagte ich zu meiner Mutter. Die war beschäftigt, womit auch immer, auf jeden Fall nicht mit mir. Sie sagte nur: "Hör auf damit. Außerdem heißt es Frau Finnisch."
 
Manchmal kniff ich für einen flüchtigen Moment die Augen fest zusammen, wenn ich sie klopfen hörte, so, als könnte ich blind verhindern, was sowieso passierte.
 
Es ging so weit, dass ich mich als ihre unfreiwillige Helferin fühlte, die sie sich kaltschnäuzig auf ewig ausgesucht hatte. Nach dem Tod von Wilfried Kattmann sah ich in mir endgültig die leibhaftige Verbündete eines als Mensch verkleideten Monsters, das von den Nachbarn freundlich gegrüßt wurde. Dort draußen, wo alle unbekümmert ihr Lächeln an jeden verschenken, galt Edeltraud Finnisch als, wenn auch wortkarg, so doch höflich, anständig, ordentlich. Eben die nette Frau von nebenan.
 
Wilfried Kattmann war mein Lehrer, ein sportlicher großer Mann mit Sommersprossen, Mitte, Ende dreißig, wie ich ihn heute, als Frau, schätzen würde. Als Kind war er für mich bereits ziemlich alt, so wie mein Vater. Aber sicher nicht alt genug, um einfach auf der Aschenbahn der Wiltruper Sportgemeinschaft umzukippen wie eine dieser batteriebetriebenen Laufpuppen, denen aus heiterem Himmel der Saft ausgeht. Niemand konnte sich das erklären. "Der war doch gesund. Kerngesund. So sympathisch. So jung. Wirklich, wirklich viel zu jung."
 
Alle waren fassungslos. Ich nicht. Ich wusste es besser.
 
Kattmanns Tod war beschlossen, als ich mich für ihn in meinem dritten Grundschuljahr auf unserem Hof mit der Wäscheleine abkämpfte, die ich mit dem Segen meiner Mutter für ein recht passables Springseil zerschnitten hatte. Mein Training für Kettmanns Turnstunde am nächsten Tag in der Schule war lächerlich. Meine Füße funktionierten nicht richtig, und das Seil verhedderte sich in meinem Rocksaum und in meinem Pferdeschwanz. Ich war wütend auf mich, und als ich Edeltraud Finnisch klopfen hörte und mechanisch nach oben zu ihrem Balkon sah, wo sie kopfschüttelnd klopfte und lautlos meinen Namen über ihre Lippen kommen ließ, wurde ich noch wütender. Auf Frau Finnisch, die ihre runden kleinen braunen hässlichen Zähne zeigte, um mich auszulachen. Auf ihren glotzenden gelben Kater, der mich Trampel von seinem Schemel aus gähnend beobachtete. Und auf Kettmann, der von mir das Unmögliche verlangte, einfach nur sportlich zu sein.
 
Das war ich nie. Besonders beliebt auch nicht. Es kränkte mich, bei der Mannschaftsauswahl immer zum kläglichen Haufen zu gehören, der bis zum Ende wartet. Bis man ihn auswählen muss, weil die Besten, Schönsten, Stärksten bereits ihren Platz haben. Das sollte in meinem Leben auch so bleiben.
 
Natürlich lachte Frau Finnisch nicht wirklich, als sie, vermutlich wahllos, für einen Unbekannten an die hölzerne Balkonverkleidung klopfte. Für Wilfried Kettmann, der an diesem Spätnachmittag im Wiltruper Stadion seine Runden drehte, immer montags, mittwochs und freitags. Es war ein Mittwoch, als er sich an seine Brust griff, dorthin, wo es ordentlich im Rhythmus schlägt, wenn man gesund ist. So kerngesund. So sympathisch. So wirklich noch viel zu jung. Er war es. Und fiel hin, mit dem Gesicht nach vorn in die rote Asche, die Zunge herausgestreckt wie die junge Katze auf der Kellertreppe, so stellte ich es mir vor, fiel hin und starb.
 
Wir erfuhren vom Tod unseres Lehrers am Donnerstag in der Schule. Der Turnunterricht wurde abgesagt.
 
Ein halbes Jahr nach dem zweiten großen und letzten Schlaganfall meines Großvaters versuchte Edeltraud Finnisch, auch Bolle herbeizuklopfen. Mag sein, etwas halbherzig. Das war zwei Tage bevor die dicke Schwester Johannssen aus unserem Haus getragen wurde. "Das Herz. Bei dem Gewicht. Tragisch, tragisch."
 
Ich glaubte kein Wort. Maria Johannssen hat schlichtweg Pech gehabt, weil Frau Finnisch eine Leiche wollte. Bolle hat sie nicht bekommen. Doch nicht gewollt. Vielleicht.
 
Die arme Seele Johannssen möge mir verzeihen, aber ich war dankbar, dass mein Hund davongekommen ist. Ich liebte ihn. Sie liebte ich nicht, wie auch. So einfach ist das.
 
An diesem Tag im Spätherbst 1988, ich war zehn Jahre alt und hatte die Schule gewechselt, saß ich mit einem Buch auf der Bank vor dem Geräteschuppen, ignorierte die starren Blicke des Katers auf seinem Schemel, die meine Augen beim Lesen jucken ließen, obwohl ich selbst beim Umblättern der Seiten vermied, kurz hochzuschauen, ihn anzusehen, sie zu sehen. Ich ahnte, dass Frau Finnisch ganz in der Nähe war. Sie würde lautlos den Balkon betreten, einen Schluck Kaffee trinken - mag sein, in ihrer Tasse befand sich tatsächlich etwas ganz anderes - und dann würde sie mit den Fingerknöcheln der linken Hand gegen die Holzlatten der Verkleidung klopfen, würde starren, meinen Blick finden und Helena sagen, so leise, dass, wenn überhaupt, nur der Kater ein kleines Flüstern in den Ohren gehabt hätte.
 
Ich saß dort recht angenehm auf meiner Strickjacke, die ich ausgezogen und als Kissen auf die harte Bank gelegt hatte - der Sommer bummelte immer noch, es war zu warm für die Jahreszeit -, hielt mein Buch in Brusthöhe, der Kopf tief gesenkt, las und wartete. Horchte. Witterte.
 
Konzentrieren konnte ich mich in dieser Situation nicht. In dem Moment, in dem ich beschloss, dass es besser sei, auf meinem Zimmer weiterzulesen, besser für irgendwas, irgendjemand, besser für mich allemal, klopfte es. Ich sah nicht auf. Sie klopfte wieder. Ich sah nicht hin. Dachte nur, was die jetzt wohl sagen würde, hätte sie sich nicht vorgenommen zu schweigen. "Guck doch mal, ganz kurz, wirklich ganz kurz nur, Helena, bist doch ein braves Mädchen."
 
Ich sprang auf, das Buch fiel mir herunter, die Jacke blieb, wo sie war, ich wollte einfach nur weg. Anstatt jedoch ins Haus zu rennen, was logischer gewesen wäre, lief ich am Hintereingang und an den grauen Abfalltonnen in der Einfahrt vorbei geradewegs zur Straße. Und sah Bolle, der wie ein verstörtes Kind mitten auf der Fahrbahn stand und im Begriff war, Selbstmord zu begehen. Es war Feierabendverkehr, die Straße war dicht, jemand hupte, dann noch einer, ein Mann brüllte etwas wie: "Was hat der verrückte Köter da zu suchen?"
 
Als Bolle mich sah, legte der dumme alte liebe Kerl den Hechtsprung seines Lebens hin. Er flog wie ein junger Hund ohne Angst und lahme rechte Hinterpfote an den Autos vorbei direkt vor meine Füße und in meine Arme.
 
Ich stellte ihn mir tot vor, plattgefahren, überrollt. Voller Blut, die Augen und die Schnauze noch halb geöffnet, als wollte er mir sagen, stopp, das gilt nicht. Es galt auch nicht. Ich drückte ihn fest an mich. Er lebte noch schöne fünf Jahre. Der dicken Schwester Maria Johannssen waren noch zwei kümmerliche Tage vergönnt. Einer verliert immer.
 
Für meinen Großvater Gustel war die Zeit vielleicht tatsächlich gekommen, er war sehr alt und krank und müde. "Ich denke, er möchte schlafen, nur noch schlafen und träumen", sagte meine Mutter. Dann weinte sie und streichelte mir über das Haar. "Wir müssen ihn bald loslassen, Helena." Ich verstand, wischte ihr mit der Handfläche die Tränen weg und nickte ernst. "So ist das eben." Ich war, als ich das sagte und sie dabei anlächelte, als sei sie das Kind und ich die Mutter, etwas erschrocken über meine nüchterne Reaktion. Aber ich kannte eine Hexe, ich kannte den Tod. Und ich wusste, dass jeder irgendwann an der Reihe ist.
 
Mein Großvater überlebte seinen zweiten Schlaganfall nicht. Kurz vor dem Anruf aus dem Pflegeheim ganz in unserer Nähe, in dem er seit einigen Monaten untergebracht war, - es war ein schönes, gemütliches Heim, in dem viele liebe müde Menschen noch zu wach für das Loslassen waren - stand ich auf unserem Innenhof im Regen und fing mit geöffnetem Mund die Tropfen auf. Es war ein albernes Spiel, das ich auch ohne das Klopfen der Edeltraud Finnisch beendet hätte. Ich blickte hoch und wartete ihr Helena ab. Dann spuckte ich aus und ging ins Haus. Als das Telefon nur zwei, drei Minuten später klingelte und meine Mutter mich ansah, bevor sie nach dem Hörer griff, sagte ich: "Opa ist tot." So war es.
 
Edeltraud Finnisch starb in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1994. Sie starb still, wie sie auch gelebt hatte, und hätte ich meine Eltern nicht gebeten, mit dem Zweitschlüssel, der unter der scheußlichen fleischigen Topfpflanze im Treppenflur für alle Fälle versteckt war, gemeinsam mit mir nach ihr zu sehen, wäre sie wahrscheinlich noch eine ganze unbemerkte Weile lang ausgestreckt auf dem Rücken im Badezimmer liegen geblieben, mit dem Kopf auf der Matte vor dem Waschbecken, die Beine ordentlich nebeneinander. Als hätte sie sich selbst in Position gelegt. Die grauen dünnen Locken schienen unmittelbar zuvor zurechtgezupft worden zu sein, sie umrahmten fast apart den kleinen strengen Kopf, nur eine Zahnpastaspur im Mundwinkel hatte sie wohl übersehen. Der Wasserkran lief noch, sie trug Pantoffeln mit Blümchenstickerei und ein gehäkeltes Nachtjäckchen, Die Augen waren geschlossen, die Hände, ich glaubte es kaum, wie zu einem letzten frommen Gebet auf der flachen Brust gefaltet. "Sie sah so friedlich aus", sagte meine Mutter später, und mein Vater sagte: "Ein sauberer Tod, irgendwie."
 
Am 10. Mai hatte ich Gerald kennengelernt und mich mit ihm für den Abend des nächsten Tages verabredet, Pizza, Kino, Irish Pub, der angesagt war, eben das klassische Programm. Am Spätnachmittag pflanzte ich auf dem Hinterhof noch Blumen in die Balkonkästen meiner Mutter, machte es hastig, weil ich mich noch duschen und umziehen musste. Ich hockte recht unbequem auf den Steinplatten neben dem Sack mit Erde, das Unkraut in den Ritzen bot nur bedingt ein Polster für meine Knie, aber ich war zu faul, mir ein altes Kissen zu besorgen, dachte lieber an Gerald und vielleicht an uns zwei. Und dann dachte ich an sie, spürte diesen harten Kloß in meinem Hals und war mir sicher, dass sie längst schon da war. Ich spürte ihren Blick im Nacken, ohne aufsehen zu müssen, ich wusste, wie sie dort stand auf ihrem Balkon an der Brüstung, ich wusste, warum sie dort stand. Sie wollte mit mir über den Tod plaudern, ein kurzes stummes Gespräch nur, wie ich es gewohnt war, und der Kater würde glotzen und gähnen wie immer, wenn seine Herrin ihr Urteil flüsterte.
 
Sie klopfte. Ich drehte mich um, sah zu ihr hoch, es hätte nichts geändert, etwas anderes zu tun, sie hatte geklopft, geschehen würde etwas, irgendetwas, so oder so. In diesem Moment vergaß ich, jung und hübsch und frisch verliebt zu sein. Alles, was ich mir wünschte, war, diesen Jungen, den ich erst wenige Stunden kannte, retten zu können, sei es für den Preis, ihn niemals wieder küssen, berühren, fühlen zu dürfen, sei es für den Preis, selbst sterben zu müssen.
 
Ich will ehrlich sein. Wäre ich tatsächlich vor die Wahl gestellt worden, über sein oder mein Leben zu entscheiden und einen von uns opfern zu müssen, hätte ich auf ihn gezeigt. Aber an diesem Samstagnachmittag war ich im entscheidenden Augenblick bereit, Edeltraud Finnisch bestimmen zu lassen, wen es treffen sollte.
 
Sie wählte sich selbst. Am 12. Mai, es war noch früher Morgen, normalerweise viel zu früh für einen Sonntag und für mich, bat ich meine Eltern, mich in die Wohnung von Edeltraud Finnisch zu begleiten, um nach ihr zu sehen. Ich log, sagte, ich hätte bereits mehrfach geklingelt, warum auch immer, sie würde nicht öffnen, und ich könnte den Kater schreien hören. Das stimmte. Meine Eltern waren etwas irritiert, aber zu unausgeschlafen, um Fragen zu stellen. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich ahnte, spürte, nein, wusste, dass sie für sich selbst geklopft hatte?
 
Mit Gerald, der an unserem ersten Abend nicht einfach umfiel und starb und der, so hoffe ich doch, immer noch lebt, - wir haben schon lange keinen Kontakt mehr - war ich immerhin zwei anständig schöne Jahre zusammen. Als ich am Tag der Beerdigung von Edeltraud Finnisch dieses Klopfen gegen den Sargdeckel hörte - wohl als Einzige, weil niemand erstaunt reagierte und eh niemand entsetzter hätte reagieren können als ich -, war ich überzeugt davon, dass sie es sich anders überlegt hatte und Gerald oder mich selbst doch noch holen wollte. So war es eben nicht. Bis jetzt.
 
Das letzte Klopfen der Edeltraud Finnisch galt der älteren dicken Schwester Johannssen, die vor der Trauerfeier zu meiner Mutter sagte: "Man soll ja nichts Schlechtes reden, aber merkwürdig war die Finnisch schon."
 
Wie recht sie damit hatte.

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