Ein wilder, freiheitsdurstiger Kitzbock kehrte erschöpft von seinen kühnen Streifzügen am Morgen nach Hause zurück. Seine Mutter hatte sich schon längst im Moos ihr Bett bereitet.
"Du kommst spät, mein Sohn", sagte sie, "ich glaube, du wagst dich immer zu weit von Vater und mir fort. Du springst im Wald umher, als gäbe es dort keine Feinde."
Der junge Bock hörte gar nicht auf seine Mutter, sondern berichtete begeistert: "Stell dir vor, was ich heute entdeckt habe; einen ganz klaren Bach habe ich gesehen. Das Wasser ist viel frischer als das von dem mickrigen Rinnsal in der Schlucht."
"Was", rief die Mutter voller Entsetzen, "du warst am Wasser? Weißt du denn nicht, daß am Bach das Reich des Tigers ist?"
"Was ist ein Tiger?" fragte der Kitzbock unbeeindruckt. "Der Tiger ist unser schrecklichster Feind; ein widerliches Scheusal ist er, ein gräßliches, garstiges Tier. Sein fürchterliches Gesicht verrät dir sofort sein düsteres, mörderisches Gemüt. Oh, dieser greuliche Widerling", ereiferte sich die sonst sanftmütige Rehmutter, "sein Rachen raucht geradezu vom Blute seiner Opfer. Weder der Bär noch der Löwe sind so schrecklich wie dieses abstoßende Ungeheuer."
Der kleine Bock unterbrach seine Mutter: "Schon gut, jetzt kenne ich diesen bösen Herrn. Ich verspreche dir, ich werde mich vor ihm in acht nehmen."
Am Abend zog es den kleinen Rehbock wieder zum Bach, obwohl auch sein Vater mit ihm gezankt hatte, als er ihm von seiner Entdeckung erzählte, und ihm ausdrücklich verboten hatte, das Gebiet des Tigers zu betreten. "Mutter hat mir gesagt, wie der Tiger aussieht", dachte der kleine Bock sorglos, "es kann mir also nichts geschehen."
Am Wasser erblickte er ein fremdes Tier, das friedlich im hohen Gras lag und ruhig um sich schaute. "Das ist bestimmt kein Tiger", sagte der Kitzbock zu sich, "denn es ist ein sehr schönes Tier mit einem so hübschen Fell. Auch blickt es fast ein wenig traurig in die Welt. Nein, dieses Tier sieht nicht wie ein Mörder aus. Und wie groß und kräftig es ist! So möchte ich auch einmal werden."
Jetzt hatte der Tiger den Kitzbock gewittert, und mit wenigen, langen Sprüngen war er bei dem überraschten Bewunderer. Verwirrt rannte dieser davon und lief um sein Leben. Der Tiger hatte ihn verfehlt und jagte ihm nun grimmig nach. Aber der junge Bock hatte an diesem Abend Glück und konnte seinem Verfolger entwischen.
Der Vater schalt sehr mit seinem waghalsigen, ungehorsamen Sohn, als er hörte, welcher Gefahr er gerade entronnen war: "Mußt du immer so übermütig herumtollen? Wenn du nicht auf deine Eltern hörst, so wirst du wohl kaum deine ersten Hörner erleben."
Der zu Tode erschrockene Kitzbock zitterte noch am ganzen Körper. "Das ist gemein!" empörte er sich. "Mutter hat mir zwar gesagt, wie ein Tiger ist, aber nicht, wie er wirklich aussieht. Wie konnte ich wissen, daß hinter so einem schönen Wesen ein mörderisches Scheusal steckt."
"Einfältiges Kind", beruhigte der Vater seinen Sohn, "nicht jeder Bösewicht zeigt sich in seiner wahren Gestalt. Meistens tarnt er sich mit Glanz und falschem Schein." Und die Rehmutter machte sich bittere Vorwürfe, daß sie ihrem Sohn ein so einseitiges Bild von dem Tiger gegeben hatte.