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德语恐怖故事:Haffners Ring
日期:2016-06-21 14:23  点击:224
In jener Nacht, die seit zwanzig Jahren in mir spukt, träumte ich von ihm, ohne wirklich zu schlafen. Alfred Haffner. Antons Vater, von dem ich nur diese eine Fotografie kannte, die eingerahmt neben kitschig bemalten Porzellanpuppen und getrockneten Rosen auf der Anrichte seiner Mutter stand. Alfred Haffners Kopf lag neben mir auf meinem Kissen, und ich hätte seinen Atem einsaugen können, um ihn zu schlucken und wieder auszuspucken. In seinen Haaren krochen winzige weiße Würmer, genug, um wie ein einziger kochender Milchbrei auszusehen, der fortwährend gerührt wird, um nicht anzubrennen. Noch heute stelle ich mir vor, ich hätte meinen Löffel hineintunken, ihn zu meinen Lippen führen, ablecken müssen. Ein Bild, das mich würgen, mich trotzdem tief hineintauchen lässt und mein Schreien ignoriert, als wäre es nur das Heulen eines hungrigen Hundes. Es waren flinke, hässliche Viecher von der Sorte, die faulendes Obst liebt, jene abstoßende nimmersatte Brut, die ich aus der Vorratskammer meiner Tante Vicky kannte. Damals war ich davon überzeugt, die Maden wären auch in ihrem Eintopf, den sie am Freitag kochte und den ich auch am Samstag noch essen musste, weil meine Mutter mir streng in den Nacken kniff, wenn ich nur darin stocherte. Das abstoßende Leben in Haffners Haar war so reell wie die fette Küchenschabe, die sich aus seinem Mundwinkel quälte. Und irgendwie schien es mir, als würde sie für ihn sprechen, nicht der Kopf, vom Rumpf getrennt, mit toten leeren Augen, die längst nicht mehr sahen, was für mich so selbstverständlich war. "Hilf mir, Nina."
 
Anton und ich hatten es am Tag, dem dieser Traum folgen sollte, wie immer unter der alten Zeder in Haffners Garten getrieben, beschützt von dem Ahorn, der Antons Mutter die Sicht auf uns von ihrem Küchenfenster verwehrte. Wir spielten Festhalten und Auskitzeln, spuckten auf das Brausepulver in unseren Handflächen und lasen verbotenes Zeug, das uns der zurückgebliebene dicke Willibald Gendszki aus dem Nachbarhaus schenkte. Zum Dank klaute ich Zigaretten für ihn aus der Kommode im Schlafzimmer meiner Eltern, ständig in Gefahr, erwischt zu werden, weil die Schublade klemmte und schauerlich quietschte, wenn sie mit der notwendigen Gewalt herausgezogen wurde. Ich dachte immer, man höre sie bis zum Sendeltupfer Badeweiher, der direkt hinter dem Südhammerlinger Ortausgangschild war, gut drei Kilometer von unserem Haus entfernt, aber ich wurde nie erwischt. Vermutlich zählten meine Eltern auch nie nach. Sie waren liebenswert faul und aßen den mit Zuckerzimt bedeckten Pflaumenkuchen meiner Großmutter Vati-Hanni direkt vom Backblech, weil sie keine Lust hatten, Teller und Gabeln zu holen. Antons Mutter rauchte nicht, deshalb nahm er als Gegenzug ein paar Groschen aus der Kaffeedose, die hinter dem Salz und dem Mehl stand, nie zu viele, aber genug, um uns eine kleine Flasche Cola zu kaufen, die wir freilich nicht mit Willi teilten. Der wollte auch gar nicht, verkniff sich jeden höflich angebotenen Schluck und drohte uns mit Todesahnungen. "Davon kriegt man Läuse im Bauch und wird impotent." Die Sache mit den Läusen gefiel mir nicht wirklich, aber nachdem Willi mir erklärt hatte, was impotent bedeutet - "Da fällt dir der Schwanz ab!" -, galt meine größere Sorge Anton. Der pfiff großkotzig drauf. "Mir doch egal." Manchmal freilich verriet er sich doch, griff sich zwischen die Beine und hielt ihn fest wie eine besonders kostbare Glasmurmel, die ihm gestohlen werden könnte, während er trank, den Kopf im Nacken, die Augen halb geschlossen unter dem zu langen Stirnhaar, das ihm fast bis zur Nasenspitze reichte, wenn er es sich nicht aus dem Gesicht strich. Ich sprach ihn nie darauf an, fragte mich freilich insgeheim, wie wir das unseren Müttern beigebracht hätten, wenn er ihm tatsächlich abgefallen wäre. Und ob aus Anton dann ein Mädchen geworden wäre, einfach so, wie eben aus einer lausigen Raupe ein Schmetterling wird.
 
An diesem Nachmittag, der uns einen kurzen aufregenden Moment versprach, den wir leichtsinnig zu schnell vergaßen, kauten wir Lakritzschnecken, die wir uns in die Taschen gesteckt hatten, weil der alte Pit Knufferson wieder einmal hinter seiner Ladentheke eingeschlafen war. Er trank zu viel, schon am frühen Morgen kippte er sich ein gelbes stinkendes Gesöff in den Kaffee, und wir gönnten ihm sein Nickerchen, indem wir uns lautlos in seinen Krämerladen schlichen, uns rasch bedienten und ihn weiter schnarchen ließen. Ein schlechtes Gewissen hatten wir dabei nicht, wir steckten nie viel ein, und manchmal boten wir Willi davon an, der es mit einem breiten Grinsen in seinem einfältigen Gesicht dankbar annahm und sich davon ablenken ließ, dass mir die geklauten Zigaretten ausgegangen waren.
 
Anton las in einem Tittenmagazin - so nannte es Willi, und wir erklärten uns damit einverstanden, weil uns nichts Besseres einfiel -, während ich mit einem Stock in der Erde stocherte und Muster zeichnete, eine unserer sauber geklauten Lakritzschnecken bespukte und sie ihm unter die nackte Fußsohle klebte. "Iss sie, ohne deine Hände zu nehmen." Er rührte sich nicht, sagte nur: "Grab ein Loch und steck deinen Kopf hinein." Ich kratzte mit meinen Fingernägeln den festen Mutterboden auf, machte damit ein kleines Häufchen, groß genug, um es ihm ins Gesicht zu werfen als Antwort auf seine bescheuerte Reaktion, die mich gekränkt hatte, weil er weiter las und auf mächtige Brüste schaute, die ich nicht besaß. Und dann hielt ich ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Haffners Ring.
 
Tatsächlich war mir nicht klar, dass Antons Vater ihn getragen hatte, und die Innenfläche nach einer Gravur zu untersuchen kam uns nicht in den Sinn. Wir wussten noch nichts von den albernen Marotten der Erwachsenen, sich Namen und Daten einritzen zu lassen, um nicht zu vergessen, wie verliebt sie einmal gewesen waren.
 
Ich fühlte mich getäuscht von meinem Fund. Ich hätte mir gewünscht, einen Ring mit einem fetten Funkelstein zu finden, etwas ganz Besonderes, Filigranes, wie es feine Damen mögen. Aber da war nur dieser platte schwarze Stein, freilich in Gold gefasst, aber zu derb, um mir zu gefallen. Mein Vater besaß einen ähnlichen, nicht schön genug für mich, also gab ich ihn Anton, neugierig darauf, zu erfahren, ob er ihn einfach über den Zaun werfen oder doch besser Willi für ein paar Mark verkaufen würde, so wie ich es getan hätte. Ungern blickte er auf, ließ sich nur für einen kurzen Moment ablenken von den halbnackten dickbusigen Frauen, die für ihn an ihren Fingern leckten und die Beine spreizten, ohne dass er auch nur hätte ahnen können, wie das wirklich abläuft. Er befreite den Ring mit dem Zipfel seines Hemdes, den er umständlich aus der Hose schälte, von Dreckspuren, musterte ihn wie einen Käfer, den er nicht zuordnen konnte, und steckte ihn ein. Einfach so. "Und jetzt?" Ich war beleidigt, weil er mir keine Aufmerksamkeit schenkte, weil er mich nicht lobte oder verblüfft war über meine Entdeckung. Er sagte nur: "Ich frage Mutter."
 
Alice Haffner war eine Frau, die, obgleich in etwa gleichaltrig, sehr viel älter aussah als meine eigene leicht pummlige, immer lachende Mutter, die sich einen türkisfarbenen Lidstrich zog und ihr Haar blondierte. Einmal hatte ich gehört, wie mein Vater sie "geiles Ferkel" genannt hatte, und zu meinem Erstaunen war sie nicht böse geworden, sondern war auf seinen Schoß gehüpft, grad so, als hätte sie ihre Freude daran gehabt, mit einem Schwein verglichen zu werden. Ich war neun und sollte die kleinen Unterschiede später erfahren, aber selbst zu diesem frühen Zeitpunkt konnte ich mir sehr genau vorstellen, dass niemals jemand sich getraut hätte, zu Alice Haffner "Ferkel" zu sagen, ohne umgehend von ihr den Handfeger auf den Hintern geklatscht zu bekommen. Eben so, wie sie es mit Anton machte, wenn irgendwas war, was ihr nicht gefiel. Und das kam sehr oft vor, auch in meinem Beisein, deshalb war ich besonders höflich zu ihr, um nicht auch einen Klatscher abzubekommen.
 
Heute sehe ich sie als verhärmte, freudlose Frau, die Schreckliches getan hatte und ihre Schuld mit sich trug wie einen quälenden Buckel zwischen den Schulterblättern, zu schwer und zu hässlich, um nicht stündlich nach ihm tasten zu müssen. Damals schien sie mir eine nicht lebensbedrohende, aber doch mit Vorsicht zu behandelnde Hexe zu sein, mit dem straff im Nacken verknoteten, blassroten Haar und den dunklen Farben, die sie als harten Kontrast zu ihrer weißen, sonnenentwöhnten Haut trug, niemals wirklich lächelnd, niemals geschminkt, dabei so dünn, dass ein ernsthafter Sturm sie vermutlich in der Taille hätte abknicken lassen wie einen Strohhalm, glatt in der Mitte entzwei. Wohl um das und weitere Lästigkeiten zu vermeiden hielt sie sich die meiste Zeit im Schutz des Hauses auf, sprach ungern mehr als das Nötigste und starrte in den Fernseher, wenn sie nicht in der Küche schaffte. Manchmal, gottlob nicht allzu oft, lud sie mich zum Abendbrot ein, auf ihre gewohnt kühle Art, fragte "Magst du noch bleiben, Nina?", schmierte uns Schnittchen mit Leberwurst und Gürkchen - den glasigen stinkenden Käse mochte ich nicht -, und wirkte stets unruhig, als würde ich trotz ihrer Einladung stören. Ich aß hastig und verbrühte mir regelmäßig den Gaumen am dampfenden Kakao, bemüht, das alles schnell zum Ende zu bringen.
 
Meine Eltern erlaubten mir diese verlängerten Besuche, die mir nie wirklich gefielen, was ich für mich behielt. Denn sonst hätte ich erklären müssen, wie unwohl ich mich dabei fühlte, mit Alice Haffner in einem Raum zu sein, an einem Tisch sitzen zu müssen. Ich war erst neun, fast zehn, und ich war überzeugt davon, dass meine Eltern meine Abneigung nicht verstanden, mich dumm und frech und ungezogen genannt und mich - eine schreckliche Vorstellung - bei Antons Mutter verpetzt hätten.
 
Haffners Garten grenzte direkt an unseren, und so war auch Anton damals oft bei mir, freilich lieber noch bei meinem Vater, so mein heimlicher Verdacht, denn er machte sich gern nützlich, half bei kleinen Handwerksarbeiten, durfte auf die mir verbotene Leiter klettern und bastelte gemeinsam mit meinem Vater an unseren Fahrrädern herum, während ich meiner Mutter beim Unkrautzupfen helfen musste. "Prachtjunge, bist ein echter Kerl", sagte mein Vater, klopfte ihm auf die Schulter und strahlte. Das waren die wenigen Momente, in denen meine Mutter nicht lachte, und ihr merkwürdiger Blick verunsicherte mich, denn grundsätzlich mochte sie Anton. Vom Kummer meines Vaters über den Sohn, den er so gern gehabt hätte, neben mir, seiner Prinzessin, erfuhr ich erst Jahre später und teilte ihn mit meiner Mutter ohne Eifersucht und ohne Zorn, denn er starb, als ich achtzehn war, und ich behielt sein Bild in mir, denn niemals hatte er es mich spüren lassen, dass ihm etwas fehlte. Jemand. Ein patenter Bursche wie Anton, den er unwiederbringbar verlor mit unserem Umzug in die Stadt, nah genug an Südhammerling gelegen, dass man hätte hinfahren können, weit genug, um zu vergessen. Es zog uns auch nichts zurück. Nach dem Tod meines stets vitalen Vaters, der plötzlich grau und dünn und schrecklich alt geworden war, bevor er den Ärzten unter den Fingern wegstarb, blieb meine Mutter vier Jahre allein. Ich studierte an der Universität, auf die ich von unserem Balkon hätte spucken können, blieb bei ihr und suchte mir eine eigene kleine Wohnung, als es ihr immer ernster mit Georg, ihrem Neuen, wurde.
 
Mein Traum, der mich in dieser einen Nacht nach Antons und meiner Entdeckung unter der alten Zeder in Haffners Garten mit nassem Gesicht hatte aufwachen lassen, war stets mein Geheimnis geblieben. Ich hätte ihn auch gar nicht erzählen, geschweige denn erklären können, so wenig wie ich mit Gewissheit hätte sagen können, dass die Nässe in meinem Gesicht Tränen gewesen sind, träumend herausgedrückt, im Schlaf verheult. Oder einfach nur Schweiß, denn ich weiß noch, dass mir beim Aufwachen heiß gewesen war und dass ich alles für ein Glas mit eiskalter Milch gegeben hätte. Und dass ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, als jetzt und sofort zwischen meinen Eltern auf der Besucherritze in ihrem Bett zu liegen, denn sie erschienen mir stark und klug genug, um mich beschützen zu können. Tatsächlich rührte ich mich nicht. Traute mich nicht, lauter zu atmen, als es erforderlich war, lag nur stocksteif da und schwitzte, während mein Mund immer trockener wurde. Ich wagte nicht, neben mich zu blicken, befürchtete, da wäre immer noch dieser fürchterliche Kopf mit den Würmern im Haar, der durch die Kakerlake zu mir sprach, und ich blieb wach und völlig starr, wie festgenagelt auf meiner Matratze bis zum Morgengrauen, sicher verpackt in meinem viel zu schweren Bettzeug, bis es hell genug in meinem Zimmer war, um festzustellen, dass da nichts auf mich wartete. Von meinem zweiten Kopfkissen aus bewachte der einarmige Fred mich, und ich nahm ihn und nannte ihn "braver Teddy", ließ mich von ihm festhalten, bis ich hörte, dass es im Schlafzimmer meiner Eltern rumorte. Mein Vater war aufgestanden, die Nacht vorbei.
 
Erst zwanzig Jahre später holte sie mich wieder. Ein einziges Mal. Das war, als ich in dem Ring lesen wollte, den Alice Haffner in die Küchenschublade gelegt hatte, achtlos, wie mir damals schien, mit ihrem starren und betont erwachsenen Gesichtsausdruck, der einem Kind nichts verrät. Heute hätte ich sie beobachtet, jedes zögerliche Zucken eines Lids, eines Wangenmuskels registriert, hätte die feinen Schweißperlen auf der Oberlippe, an den Brauen gezählt. Vor zwanzig Jahren war alles anders. "Der wird dem Tom-Thimm gehören." Sagte sie damals, legte unseren Ring weg, und wir sahen uns nur düster an. Keine Belohnung. Weggepackt. Einfach so. Weil Tom-Thimm ihn wohl beim Buddeln verloren hatte. Thomas Thimmpolt, der zur Untermiete bei Kottersbecken am Straßenende kurz vor Wittelbachs Strick- und Bastelladen wohnte und sich für Gartenarbeiten in der Nachbarschaft anbot, war ein übel riechender zahnloser Kerl mit einem Bauch wie ein Sack voll nassem Laub, der ständig betrunken war und uns Kinder "Lausepack" nannte. Aber er war das, was meine Mutter eine gute Seele nannte, schenkte uns Kaugummi mit Kirschgeschmack und machte seine Arbeit ordentlich. So sagten es die Großen, und deshalb zollten wir ihm auch Respekt. Er war Thom-Thimm, der Südhammerlinger Gärtner. Ein mit Schnaps abgefüllter harmloser Bursche, der Rosen und Zypressen beschnitt und einen Siegelring unter Haffners Zeder verloren hatte. Wir glaubten das, wie wir halt auch glaubten, uns niemals trennen zu müssen, ewig in Haffners Garten hocken und Brausepulver mit unserer Spucke aufschäumen zu können
 
Ich war knapp dreißig, arbeitete halbtags in einer Krankenhausverwaltung und verfluchte zum wiederholten Male meine Unfähigkeit, nicht forsch die Hände gen Himmel gestreckt zu haben, als da einer gebrüllt hatte: "Wer von euch Zwergen will das große Los?" Immer noch hockte ich in meiner Freizeit über meinem Zeichenblock, malte lustige hässliche Gnome, schrieb böse Kindergeschichten und ärgerte mich über den Spanier an der Ecke, der für einen andalusischen Koch viel zu gut deutsch sprach, um ihn mit meinen Fremdsprachenkenntnissen irgendwie packen zu können. Bei "Los amigos" traf ich mich ab und an mit ehemaligen Studienkollegen, wir aßen und tranken typisch und hofften irgendwie immer noch, dass die Uni uns den Weg in die süße weite Welt öffnen würde. Nur die rechte Tür, die fand halt keiner.
 
Anton wird sie auch nicht gefunden haben. Das wird mir jetzt allmählich klar, nachdem geschehen ist, was in meinem so verflucht normalem Dasein urplötzlich wie ein widerliches Eitergeschwür gewuchert hat, um dann wie eine Seifenblase zu zerplatzen, in der sich die Farben eines Regenbogens spiegeln. Ich weiß, ich klinge kitschig, vielleicht bin ich einfach nur immer noch so aufgewühlt und traurig, vielleicht auch glücklich, versalzen glücklich, das mag das Ganze treffen. Tatsächlich habe ich noch nie einen Regenbogen gesehen. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater, der zum Kind wurde, wenn er Pfützen und Laubhaufen entdeckte, mich immer furchtbar aufgeregt in den Arm gekniffen hatte, wenn er glaubte, ein Wunder zu entdecken: Einen Schwarm Glühwürmchen, eine Sternschnuppe, einen dreibeinigen Hund, der einen fetten Pudel überholte, die Holzwürmer in Großmutters Bettpfosten, die nackte Nachbarin in der Hängematte. Einen Regenbogen. "Guck doch, Nina, siehst du das nicht?" Ich sah nie, ich starrte nur zum falschen Zeitpunkt dort hin, wohin sein Finger zeigte, blinzelte, erkannte nichts. "Schon wieder weg", sagte mein Vater dann, wohl enttäuschter als ich selbst, seine kleine unkonzentrierte Prinzessin, die leider die einzigartigen Momente im Leben stets verpasste. Bis auf meine Begegnung mit Antons Vater, der mich im Traum vor zwanzig Jahren kopflos um Hilfe bat, nachdem ich einen Ring unter einer alten Zeder im verschlafenen Südhammerling gefunden und ihn meinem besten Freund anvertraut hatte: Alfred Haffners Ring.
 
Anton rief mich an, als ich ihn längst schon aus meiner eigenen Welt verabschiedet hatte. Es war zu lange her, um noch mit einer gewissen Neugier an ihn zu denken, und ich wähnte ihn weit weg vom Greifbaren, nicht wissend, dass und wie ich existierte als Frau, in der er sein Mädchen nicht mehr erkannt hätte. In diesem Punkt irrte ich: Nach seinem Anruf, der mich am Telefon zu einem wirr stammelnden Vollidioten gemacht hatte - ich stand völlig neben mir, als er mich Nina nannte wie nur mein Vater und auch er vor einer Ewigkeit, für den Rest hieß ich Carolin -, war es für mich selbstverständlich, seiner Bitte, mich umgehend treffen zu können, sofort nachzukommen. Wie sonst hätte ich reagieren sollen, was sagen, ohne es bereuen zu müssen? Nur Minuten später stand er in meinem Wohnzimmer, aufrecht wie ein diensthabender Zinnsoldat, als müsse er mir eine Mitteilung machen, die Haltung erfordert. Stattdessen sah er mich nur an, so, als wolle er sich jede Sommersprosse, jede Locke, jede Lachfalte einprägen, um mich blind zeichnen zu können, blieb wortlos und umarmte mich schließlich wie das Mädchen, das zur Frau geworden war. Ich umklammerte ihn, schwieg mit ihm, und weil dieses Schweigen uns erwartungsvoll nervös machte und unaufgefordert alles sagte, küssten wir uns, hilflos und selbstverständlich, und liebten uns als Konsequenz auf meinem zitronengelben Teppich, auf dem niemand sonst seine Spuren hätte hinterlassen dürfen. So einfach war das.
 
Als ich ihm ein Glas Rotwein reichte, er es dankend nahm und mir tatsächlich bewusst wurde, noch keine einzige Frage gestellt zu haben, sah ich den Ring an seinem Finger. Es ist schwer, zu erklären, mag man mich für skurril, vielleicht schrullig trotz meines nicht wirklich nennenswerten Alters halten, aber ich schwöre, diesen Ring sofort als den identifiziert zu haben, den ich vor zwanzig Jahren in Haffners Garten gefunden hatte.
 
"Warum trägst Du ihn? Ausgerechnet diesen." Ich berührte seine Hand, kräftig, leicht gebräunt, strich über seine Fingernägel, glatt geschliffen wie meine, und erinnerte mich daran, wie er sie abgekaut hatte, bevor der Trauerrand ihnen das Unschuldige hätte nehmen können. "Er gehört meinem Vater." Nur diese Worte. Erneutes Schweigen, das mir verriet, wie ungern er erklären wollte, was so schwer erklärbar war. Für ihn, den Sohn, der seinen Vater nie wirklich hat kennenlernen können, weil seine Mutter ihm Erlebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen gestohlen hat. Für mich, die Freundin, die erwachsen geworden war und nicht mehr an rosafarbene Elefanten glauben wollte, die im Mai 1899 prächtig geschmückt über die Kurtitzbrücke in Südhammerling marschiert sein sollen. Und die auch nichts von abgetrennten Köpfen wissen wollte, die nachts auf ihrem Kissen liegen und sie ihr weinerliches Flehen und auch die Würmer nicht vergessen lassen wollen, die das Haar zu einem lebendigen Haufen machen.
 
Ich rauchte und trank, um nicht reden zu müssen, und da war da seine Stimme, die wie ein lauerndes Kaminfeuer knisterte, das eine Dezembernacht unvergesslich werden lässt. "Er ist tot, Nina. Ich will meine Mutter nicht länger schonen. Sie hat sich genommen, was sie glaubte, verdient zu haben. Er hat mir zuliebe geschwiegen. Aber jetzt braucht er ein Grab. Hilf ihm, Nina. Hilf mir, damit auch ich ruhig schlafen kann. So wie er. Endlich." Er tastete nach meinen Schläfen, massierte sie sanft, und obgleich ich mich fast unerträglich wach fühlte und noch dachte, ich würde diese wohl letzte Nacht meines Lebens mit einem Wahnsinnigen verbringen, der einmal mein Anton gewesen war, der Brausepulver aus meiner Handfläche geleckt und seinen Schwanz vor Coke beschützt hatte, muss ich einfach so eingeschlafen sein. Das ist derart absurd, dass ich mich weigern will, irgendetwas zu durchdenken, was in dieser Nacht passiert ist. Ich weiß, dass wir uns geliebt haben auf meinem kostbaren feinen Teppich, den ich eigenhändig verbrannt hätte, wäre nur Anton bei mir gewesen, mein Begleiter durch den Sommer vergangener Liebe, die ich für ihn empfunden hatte, obgleich wir Kinder gewesen sind, die sich zärtlich an den Haaren zogen und sich gegenseitig im Sendeltupfer Badeweiher ganz selbstverständlich fast ertränkten, nur, um den Freund im letzten Moment ans Tageslicht zu ziehen und nach Luft schnappen zu lassen. Ich hätte niemals gedacht, einen Mann so intensiv und doch so sanft, als wäre ich kostbares filigranes Porzellan, spüren zu können. Anton war schön, sein Körper muskulös, sein Haar so weich wie das einer jungen Katze, die unter meinen Händen schnurrt. Ich träumte in dieser Nacht erneut von Haffner - sein Kopf sah anständig, friedfertig aus, er wollte mich nicht erneut erschrecken, er sagte: "Nina, die Zeder wächst." und "Alice, es ist Zeit.", und ich träumte von Anton, meinem verstrubbelten Kinderfreund, dessen eine Socke bis zum Schnürsenkel heruntergerutscht war und in dessen Mundwinkeln noch klebrige Lakritz-Reste hingen. Er sah seine Mutter an, er streckte ihr die linke Hand entgegen. Eine kräftige Männerhand mit einem Siegelring. Er sah sie an. Und sie starb. Sie fiel um und war tot.
 
Anton war fort, als ich aufwachte. Haffners Ring lag auf meiner Nachtkonsole, neben dem Foto, das meine Eltern und mich im Fantasialändle vor einer kunterbunt beleuchteten Wasserrutsche mit kleinen Booten zeigen, die wie dilettantisch gepunktete Delphine mit tellergroßen Augen aussehen. Wir essen grüne Zuckerwatte, ein Mann im Pinguinkostüm hat uns fotografiert, und winzig im Hintergrund vor dem Gehege mit den Plastikpiranhas steht Anton und nötigt eine verschreckte Taube, seine Watte zu probieren. Wir hatten ihn damals mitgenommen, mein Vater hatte ihn eingeladen, um "dir mal echte Wale zu zeigen, Junge", aber wir haben nur falsche aus Gummi gesehen.
 
Am gleichen Tag noch nahm ich mir frei, um mit dem Ring nach Südhammerling zu fahren, und es war mir egal, ob die Verwaltung oder ich selbst mich verstand, ich wusste nur, ich muss dort hin. Alice Haffner trug ihren Haarknoten, der unwesentlich dünner und grauer geworden war, mit dem gleichen unverständlichen Stolz, der mich als Kind verunsichert hatte. Ich war nicht wirklich reifer geworden, ich schaute dieser Frau mit ihrer dürren Taille und der fast durchsichtigen Haut in die Augen und senkte meinen Blick wie ein verschrecktes Schulmädchen, auf das der Rohrstock wartet. Dann straffte ich meinen Körper, es war, als würde eine tiefe Männerstimme mich streng ermahnen, jetzt endlich groß und stark sein zu müssen, und es war befreiend, so rasch begreifen zu können, dass nicht ich diejenige war, die hätte Angst haben müssen. Ich grüßte sie nicht, ich öffnete nur meine rechte Faust, die den Ring bewahrte und ihn zeigen wollte - Schweiß hatte sich in ihr angesammelt, der Ring war unangenehm feucht, war mir fast lästig -, und ich öffnete meinen Mund und sagte Worte, die nicht ich ihm diktiert hatte: "Es ist Zeit, Frau Haffner. Alice."
 
Sie schluckte Schlaftabletten, nachdem sie mich über Antons Tod informiert und mich hinausgeworfen hatte. Nicht ohne den Ring an sich zu nehmen, den sie in der darauffolgenden Nacht - ich selbst schlief in der Hammerling-Pension, die nie ausgebucht war und die mir nur als ein nass geweintes Kissen in Erinnerung bleibt - erneut unter der Zeder in der fest gefrorenen Erde vergrub. Dort fand man sie, steif und vergiftet, sie trug ein geblümtes Hauskleid, Hauspantinen aus kitschig besticktem Samt und eine schwarze Schulterstola, viel zu wenig für die Jahreszeit. Ich erfuhr davon, bekreuzigte und verfluchte mich, dann beantragte ich, noch am gleichen Tag unter der Zeder in Haffners Garten zu graben. Man erklärte mich wohl für so verrückt, wie ich mich selbst empfand, aber man grub und fand ihn. Anton Haffner. Jetzt endlich wird er sein Grab bekommen. Ein richtiges. Es lohnte sich für ihn nicht mehr, dort zu lauern und zu schweigen für seinen Sohn, denn der war tot. Ich bin zufrieden, weil alles seine Richtigkeit gefunden hat.
 
Alice Haffner erschlug ihren Mann Alfons vor sechsundzwanzig Jahren aus Eifersucht, trennte seinen Kopf ab und vergrub ihn unter der noch jungen Zeder in ihrem Garten, die zu einer beachtlichen, immergrünen Schönheit heranwuchs. Wie die zierliche Frau es geschafft hatte, den einsneunzig großen stämmigen Maurer diskret zu beseitigen, der sie wohl endgültig hatte verlassen wollen für Britta Ebbers, eine Hinzugezogene mit Zigeunerblut, die schnell wieder auf und davon gewesen war, blieb und bleibt ein Rätsel. Einige flüsterten auf die Schnelle, der schwachsinnige Tom-Thimm, der in seiner Gemütlichkeit eh nie wusste, was er tat, hätte ihr damals geholfen, dafür hätte sie ihn in ihrem Bett sabbern lassen.
 
Die offizielle Version nach Alfons Haffners Verschwinden lautete, er habe sich klammheimlich davon gemacht, Frau und Sohn im Stich gelassen. Das hatte niemand damals so recht glauben wollen, wusste man doch, wie abgöttisch der Alfons seinen Anton liebte, munkelte man doch, er habe der Alice das Kind wegnehmen wollen, um mit ihm und Britta nach Norddeutschland zu gehen, dorthin, wo die Fischköppe Alfons einen guten Mann hätten sein lassen können, der seinen Kräuterschnaps auf das Wohl seines Stammhalters trinkt.
 
Tatsächlich ist Alfred Haffner kein Säufer gewesen. Er trank, um Alice überhören zu können, und als er eines Nachts ganz besonders schlecht hörte, schlug sie mit der Wut auf das Hässliche in ihr zu. Warum sie seinen Kopf abtrennte, bleibt Sache der Spekulation, aber sie schnitt ihm auch die Hodensäcke ab, vielleicht war sie in ihrem ganz gewissen Element, das keine Voyeure zugelassen hätte.
 
Anton Haffner starb auf nasser Fahrbahn in den Abendstunden, bevor er mich aufgesucht hatte. Meine fast wortlose Nacht mit ihm wird mich ein Leben lang nach ihm betten lassen, ohne dass da jemand sein wird, der mein Kinn in die Höhe drückt für einen Kuss, der nach Lakritz schmeckt. Der Gedanke freilich gefällt mir nur bedingt, von einem Toten besucht worden zu sein, wenn es auch spannender ist, als von einem vergänglichen Fick mit meinem Spanier aus "Los amigos" zu spinnen.
 
Kurz zuvor muss Anton von der Herkunft des Rings erfahren haben, den seine Mutter in der Küchenschublade aufbewahrt hatte, denn er trug ihn, als seine Leiche abtransportiert wurde. Ob er gewusst hat, dass Alice Haffner seinen Vater getötet hatte, bleibt für mich nur Vermutung. Für mich ist nur eins klar: Anton war mit dem Motorrad auf dem Weg zu mir, als er verunglückte. Er hätte noch fünfzehn Kilometer zu fahren brauchen.
 
Morgen wird Anton beerdigt. Alice liegt noch immer kalt und wartet. Aber auf sie warte ich nicht. Ich werde eine Rose auf Antons Sargdeckel legen, schaufle ein Häufchen Erde hinterher und überlege, wie es wäre, ihm mit Spucke eine Lakritzschnecke unter die Fußsohle zu kleben. "Iss sie, ohne deine Hände zu nehmen." Und er sagt, ohne die Augen aus Willis Tittenmagazin zu nehmen: "Grab ein Loch und steck deinen Kopf hinein."
 
Vielleicht hätte ich meinen Kopf wieder herausziehen sollen. Denn ich kann nicht beschwören, dass es so gewesen ist. Haffners Ring bleibt mein Geheimnis. Wir hätten ihn über den Gartenzaun werfen sollen. Oder dem debilen Willi verkaufen. Für ein paar Mark Unschuld. 

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