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经典小说德语版:简爱-Elftes Kapitel
日期:2013-10-27 08:03  点击:233
Meine Heimat ist also – wenn ich endlich ein Heim gefunden – eine Hütte: ein kleiner Raum mit weiß getünchten Wänden, ein mit Sand bestreuter Fußboden; darin stehen vier gemalte Stühle und ein Tisch, eine Uhr, ein Schrank mit zwei, drei Tellern und Schüsseln und ein Theeservice von Delfter Steingut. Darüber ein Zimmer von derselben Größe der Küche mit einer Bettstelle aus Tannenholz und einer Kommode, die zwar klein, aber dennoch zu groß ist, als daß meine ärmlichen Kleidungsstücke sie hätten ausfüllen können; obgleich meine gütigen, großmütigen Freunde dieselben durch einen kleinen Vorrat der allernotwendigsten Dinge vermehrt hatten.
Es ist Abend. Mit einer Orange als Belohnung habe ich die kleine Waise entlassen, welche mir als Hausmädchen dient. Ich sitze allein am Herd. Heute morgen ist die Dorfschule eröffnet worden. Ich habe zwanzig Schülerinnen. Nur drei von dieser Zahl können lesen; nicht eine einzige schreiben oder rechnen. Mehrere stricken, nur einige nähen ein wenig. Sie sprechen den breitesten Accent der Gegend. Für den Augenblick bietet sich ihnen wie mir noch die Schwierigkeit, unsere gegenseitige Sprache zu verstehen. Einige von ihnen sind ebenso ungezogen, roh, unumgänglich wie unwissend; andere wieder sind sanft, hegen große Lernbegierde und zeigen Anlagen, welche mir Freude machen. Ich darf nicht vergessen, daß diese armselig gekleideten kleinen Dorfmädchen ebensogut von Fleisch und Blut sind, wie die Sprößlinge der edelsten Geschlechter, und daß die Keime angeborener Vortrefflichkeit, Verfeinerung, Intelligenz, Seelengüte wahrscheinlich ebensogut in ihrem Herzen schlummern wie in dem der Höchstgeborenen. Meine Pflicht wird es sein, diese Keime zu entwickeln; gewiß wird es mir Befriedigung und Genugthuung gewähren, wenn ich gewissenhaft dieses Amtes walte. Viel Freude erwarte ich nicht von dem Leben, das vor mir liegt; aber es wird mir zweifellos gelingen, mich wenigstens von einem Tage zum andern zu schleppen, wenn ich mein Gemüt stähle und meine Kräfte bis aufs Äußerste anstrenge.
War ich sehr freudig, zufrieden, stetig während der Stunden, die ich während dieses Morgens und Nachmittags dort unten in dem kahlen, bescheidenen Schulzimmer verbrachte? Wenn ich mich nicht selbst täuschen will, so muß ich entgegnen: Nein, bis zu einem gewissen Grade war ich trostlos. Ich fühlte mich – ja, Idiotin, die ich bin – ich fühlte mich herabgewürdigt. Ich fragte mich, ob ich nicht einen Schritt gethan, der mich eher in der menschlichen Gesellschaft herabsetzte, als emporhob. Ich war schwach genug, über die Armseligkeit und Roheit alles dessen, was ich um mich herum sah und hörte, empört zu sein. Aber ich will mich um dieser Gefühle willen nicht zu sehr hassen und verachten: ich weiß, daß sie ein großes Unrecht waren – und das ist schon ein großer Schritt zur Besserung; ich werde kämpfen, um über sie zu siegen. Morgen, hoffe ich, werde ich derselben vollständig Herr werden; und in wenigen Wochen wird jegliche derartige Empfindung aus meinem Herzen geschwunden seien. Möglicherweise tritt in wenigen Monaten schon Zufriedenheit an die Stelle des Ekels, wenn ich bei meinen Schülerinnen Fortschritte und eine Wendung zum Bessern wahrnehmen kann.
Inzwischen will ich eine Frage an mich richten: Was ist besser? – der Versuchung erlegen zu sein, der Leidenschaft Gehör geschenkt zu haben; keine qualvolle Anstrengung gemacht zu haben, keinen Kampf gekämpft zu haben, sondern in eine seidene Schlinge geraten, zwischen den Blumen, welche diese bedeckten, eingeschlafen zu sein; in einem südlichen Klima inmitten des Luxus einer Prachtvilla zu erwachen; jetzt in Frankreich als Mr. Rochesters Geliebte zu leben; wahnsinnig vor Liebe während eines Teiles meines Daseins – denn für eine Spanne Zeit würde er mich geliebt haben, o, ganz gewiß, er würde mich vergöttert haben! Er hatte mich geliebt – kein Mensch wird mich jemals lieben, wie er es that. Ich werde niemals wieder die süße Huldigung empfinden, die der Schönheit, der Jugend und der Anmut gezollt wird – denn für keines andern Augen werde ich jemals wieder mit diesen Reizen ausgestattet erscheinen. Er hatte mich lieb – er war stolz auf mich – das wird kein Mann wieder sein!
Aber wohin wandern meine Gedanken, und was sage ich? Vor allen Dingen – was empfinde ich? Ist es besser, frage ich, die Sklavin in dem Paradiese eines Thoren im sonnigen Süden zu sein – vom Fieber der Seligkeit einer einzigen Stunde befallen zu sein – und in der nächsten schon von den bitteren Thränen erstickt zu werden, welche Scham und Gewissensbisse uns auspressen – oder frei und ehrlich in einem frischen Gebirgswinkel im gesunden Herzen von England eine einfache Dorfschullehrerin zu sein?
Ja. Jetzt fühle ich, daß ich recht that, als ich mich streng an Gesetz und Grundsätze hielt und die wahnsinnigen Einflüsterungen eines unseligen Augenblicks erstickte und vernichtete. Gott ließ mich die rechte Wahl treffen! Ich danke der Vorsehung für ihre gütige Führung! Als mein Dämmerstundensinnen bei diesem Punkt angelangt war, ging ich an meine Thür und betrachtete den Sonnenuntergang des Herbsttages, die stillen Felder vor meiner Hütte, welche samt der Schule eine halbe Meile vom Dorfe entfernt lag. Die Vögel sangen ihr letztes Lied:
»Mild war die Luft und süß der Tau,«
 
Als ich so hinausblickte, fühlte ich mich glücklich und war daher ganz erstaunt, mich dennoch gleich darauf in Thränen zu sehen – und weshalb? Um des Geschickes willen, das mich von der Seite meines Herrn und Meisters gerissen, von ihm, den ich in diesem Leben nicht wiedersehen würde; – um des verzweifelten Kummers und der verhängnisvollen Wut willen – die Folgen meiner Flucht – welche ihn jetzt vielleicht vom Pfade des Rechtes abzogen, zu weit, um noch auf eine schließliche Umkehr hoffen zu dürfen. Bei diesem Gedanken wandte ich mein Gesicht ab von dem lieblichen Abendhimmel und dem einsamen Thal von Morton; ich sage einsam, denn auf jenem Teil desselben, der meinem Auge sichtbar, befand sich nicht ein einziges Gebäude mit Ausnahme der Kirche und des Pfarrhofes und auch diese beiden waren fast gänzlich unter schattigen Bäumen versteckt. Weit hinaus am äußersten Ende erblickte man das Dach von Vale-Hall, wo der reiche Mr. Olliver mit seiner Tochter wohnte. Ich legte die Hand über die Augen und lehnte meinen Kopf an die steinerne Umrahmung meiner Thür; aber bald machte ein leises Geräusch an der Pforte, welche meinen kleinen Garten von der davorliegenden Wiese abschloß, mich wieder aufblicken. Ein Hund – der alte Carlo, Mr. Rivers' Vorstehhund, wie ich auf den ersten Blick sah – stieß mit der Schnauze an das Thor, und Mr. St. John selbst lehnte mit verschränkten Armen darauf. Er runzelte die Stirn und sah mich mit ernstem, fast unwilligem Blick an.
Ich forderte ihn auf, einzutreten.
»Nein, ich kann nicht bleiben; ich bringe Ihnen hier nur ein kleines Paket, das meine Schwestern für Sie zurückgelassen haben. Ich glaube, es enthält einen Farbenkasten, Pinsel und Papier.«
Ich näherte mich ihm, um es entgegen zu nehmen; es war eine willkommene Gabe. Als ich zu ihm trat, prüfte er mein Gesicht, wie es schien, mit Strenge und Härte; ohne Zweifel trug es noch die allzu deutlichen Spuren der eben vergossenen Thränen.
»Haben Sie die Arbeit Ihres ersten Tages schwerer gefunden, als Sie erwarteten?« fragte er.
»O nein. Im Gegenteil, ich glaube, daß ich mit der Zeit sehr gut mit meinen Schülerinnen fertig werden könnte.«
»Aber vielleicht Ihre Bequemlichkeit – Ihre Hütte – Ihre Möbeln – haben Ihre Erwartungen getäuscht? – Sie sind in der That armselig genug; aber – –«
Hier unterbrach ich ihn.
»Meine Hütte ist sauber und wetterfest; meine Möbeln sind bequem und hinreichend. Alles was ich sehe, hat mich dankbar gemacht, nicht traurig. Ich bin nicht ganz solch eine Thörin, daß ich das Fehlen eines Teppichs, eines Sofas, eines silbernen Bestecks beklagen und beweinen könnte; außerdem – vor fünf Wochen besaß ich gar nichts – ich war eine Ausgestoßene, eine Bettlerin, eine Heimatlose auf der Landstraße – jetzt habe ich Freunde – ein Heim – eine Beschäftigung. Ich staune die Güte Gottes an, die Großmut meiner Freunde; die Milde meines Geschicks. Ich bereue nichts – ich beweine nichts.«
»Aber Sie empfinden die Einsamkeit wie einen Druck? Das kleine Haus da hinter Ihnen ist düster und leer.«
»Ich habe kaum noch Zeit gehabt, mich eines gewissen Gefühls der Ruhe zu erfreuen, wie viel weniger nun, unter einem Druck der Einsamkeit ungeduldig zu werden.«
»Nun gut. Ich hoffe, daß Sie die Zufriedenheit, welcher Sie Ausdruck verleihen, auch empfinden. Auf jeden Fall wird Ihr gesunder Menschenverstand Ihnen sagen, daß es noch zu früh ist, um der schwankenden Furcht von Lots Weib nachzugeben. Ich weiß allerdings nicht, was Sie verlassen hatten, bevor ich Sie kennen lernte; aber ich rate Ihnen, standhaft jeder Versuchung zu widerstehen, welche Ihnen einflüstern könnte, zurück zu blicken. Erfüllen Sie ohne Wanken die Pflichten Ihres jetzigen Berufs, für die Dauer einiger Monate wenigstens.«
»Das ist es auch, was ich zu thun gedenke,« entgegnete ich.
St. John fuhr fort:
»Es ist eine schwere Aufgabe, unsere Neigungen im Zaum zu halten und unseren angeborenen Trieben entgegen zu arbeiten. Daß man es jedoch kann, – das weiß ich aus Erfahrung. Gott hat uns bis zu einem gewissen Grade die Macht gegeben, unser eigenes Schicksal zu gestalten; und wenn unsere Kräfte eine Stählung verlangen, die sie nicht haben können – wenn unser Wille einem Pfade zustrebt, den wir nicht wandeln dürfen – so brauchen wir weder Hungers zu sterben, noch in Verzweiflung still zu stehen: wir müssen dann nur eine andere Nahrung für unser Gemüt suchen, die ebenso kräftig ist, wie jene, die wir zu genießen verlangten – und vielleicht reiner und gesünder; und für unseren abenteuersuchenden Fuß müssen wir einen Weg aushauen, der ebenso gerade und ebenso breit ist wie jener, den das Schicksal uns versperrt hat – wenn auch vielleicht rauher und mühevoller.
»Vor einem Jahr noch war auch ich namenlos elend, weil ich glaubte, einen Irrtum begangen zu haben, indem ich mich dem geistlichen Stande widmete; seine einförmigen Pflichten ermüdeten mich zu Tode. Ich verlangte sehnsüchtig nach dem thätigen Leben der großen Welt – nach den aufregenden Mühen einer litterarischen Carriere – nach dem Berufe eines Künstlers, Schriftstellers, Redners; alles, alles andere, nur kein Priester; ja, unter dem Chorrock eines Hilfspredigers schlug das Herz eines Politikers, eines Soldaten; ich dürstete nach Ruhm; ich liebte die Berühmtheit, es gelüstete mich nach Macht. Ich begann zu überlegen. Mein Leben war so elend, daß ein Wechsel eintreten mußte, wenn ich nicht sterben sollte. Nach einer langen Zeit der Dunkelheit und des Kampfes brach die Erleuchtung über mich herein, und Hilfe und Erlösung kamen. Mein eng begrenztes Dasein erweiterte sich plötzlich zu einer Ebene ohne Grenzen – meine Fähigkeiten vernahmen einen Ruf vom Himmel, sich aufzuraffen, all ihre Kräfte zusammen zu nehmen, ihre Flügel auszubreiten und sich über den Gesichtskreis zu erheben. Gott hatte eine Mission für mich, welche auszuführen, gut auszuführen es der Geschicklichkeit und Kraft, der Beredsamkeit und des Mutes, der besten Eigenschaften eines Soldaten, Staatsmannes und Redners bedurfte: denn all diese konzentrieren sich in einem guten Missionär.
»Ich beschloß ein Missionär zu werden. Von diesem Augenblick an änderte sich mein Gemütszustand; die Fesseln lösten sich und fielen ab von jeder Fähigkeit und ließen von der Gefangenschaft nichts zurück als die qualvoll schmerzhafte Empfindlichkeit, welche allein die Zeit zu heilen vermag. Mein Vater widersetzte sich diesem Entschluß in der That; aber seit seinem Tode habe ich kein wichtiges oder berechtigtes Hindernis mehr zu bestreiten. Wenn meine Angelegenheiten geordnet sind, ein Nachfolger für Morton gefunden; einige Gefühlssachen, Herzensangelegenheiten vernichtet – ein letzter Kampf mit menschlicher Schwäche, in dem ich weiß, daß ich siegen werde, weil ich geschworen habe, daß ich siegen will – so verlasse ich Europa für immer und ziehe gen Osten.«
Er sagte dies alles in seiner eigentümlichen, gedämpften und doch pathetischen Stimme. Als er zu sprechen aufgehört, sah er nicht auf mich, sondern auf die untergehende Sonne, die auch meine Blicke gefesselt hielt. Sowohl er wie ich hatten den Rücken gegen den Fußpfad gewendet, welcher vom Felde her an meine Gartenpforte führte. Wir hatten auf dem grasbewachsenen Wege keinen Fußtritt vernommen; der Bach, welcher durch das Thal rieselte, war der einzige sanfte Laut des Ortes und der Stunde. Es war also nicht zu verwundern, daß wir zusammenschraken, als eine fröhliche Stimme, hell wie eine Silberglocke, ausrief:
»Guten Abend, Mr. Rivers. Und guten Abend, alter Carlo. Ihr Hund erkennt seine Freunde schneller, als Sie, Sir; er spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schweife, als ich noch am äußersten Ende der Wiese war, und Sie drehen mir noch jetzt den Rücken zu, Sir.«
Es verhielt sich so. Obgleich Mr. Rivers bei dem ersten dieser wohllautenden Accente aufgefahren war, wie wenn ein Donnerkeil die Wolken oberhalb seines Kopfes zerrissen hatte, so stand er noch jetzt, als jener Satz zu Ende gesprochen war, in derselben Stellung, in welcher die Sprecherin ihn überrascht hatte – sein Arm lehnte auf der Pforte, sein Antlitz war nach Westen gerichtet. Endlich wandte er sich um, gemessen und langsam. Mir war es, als sei eine liebliche Vision an seiner Seite erschienen. Kaum drei Fuß von ihm entfernt stand eine weißgekleidete Gestalt – eine jugendliche, anmutige Figur, voll doch von zarten Kontouren; und als sie, nachdem sie sich niedergebeugt, um Carlo zu liebkosen, sich wieder emporrichtete und einen langen Schleier zurückwarf, blickte unter demselben ein blühendes Antlitz von vollkommener Schönheit hervor. Vollkommene Schönheit ist ein starker Ausdruck; aber ich nehme ihn nicht zurück und rechtfertige ihn auch nicht; Züge so süß wie das gemäßigte Klima Albions sie nur jemals gemeisselt; Farben so rosenrot und lilienweiß, wie sie unter diesem wolkigen Himmel, in diesen feuchten Winden jemals erzeugt und geblüht, rechtfertigen in diesem Falle die Bezeichnung: vollkommene Schönheit. Kein einziger Reiz fehlte, kein Fehler war sichtbar; das junge Mädchen hatte zarte und regelmäßige Züge; die Augen waren von solcher Form und Farbe, wie wir sie nur auf lieblichen Gemälden sehen, groß und dunkel und offenen Blicks; die langen, dicken Augenwimpern, welche dem schönen Auge einen so sanften Reiz verliehen, die geschweiften Brauen, welche soviel Klarheit gaben; die weiße, reine Stirn, welche der lebhaften Schönheit von Farbe und Ausdruck soviel Ruhe hinzufügte; die Wangen oval, frisch und weich; die Lippen ebenso frisch, rosig, gesund und süß geformt; die leuchtenden, makellosen Perlzähne; das kleine Kinn mit schelmischem Grübchen; der Schmuck reicher, schwerer Haarflechten – alles Vorzüge mit einem Worte, welche vereint das Ideal wahrer Schönheit verwirklichen – und diese Vorzüge besaß sie. Ich war erstaunt, als ich diese schöne Gestalt ansah; ich bewunderte sie von ganzem Herzen. Die Natur hatte sie augenscheinlich in ihrer glänzendsten Laune geschaffen; und indem sie ihren gewöhnlichen stiefmütterlichen Anteil von Gaben vergessen zu geben, hatte sie diesen ihren Liebling mit der Freigebigkeit einer Großmutter ausgestattet.
Und was dachte St. John Rivers von diesem Engel in Menschengestalt? Es war ganz natürlich, daß ich diese Frage an mich stellte, als ich sah, wie er sich zu ihr wandte und sie anblickte; und ebenso natürlich suchte ich die Antwort auf diese Frage in seinem Gesicht. Er hatte sein Auge schon wieder von der Peri abgewandt und sah auf ein bescheidenes Büschel Tausendschönchen, welches an der Pforte blühte.
»Ein lieblicher Abend, aber es ist zu spät, als daß Sie allein draußen sein dürften,« sagte er, indem er die schneeigen Köpfchen der schlafenden Blumen zertrat.
»O, ich bin erst heute nachmittag aus S– zurück,« (hier nannte sie den Namen einer ungefähr zwanzig Meilen entfernten großen Stadt). »Papa sagte mir, daß Sie Ihre Schule eröffnet hätten, und daß die neue Lehrerin angekommen sei; und deshalb setzte ich nach dem Thee meinen Hut auf und lief ins Thal hinauf, um sie zu sehen. Ist sie das?« Dabei deutete sie auf mich.
»Das ist sie,« sagte St. John.
»Glauben Sie, daß Morton Ihnen gefallen wird?« fragte sie mich mit einer zarten und einfachen Naivität des Tones und der Stimme, die wenn auch kindisch, so doch reizend war.
»Ich hoffe es zuversichtlich. Denn ich habe gar manche Ursache dazu.«
»Haben Sie Ihre Schülerinnen so aufmerksam gefunden, wie Sie erwarteten?«
»Durchaus.«
»Und gefällt Ihnen Ihr Häuschen?«
»Sehr.«
»Habe ich es hübsch eingerichtet?«
»Sehr hübsch in der That.«
»Und traf ich eine gute Wahl, als ich Alice Wood zu Ihrer Dienerin machte?«
»Das thaten Sie wirklich. Sie ist gelehrig und flink.«
Und dies, dachte ich, ist Miß Oliver, die Erbin; ebenso reich durch die Gaben des Glücks wie durch jene der Natur! Welche glückliche Konstellation der Gestirne mag nur bei ihrer Geburt gewaltet haben?
»Ich werde zuweilen heraufkommen und Ihnen in den Lehrstunden behilflich sein,« fügte sie hinzu, »Es wird eine Abwechslung für mich sein, wenn ich Sie dann und wann besuchen darf, und ich liebe die Abwechslung. O Mr. Rivers, ich bin während meines Aufenthalts in S– so lustig und ausgelassen gewesen. Gestern abend oder vielmehr diese Nacht habe ich bis zwei Uhr getanzt. Seit den Revolten ist das –te Regiment dort stationiert; und die Offiziere sind die liebenswürdigsten Leute der Welt; sie stellen alle eure jungen Scherenschleifer und Messerkaufleute in den Schatten.« Mir schien es, als ob Mr. St. Johns Unterlippe sich vorschob und die Oberlippe sich für einen Augenblick kräuselte. Sein Mund sah auf jeden Fall sehr zusammengekniffen aus, und der untere Teil seines Gesichts war ungewöhnlich ernst und gesetzt, während das lachende Mädchen ihm diese Mitteilungen machte. Dann erhob er den Blick von den Tausendschönchen und heftete ihn auf sie. Es war ein durchdringender, unfreundlicher, bedeutsamer Blick. Sie antwortete mit einem zweiten Lachen, und Lachen kleidete ihre Jugend, ihre Rosen, ihr Grübchen, ihre leuchtenden Augen wohl.
Als er so stumm und ernst dastand, begann sie von neuem, Carlo zu liebkosen. »Der arme Carlo liebt mich,« sagte sie. »Er ist nicht hart und fremd mit seinen Freunden, und wenn er sprechen könnte, würde er nicht schweigen.«
Als sie den Kopf des Tieres streichelte und sich mit angeborener Anmut vor seinem jungen, strengen Herrn beugte, sah ich, wie eine purpurne Glut das Antlitz jenes Herrn überzog. Ich sah, wie ein plötzliches Feuer die Härte seines Auges schmolz und dort in unbekämpfbarer Rührung aufflackerte. So gerötet und erregt sah er als Mann fast ebenso schön aus wie sie als Weib. Seine Brust hob sich, doch nur ein einziges Mal, als wenn sein Herz des despotischen Zwanges müde, sich gegen seinen Willen ausdehnte und einen verzweifelten Versuch zur Erlangung seiner Freiheit machte. Aber er bändigte es, wie ein entschlossener Reiter ein sich bäumendes Pferd bändigen würde.
Weder mit Wort noch Bewegung antwortete er auf ihr zartes Entgegenkommen.
»Papa klagt, daß Sie uns niemals mehr besuchen,« fuhr Miß Oliver fort, indem sie aufblickte. »Sie sind ein Fremder in Vale-Hall geworden. Er ist heute abend allein und fühlt sich nicht ganz wohl. Wollen Sie mit mir nach Hause gehen und ihn besuchen?«
»Es ist schon zu spät, um Mr. Oliver noch zu belästigen,« entgegnete St. John.
»Schon zu spät! Aber ich erkläre Ihnen, daß es durchaus nicht zu spät ist. Dies ist gerade die Stunde, in welcher Papa am meisten der Gesellschaft bedarf. Jetzt sind die Eisenwerke geschlossen und er ruht aus von seinen Geschäften. Jetzt, Mr. Rivers, ich bitte Sie, kommen Sie! Weshalb sind Sie so zurückhaltend, so fürchterlich ernst?«
Dann füllte sie die Lücke, welche durch sein Schweigen entstand, durch ihre eigene Antwort aus.
»Ach, ich vergaß!« rief sie aus, indem sie ihren schönen Lockenkopf schüttelte, als sei sie über sich selbst entsetzt. »Ich bin so gedankenlos und zerstreut! Verzeihen Sie mir! Es war meinem Gedächtnis gänzlich entfallen, daß Sie Gründe genug haben, um für mein albernes Geschwätz nicht aufgelegt zu sein, Diana und Mary haben Sie verlassen; Moor-House ist verschlossen, und Sie sind einsam. Sie thun mir von Herzen leid, ganz gewiß! Kommen Sie mit und besuchen Sie Papa.«
»Nicht heute abend, Miß Rosamond, nicht heute abend.«
Mr. St. John sprach beinahe wie ein Automat. Nur er allein wußte, was es ihn kostete, ihr diese Bitte abzuschlagen.
»Nun, wenn Sie so eigensinnig sind, will ich Sie verlassen; denn ich darf nicht länger ausbleiben. Der Tau beginnt schon zu fallen. Gute Nacht!«
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er berührte sie leicht, »Gute Nacht!« wiederholte er mit einer Stimme, die so hohl und matt wie ein Echo klang. Sie wandte sich zum Gehen. Doch gleich darauf kam sie zurück.
»Sind Sie ganz wohl?« fragte sie. Wohl mochte sie diese Frage stellen, denn sein Gesicht war so bleich wie ihr Gewand.
»Ganz wohl,« beteuerte er, und mit einer Verbeugung entfernte er sich von der Pforte. Sie ging nach der einen Seite, er nach der anderen. Sie wandte sich zweimal um, ihm nachzublicken, als sie einer Elfe gleich über die Felder thalabwärts trippelte; er blickte nicht ein einziges Mal zurück, als er mit großen, festen Schritten dem Pfarrhofe zuging.
Dieser Anblick der Leiden und Opfer eines anderen wandte mein Sinnen von dem ausschließlichen Nachdenken über mich selbst ab. Diana Rivers hatte ihren Bruder »unerbittlich wie der Tod« genannt. Sie hatte nicht übertrieben. 

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