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德语小说:简爱-Zwölftes Kapitel
日期:2013-10-06 22:01  点击:1
Die Aussicht auf einen ruhigen Verlauf meiner Tage, welche mein erster ruhiger Anfang in Thornfield-Hall zu versprechen schien, wurde nach einer näheren Bekanntschaft mit dem Orte und seinen Bewohnern durchaus nicht gestört. Mrs. Fairfax war in Wirklichkeit das, was sie zu sein schien, eine leidenschaftslose, gutherzige, sich stets gleich bleibende Frau von ziemlich guter Erziehung und einem Durchschnittsverstande. Meine Schülerin war ein lebhaftes Kind, welches verzogen und verwöhnt und deshalb zuweilen eigensinnig und widerspenstig war; da sie indessen gänzlich meiner Obhut anvertraut war und keine unberufene und unvernünftige Einmischung von irgend einer Seite jemals meine Pläne und Absichten in Bezug auf ihre Erziehung durchkreuzte, so vergaß sie bald ihre kleinen Launen und wurde gehorsam und lernbegierig. Sie besaß keine hervorragenden Talente, keine scharfen Charakterzüge, keine besondere Gefühls- oder Geschmacksrichtung, welche sie auch nur um einen Zoll über das gewöhnliche Niveau anderer Kinder empor gehoben hätte; aber ebenso wenig hatte sie irgend ein Laster oder einen Fehler, welcher sie unter dasselbe gestellt hätte. Sie machte ziemlich gute Fortschritte, hegte für mich eine lebhafte, wenn auch nicht sehr tiefgehende Neigung, und flößte mir ihrerseits durch ihre Naivetät, ihr fröhliches Plaudern und ihre Bemühungen, mir zu gefallen, einen Grad von Liebe ein, welcher hinreichte, um uns ein gewisses Behagen an unserer gegenseitigen Gesellschaft finden zu lassen.
Leute, welche heiligen Doktrinen über die engelgleiche Natur der Kinder huldigen und verlangen, daß jene, welchen ihre Erziehung anvertraut ist, eine abgöttische Liebe für dieselben hegen sollen, werden – in Parenthese gesagt – meine Worte für kalt und gefühllos halten; aber ich schreibe nicht, um dem elterlichen Egoismus zu schmeicheln, um Kauderwelsch und Unsinn nachzubeten oder Humbug zu unterstützen, – ich erzähle nur die Wahrheit. Ich hegte eine gewissenhafte Sorgfalt für Adeles Wohlergehen und Fortschritte und ein ruhiges Wohlgefallen an ihrem kleinen Selbst; gerade so, wie ich für Mrs. Fairfax' Güte dankbar war und an ihrer Gesellschaft eine Freude empfand, welche sie für die Rücksichten lohnte, die sie für mich hatte, und ihr zeigte, wie sehr ich die weise Mäßigung in ihrem Charakter so wie in ihrem Gemüt zu schätzen wußte.
Mag mich tadeln, wer da will, wenn ich noch hinzufüge, daß ich dann und wann, wenn ich einen Spaziergang im Park gemacht hatte oder nach dem Parkthor hinunter gegangen war, um von dort auf die Landstraße zu blicken, oder wenn Adele mit ihrer Wärterin spielte und Mrs. Fairfax in der Vorratskammer Fruchtgelee kochte – daß ich dann die drei Treppen hinauf kletterte, die Fallthür in der Bodenkammer öffnete, an die Galerie des Daches trat und weit über Felder und Hügel bis an die verschwommene Linie des Horizonts hinblicke. Dann wünschte ich mir die Gabe einer Seherin, um über jene Grenzen fortsehen zu können, dorthin, wo die geschäftige Welt und Städte und lebensvolle Regionen waren, von denen ich wohl gehört, die ich aber niemals gesehen hatte. Dann ersehnte ich mir mehr praktische Erfahrung als ich besaß, mehr Verkehr mit meinesgleichen, mehr Kenntnis verschiedener Charaktere, als ich mir hier erringen konnte. Ich wußte das Gute in Mrs. Fairfax und das Gute in Adele zu schätzen, aber ich glaubte, es müsse eine andere, eine lebensvollere Güte geben, und ich wünschte, das was ich glaubte, mit eigenen Augen zu sehen.
Wer tadelt mich? Sehr viele wahrscheinlich, und man wird mich unzufrieden und ungenügsam nennen. Ich konnte nichts dafür; die Ruhelosigkeit lag in meiner Natur; oft quälte sie mich aufs äußerste. Dann fand ich die einzige Beruhigung darin, in dem Korridor des dritten Stockwerks hin und her zu gehen, wo ich mich in der Einsamkeit des Ortes wohl und sicher fühlte, um das geistige Auge auf den herrlichen Visionen ruhen zu lassen, die sich vor demselben ausbreiteten – und es waren ihrer viele und prächtige und farbenglühende – und mein Herz schwellen zu lassen von lebensvoller Sehnsucht, die, wenn auch schmerzhaft, doch wenigstens Leben war; und vor allen Dingen mein inneres Ohr auf eine Geschichte horchen zu lassen, die niemals endigte – eine Geschichte, welche meine Phantasie schuf und fortwährend wiederholte, – eine Geschichte, in welcher all das Leben, das Feuer, die Empfindungen pulsierten, nach denen ich mich sehnte, und die mein wirkliches Dasein mir nicht boten.
Es ist umsonst, zu sagen, daß der Mensch zufrieden sein sollte, wenn er Ruhe hat, – er muss auch Thätigkeit haben, und er wird sie sich schaffen, wenn er sie nicht findet. Millionen sind zu einem stilleren Lose verdammt als das meinige, und Millionen empören sich lautlos gegen ihr Los. Niemand weiss, wieviel Empörungen außer politischen Empörungen in den Menschenmassen gähren, welche die Erde bevölkern. Im allgemeinen nimmt man an, daß Frauen sehr ruhig sind, aber Frauen empfinden gerade so wie Männer; auch sie brauchen ein Feld der Thätigkeit für ihre Fähigkeiten, wie ihre Brüder es thun; sie leiden unter zu schweren Fesseln, unter vollständiger Stagnation gerade so wie Männer es thun wurden; und es ist engherzig, wenn ihre begünstigteren Nebenmenschen sagen, daß sie sich darauf beschränken sollten, Puddings zu machen und Strümpfe zu stopfen, Klavier zu spielen und Tabaksbeutel zu sticken. Es ist gedankenlos, sie zu verdammen oder über sie zu lachen, wenn sie versuchen, mehr zu arbeiten und mehr zu lernen, als das, was das alte Herkommen für ihr Geschlecht nötig erachtet.
Wenn ich so allein war, hörte ich gar oft Grace Pooles Lachen, dasselbe Lachen, dasselbe leise, langsame ha! ha! das mich so seltsam erschüttert hatte, als ich es zuerst vernommen; ich hörte auch ihr eccentrisches Gemurmel, das noch seltsamer war als ihr Lachen, Es gab Tage, an denen sie sich ganz still verhielt, aber wiederum andere, wo mir die Laute, welche sie von sich gab, ganz unerklärlich schienen. Zuweilen sah ich sie; dann pflegte sie mit einem Teller oder einer Schüssel oder einer Schale aus ihrem Zimmer zu kommen, in die Küche hinterzugehen und gewöhnlich – o, verzeihe mir, romantische Leserin, wenn ich die Wahrheit sage – mit einem Topf voll Porter zurückzukommen. Ihre Erscheinung dämpfte stets die Neugierde, welche ihre rednerischen und stimmlichen Seltsamkeiten erregt hatten; sie war ein starkknochiges Weib mit harten Zügen, welches in keiner Weise Interesse zu wecken vermochte. Ich machte einige Versuche, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie schien eine wortkarge Person; eine einsilbige Antwort machte gewöhnlich all meinen Bemühungen dieser Art ein Ende.
Die andern Mitglieder des Haushalts, wie John und seine Frau, Leah das Hausmädchen und Sophie, die französische Bonne, waren sehr anständige Leute, aber in keiner Weise erhoben sie sich über das Gewöhnliche. Mit Sophie pflegte ich französisch zu sprechen und zuweilen richtete ich auch Fragen über ihr Vaterland an sie; sie besaß aber weder die Gabe erzählen noch beschreiben zu können und gab meistens so verwirrte und nichtssagende Antworten, daß sie meine Fragelust eher dämpften als ermutigten.
Oktober, November und Dezember gingen hin. Eines Nachmittags im Januar hatte Mrs. Fairfax um einen Ferientag für Adele gebeten, weil diese sich eine heftige Erkältung zugezogen hatte; und da Adele diese Bitte mit einer Innigkeit und Eindringlichkeit unterstützte, welche mich daran erinnerten, wie kostbar solch ein gelegentlicher Ferialtag mir selbst in meiner Kindheit gewesen, gewährte ich denselben; es schien mir geraten, in diesem Punkte Nachgiebigkeit zu zeigen. Obgleich sehr kalt, war es ein schöner, windstiller Tag; den ganzen Morgen hatte ich ruhig sitzend in der Bibliothek zugebracht, jetzt war ich dessen müde; Mrs. Fairfax hatte gerade einen Brief beendigt, welcher darauf harrte, zur Post getragen zu werden, und so nahm ich Hut und Mantel und erbot mich freiwillig, denselben auf das Postamt nach Hay zu bringen; die Entfernung, welche ungefähr zwei Meilen betrug, sollte ein angenehmer Nachmittagsspaziergang für mich sein. Nachdem ich Adele gemütlich in ihrem kleinen Lehnstuhl vor Mrs. Fairfax' Kaminfeuer installiert und ihr die schönste Wachspuppe, welche ich gewöhnlich in Silberpapier gewickelt in einer Schublade verwahrt hielt, zum Spielen gegeben hatte und dazu noch ein Geschichtenbuch der Abwechselung wegen, machte ich mich auf den Weg, nachdem ich Adelens ›Revenez bientôt ma bonne amie, ma chère Mademoiselle Jeanette« [Fußnote] noch mit einem herzlichen Kuß beantwortet hatte. Der Boden war hart gefroren, die Luft war still, meine Straße einsam; ich ging sehr schnell bis ich mich erwärmt hatte, dann ging ich langsam, um das Vergnügen, welches Zeit und Umstände für mich in sich bargen, zu genießen und zu analysieren. Es war drei Uhr; die Kirchenuhr schlug, als ich an dem Glockenturm vorüber ging; der Reiz der Stunde lag in der herannahenden Dämmerung in der niedersinkenden und mattstrahlenden Sonne. Ich war eine Meile von Thornfield entfernt, in einem engen Heckenwege, welcher im Sommer seiner wilden Rosen, im Herbst seiner Nüsse und Brombeeren wegen bekannt war und sogar jetzt noch einige korallenfarbige Schätze in Gestalt von Hagebutten und Mehlbeeren aufzuweisen hatte; seine herrlichste Winterfreude lag jedoch in seiner vollständigen Vereinsamung und laublosen, starren Ruhe. Selbst wenn ein Lüftchen wehte, weckte es hier keinen Laut, denn hier war kein Stechpalmengesträuch, kein Immergrün, welches hätte rauschen können, und die entblätterten Weißdorn- und Haselnußbüsche lagen ebenso still da, wie die weißen, ausgetretenen Steine, mit welchen der Fußpfad in der Mitte gepflastert war. Weit und breit lagen zu jeder Seite nur Felder, auf denen jetzt kein Vieh mehr weidete; und die kleinen, braunen Vögel, welche sich dann und wann in der Hecke rührten, sahen aus wie einzelne welke Blätter, die vergessen hatten abzufallen.
Dieser Weg zog sich hügelaufwärts nach Hay; als ich die Mitte erreicht hatte, setzte ich mich an einem Zaun nieder, welcher sich von dort quer über ein Feld zog. Ich hüllte mich dicht in meinen Mantel, verbarg die Hände in meinem Muff und fühlte auf diese Weise die Kälte nicht, obgleich es scharf fror; dies bewies eine dünne Eisschicht, welche den Fußpfad, wo ein kleines jetzt gefrorenes Bächlein noch vor wenigen Tagen nach starkem Thauwetter dahin gerieselt war, bedeckte. Von meinem Platze aus konnte ich auf Thornfield hinunterblicken; das graue mit Zinnen gekrönte Herrenhaus bildete den hervorragendsten Punkt in dem Thal zu meinen Füßen, die Wälder und das dunkle Krähengeniste erhoben sich gegen Westen. Ich verweilte, bis die Sonne hinter den Bäumen versank und feurig und klar zur Ruhe ging. Dann wandte ich mich ostwärts.
Über der Spitze des Hügels oberhalb des Weges stand der aufgehende Mond; jetzt noch bleich aber mit jedem Augenblick strahlender werdend. Er blickte auf Hay hinab, das halb in Bäumen versteckt, aus seinen wenigen Schornsteinen einen bläulichen Rauch gen Himmel sandte; es lag noch eine Meile entfernt, aber in der tiefen Stille, welche herrschte, drangen die Töne des schwachen Lebens, welches in dem Orte pulsierte, bis zu mir herauf. Mein Ohr vernahm auch das Rauschen von Strömen; in welchen Tiefen und Thälern vermochte ich aber nicht zu sagen; jenseits Hay waren aber viele Hügel, und zweifellos auch viele Bäche, welche von ihren Höhen herabrauschten. In der Ruhe dieses Abends verriet sich sowohl das Nieseln der nächsten Bäche wie das Rauschen der weit entferntesten.
Plötzlich unterbrach ein brutales Geräusch dies zarte, ferne und doch so klare Flüstern und Kräuseln und Rieseln, ein polterndes Trampeln, ein metallisches Klirren, welches das sanfte Gemurmel der Wellen unterbrach, gerade so wie auf einem Bilde die solide Masse eines Felsens oder das rauhe Geäst einer großen Eiche, das sich in groben und kühnen Zügen im Vordergrund erhebt, die luftige Ferne blauer Hügel, den sonnigen Horizont, die klaren Wolken, wo alle Farben ineinander verschwimmen, stören. Der Lärm war auf dem Fußpfade, ein Pferd näherte sich, die Windungen des Weges verbargen es noch, aber es kam stetig näher; ich wollte gerade meinen Platz verlassen, da der Pfad aber schmal war, saß ich still, um es vorüber zu lassen. In jenen Tagen war ich jung, und tausend helle und düstere Fantasien bemächtigten sich meines Gemüts; die Erinnerung an Kinderstubengeschichten lag dort unter anderm Gerümpel aufgespeichert, und wenn sie wach wurden, verlieh die reifere Jugend ihnen eine Lebhaftigkeit und Stärke, welche die Kindheit ihnen nicht zu geben vermocht hatte. Als dies Pferd näher kam, und ich erwartete, es in der Dämmerung auftauchen zu sehen, fiel mir eine von Bessies Geschichten ein, in welcher ein Geist aus dem Norden Englands, Namens Gytrash figurierte; dieser suchte in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes einsame Wege heim und überfiel zuweilen nächtliche Wanderer, grade so wie dieses Pferd jetzt auf mich zu kam.
Es war schon sehr nahe, aber immer noch nicht sichtbar; da vernahm ich außer jenem Trapp, Trapp noch ein Rascheln unter der Hecke, und dicht an den braunen Stämmen entlang lief ein großer Hund, dessen schwarz und weiße Farbe ihn weithin kenntlich machte. Dies war nun gerade eine Maske aus Bessies Gytrash, eine löwenähnliche Kreatur mit langer Mähne und großem Kopfe; sie schlich indessen ruhig an mir vorüber und blickte mit ihren seltsam verständigen Hundeaugen nicht zu mir auf, wie ich halb und halb erwartete. Dann folgte das Pferd – ein starkes Roß, auf seinem Rücken ein Reiter. Der Mann, das menschliche Wesen, brach den Zauber sofort. Den Gytrash konnte niemand reiten, er stürmte stets allein umher, und wenn Kobolde auch in die stummen Leiber der Tiere fahren konnten, so vermochten sie doch so viel ich wußte, nicht die gewöhnliche Menschengestalt anzunehmen. Dies war also kein Gytrash – sondern nur ein Reisender, welcher den kürzesten Weg nach Millcote einschlug. Er ritt vorüber, und ich ging weiter; nur wenige Schritte, dann wandte ich mich um; ein Laut, als glitte irgend etwas aus, ein Ausruf: »Was zum Teufel ist jetzt zu machen«? ein polternder Fall weckten meine Aufmerksamkeit. Roß und Reiter lagen am Boden; sie waren auf der Eisfläche ausgeglitten, welche den gepflasterten Fußpfad bedeckte. In großen Sprüngen kam der Hund zurück und als er seinen Herrn in Verlegenheit sah und das Pferd stöhnen hörte, begann er zu bellen, bis es von den Hügeln widerhallte. Er beschnüffelte die auf dem Boden liegende Gruppe und dann kam er zu mir gelaufen; das war alles was er thun konnte – keine andere helfende Hand war zur Stelle. Ich folgte ihm und ging zu dem Reiter hinunter, welcher jetzt begann, sich unter seinem Pferde hervorzuarbeiten. Seine Anstrengungen waren so kräftig, daß ich glaubte, er könne keinen großen Schaden genommen haben; aber ich fragte dennoch:
»Haben Sie sich verletzt, mein Herr?«
Ich glaube beinahe, daß er fluchte, aber ich bin meiner Sache nicht ganz gewiß; indessen bediente er sich einer Redeform, welche ihn einer direkten Antwort überhob.
»Kann ich irgend etwas für Sie thun?« fragte ich wiederum leise.
»Stellen Sie sich auf die Seite,« entgegnete er, indem er sich erhob, erst auf die Kniee, dann auf die Füße. Ich that, wie er mich hieß. Dann begann ein Heben, Stampfen, Schlagen, begleitet von einem Bellen und Springen, welches mich in der That einige Schritte vorwärts trieb; ich wollte mich jedoch nicht ganz entfernen, bevor ich das Resultat nicht gesehen. Dieses war am Ende ein glückliches; das Pferd stand wieder auf den Füßen und der Hund wurde mit einem »Couche, Pilot!« zur Ruhe gebracht. Dann beugte der Reisende sich nieder und betastete seinen Fuß und sein Bein, wie um sich zu vergewissern, ob sie heil geblieben; augenscheinlich war er von dieser Untersuchung nicht befriedigt, denn er hinkte bis zu dem Platz am Zaun, wo ich bis dahin gesessen und ließ sich nieder.
Mich faßte wahrscheinlich die Laune, mich nützlich zu machen oder doch wenigstens mich gefällig zu zeigen, denn ich näherte mich ihm wiederum.
»Wenn Sie sich verletzt haben, mein Herr, oder Hilfe brauchen, so kann ich entweder aus Hay oder von Thornfield-Hall Hilfe herbeiholen.«
»Ich danke Ihnen. Ich werde allein fertig werden. Ich habe kein Glied gebrochen, sondern nur eine kleine Verrenkung davongetragen,« und wiederum stand er auf und prüfte seinen Fuß; die Untersuchung preßte ihm aber ein unwillkürliches »Au« aus.
Das Tageslicht war noch nicht ganz gewichen und der Mond schien bereits hell: ich konnte ihn deutlich sehen. Die Gestalt war in einen weiten Reitmantel mit Pelzkragen und Stahlschlössern versehen gehüllt; genau konnte ich die Proportionen nicht unterscheiden, aber ich sah, daß der Mann von mittlerer Größe und sehr breitschulterig sein mußte. Er hatte ein finsteres Gesicht mit ernsten Zügen und hoher Stirn; die Augen mit den hochgewölbten, zusammengewachsenen Brauen sprühten in diesem Augenblick Wut und Zorn; er war über die erste Jugend hinfort, das mittlere Lebensalter hatte er aber noch nicht erreicht; er mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre zählen. Ich fürchtete mich nicht vor ihm und hegte auch keine zurückhaltende Scheu. Wäre er ein schöner, heroisch blickender, junger Mann gewesen, so würde ich nicht gewagt haben, so dazustehen und ihm meine Dienste unaufgefordert anzubieten und ihn gegen seinen Willen mit Fragen zu behelligen. Bis jetzt hatte ich kaum jemals einen schönen Jüngling gesehen und noch nie in meinem Leben mit einem solchen gesprochen. Ich hegte eine theoretische Verehrung und Hochachtung für Schönheit, Eleganz, Galanterie, Liebenswürdigkeit; hätte ich jedoch all diese Eigenschaften in der Gestalt eines Mannes verkörpert gefunden, so würde ich instinktiv gefühlt haben, daß sie niemals Sympathie für irgend etwas in mir hegte noch hegen konnte, und ich würde sie gemieden haben, wie man den Blitz oder das Feuer oder sonst irgend etwas meidet, das wohl glänzend und strahlend, jedoch antipathisch ist.
Und wenn dieser Fremde mich angelächelt hätte oder freundlich gewesen wäre, als ich ihn anredete; wenn er die ihm angebotene Hilfe dankbar und liebenswürdig abgelehnt hätte – so würde ich wahrscheinlich meiner Wege gegangen sein und durchaus keinen Beruf in mir verspürt haben, mein Anerbieten zu erneuern; aber das Stirnrunzeln, die Rauhheit des Reisenden machten, daß ich ganz harmlos blieb. Als er mir winkte, bei Seite zu gehen, verharrte ich auf meinem Platze und kündigte ihm an:
»Ich kann gar nicht daran denken, mein Herr, Sie zu so später Stunde in diesem einsamen Gäßchen allein zu lassen, bevor ich gesehen habe, ob Sie imstande sind, Ihr Pferd wieder zu besteigen.«
Als ich dies sagte, blickte er mich an. Bis dahin hatte er die Augen kaum auf mich gerichtet.
»Mich dünkt, Sie sollten dafür sorgen, daß Sie selbst nach Hause kämen,« sagte er, »wenn Sie ein Haus in der Nähe haben. Woher kommen Sie denn?«
»Von dort unten; und ich fürchte mich durchaus gar nicht, spät draußen auf der Landstraße zu sein, wenn der Mond scheint. Wenn Sie es wünschen, werde ich mit Vergnügen für Sie nach Hay hinüber laufen – ich gehe in der That nach dort, um einen Brief auf die Post zu geben.«
»Sie wohnen dort unten? – Sie meinen doch nicht in jenem Hause dort mit den Zinnen?« mit diesen Worten deutete er auf Thornfield-Hall, auf welches der Mond jetzt seinen bleichen Schein warf; deutlich und hell hob es sich von den Wäldern ab, welche jetzt im Gegensatz zu dem Westlichen Himmel eine ungeheure, schattige Masse bildeten.
»Ja, mein Herr.«
»Wem gehört das Haus?«
»Mr. Rochester.«
»Kennen Sie Mr. Rochester?«
»Nein, ich habe ihn niemals gesehen.«
»Er wohnt also jetzt nicht dort?«
»Nein.«
»Können Sie mir denn sagen, wo er sich aufhält?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Natürlich sind Sie keine Dienerin im Herrenhause. Sie sind –« er hielt inne und ließ die Augen über meine Kleidung schweifen, welche wie gewöhnlich sehr einfach war: ein schwarzer Merinomantel, ein schwarzer Filzhut; beides würde nicht im entferntesten elegant genug für eine Kammerjungfer gewesen sein. Es ward ihm schwer zu entscheiden, wer ich eigentlich sein könne. Ich half ihm.
»Ich bin die Gouvernante.«
»Ah!! die Gouvernante!« wiederholte er. »Der Teufel soll mich holen, die hatte ich ganz vergessen! Die Gouvernante! Die Gouvernante!« und wiederum unterwarf er meine Toilette einer eingehenden Prüfung. Nach zwei Minuten erhob er sich von seinem Platze am Zaun; sein Gesicht drückte den größten Schmerz aus, als er versuchte eine Bewegung zu machen.
»Ich kann Sie nicht beauftragen, Hilfe herbeizuholen,« sagte er; »aber Sie selbst können mir ein wenig helfen, wenn Sie die Güte haben wollen.«
»Ja, mein Herr.«
»Haben Sie nicht einen Regenschirm, den ich als Stütze gebrauchen könnte?«
»Nein.«
»Versuchen Sie, den Zügel meines Pferdes zu fassen und es mir herzuführen. Sie fürchten sich doch nicht?« Wäre ich allein gewesen, so würde ich mich gefürchtet haben, ein Pferd zu berühren; da mir jedoch geheißen wurde, es zu thun, war ich geneigt zu gehorchen. Ich legte meinen Muff am Zaun nieder und näherte mich dem großen Pferde; ich bemühte mich, den Zügel zu fassen, es war aber ein feuriges Tier und wollte mich seinem Kopfe nicht nahe kommen lassen; all meine Versuche blieben erfolglos; inzwischen fürchtete ich mich beinahe zu Tode vor seinen Vorderhufen, mit denen es unaufhörlich ausschlug. Der Fremde wartete und beobachtete einige Zeit; endlich lachte er laut auf.
»Ich sehe schon,« sagte er, »der Berg will sich nicht zu Mahomet bringen lassen, daher können Sie weiter nichts thun als Mahomet helfen, daß er zum Berge gehe; ich muß Sie bitten, herzukommen.«
Ich ging.
»Verzeihen Sie mir,« fuhr er fort, »die Notwendigkeit zwingt mich, Sie mir nützlich zu machen.« Er legte eine schwere Hand auf meine Schulter, und sich mit Nachdruck auf mich lehnend, hinkte er bis zu seinem Pferde. Als es ihm dann einmal gelungen war, den Zügel zu fassen, beherrschte er es sofort und schwang sich in den Sattel; zwar schnitt er die entsetzlichsten Grimassen dabei, denn der verrenkte Knöchel schmerzte heftig.
»Jetzt,« sagte er und biß sich in die Unterlippe, so daß das Blut hervorquoll, »geben Sie mir meine Peitsche; sie liegt dort unter der Hecke.«
Ich suchte sie und fand sie.
»Ich danke Ihnen; jetzt eilen Sie mit Ihrem Briefe nach Hay und dann kehren Sie so schnell wie möglich zurück.«
Eine Berührung mit dem bespornten Absatz machte, daß sein Pferd sich bäumte und dann davon sprengte; der Hund folgte wie rasend den Spuren, und alle drei verschwanden
Wie Blüten, die auf öder Haid'
Der wilde Sturm davonträgt.
 
Ich nahm meinen Muff wieder auf und ging weiter. Der Vorfall hatte sich ereignet und war jetzt vorüber, es war ein Vorfall ohne Bedeutung, ohne Romantik, ohne Interesse in gewisser Beziehung, und doch kennzeichnete er eine einzige Stunde eines einförmigen Lebens. Meine Hilfe war gebraucht und in Anspruch genommen worden, ich hatte sie geleistet; es machte mich glücklich, irgend etwas gethan zu haben; unbedeutend, vorübergehend wie die That gewesen war, hatte sie doch eine Leistung meinerseits verlangt – und ich war dieser passiven Existenz so müde geworden. Auch war das neue Gesicht wie ein neues Bild, welches meiner Galerie der Erinnerungen einverleibt worden, und es war allen anderen, die dort aufgehängt waren, so gänzlich unähnlich: erstens war es ein männliches Gesicht, und zweitens war es düster, strenge und ernst. Ich sah es noch vor mir, als ich nach Hay kam und den Brief in den Schalter des Postbureaus warf; ich sah es noch vor mir auf dem ganzen Wege nach Hause. Als ich an den Zaun kam, hielt ich eine Minute inne, blickte umher und horchte; mir war, als müsse ich wiederum Pferdegetrappel auf dem gepflasterten Fußsteige vernehmen, als müsse wiederum ein Reiter im Mantel und ein Gytrashähnlicher Neufundländer erscheinen – aber ich sah nur eine Hecke und eine Pappelweide vor mir, die still und bewegungslos und gerade in das klare Mondeslicht hineinragten; ich hörte nur den leisen Windhauch, welcher eine Meile weiter hügelabwärts dann und wann durch die Bäume fuhr, welche das Herrenhaus von Thornfield umstanden, und als ich der Richtung, aus welcher das leise Murmeln kam, mit den Augen folgte, sah ich, wie ein Fenster an der Vorderseite des Hauses plötzlich erhellt wurde. Es erinnerte mich daran, daß es bereits spät sei. Ich eilte weiter. Es machte mir keine Freude, Thornfield wieder zu betreten. Seine Schwelle überschreiten, bedeutete zur Stagnation zurückkehren, durch die todesstille Halle gehen, die düstere Treppe hinaufsteigen, mein eigenes einsames, kleines Zimmer aufsuchen und später der ruhigen Mrs. Fairfax begegnen und den langen Winterabend mit ihr und nur mit ihr zubringen.
Das hieß vollständig die leise Erregung ersticken, welche mein Spaziergang in mir erweckt hatte – das bedeutete meinen Fähigkeiten abermals die traurig aussichtslosen Fesseln einer einförmigen und tötenden Existenz anzulegen, einer Existenz, deren große Vorteile der Sicherheit, des Geborgenseins und des Wohllebens ich nicht mehr zu schätzen vermochte. Wie nützlich würde es mir zu jener Zeit gewesen sein, in den Stürmen eines unsicheren, gefährdeten, mühsam kämpfenden Lebens hin und her geworfen zu werden und inmitten rauher und bitterer Erfahrung die Sehnsucht nach der Ruhe und dem Frieden zu empfinden, welche mich jetzt fast erdrückten! Ja, es wäre mir ebenso nützlich gewesen wie ein langer Spaziergang einem Manne, der es müde geworden, immer in einem zu bequemen Lehnstuhl zu sitzen, und ebenso natürlich war der Wunsch nach Bewegung bei mir, wie er es bei ihm gewesen sein würde.
An der Parkpforte zögerte ich; ich zögerte auf dem Wiesenplan; ich ging auf der Terrasse hin und her; die Jalousien der Glasthür waren herabgelassen; ich konnte nicht in das Innere des Zimmers blicken, und sowohl meine Augen wie meine Seele schienen von dem düsteren Hause – von der grauen Felsmasse, in welche dunkle Zellen hineingehauen, – (so schien es mir wenigstens damals) – fortgezogen zu werden hinauf nach jenem klaren Himmelsbogen, der sich wie ein blaues, bewegungsloses Meer vor mir ausbreitete; feierlich und majestätisch stieg der Mond empor und ließ die Spitzen jener Hügel unter sich, hinter denen er hervorgekommen war; er strebte dem tiefdunklen, unermeßlich fernen Zenith entgegen, und ihm folgten die zitternden Sterne, denen ich mit bebendem Herzen, mit fiebernden Pulsen nachblickte. Gar kleine und geringe Dinge rufen uns auf diese Erde zurück; in der Halle schlug die Uhr; das genügte; ich wandte meine Augen von Mond und Sternen ab, öffnete eine Seitenthür und trat ins Haus.
Die Halle war nicht dunkel, aber ebensowenig war sie ganz erhellt durch die Bronzelampe, welche hoch oben an der Decke hing; eine angenehme Wärme herrschte sowohl hier wie auf dem unteren Teil der alten Eichentreppe. Ein heller Schein drang aus dem großen Speisezimmer, dessen hohe Flügelthüren geöffnet waren und ein lustig flackerndes Feuer im Kamin sehen ließen; in prächtigem Glanz zeigten sich die dunkelroten Draperien, die polierten Möbel, die Marmorverkleidung des Kamins. Der Schein des Feuers fiel auf eine Gruppe, welche sich vor demselben befand; kaum war ich derselben ansichtig geworden, kaum hatte ich den Ton fröhlicher Stimmen vernommen, unter denen ich jene Adelens zu unterscheiden glaubte, als die Thür auch schon wieder geschlossen wurde.
Ich eilte nach Mrs. Fairfaxs Zimmer; auch dort brannte ein Feuer, jedoch kein Licht. Keine Mrs. Fairfax war sichtbar. Statt ihrer fand ich auf dem Kaminteppich, einsam, aufrechtsitzend, ernst, einen großen, langhaarigen, schwarz und weißen Hund, ähnlich dem Gytrash aus dem Heckengäßchen, Er war ihm in der That so ähnlich, daß ich näher ging und rief:
»Pilot!« Das Tier erhob sich, kam auf mich zu und beschnüffelte mich. Ich liebkoste und streichelte den Hund; er wedelte mit seinem großen, schweren Schwanze; aber er sah doch ein wenig zu unheimlich aus, um mit ihm allein zu bleiben, und ich wußte nicht einmal, woher er gekommen. Ich zog die Glocke, denn ich wünschte ein Licht, und überdies hoffte ich auch Auskunft über diesen Gast zu erhalten. Leah trat ein.
»Wo kommt dieser Hund her?«
»Er ist mit dem Herrn gekommen.«
»Mit wem?«
»Mit dem Herrn, mit Mr. Rochester, er ist soeben angekommen.«
»In der That! Und ist Mrs. Fairfax bei ihm?«
»Ja. Und Fräulein Adele auch. Sie sind im Speisezimmer und John ist eben gegangen, um einen Wundarzt zu holen; denn unser Herr hat einen Unfall gehabt. Sein Pferd ist gestürzt und er hat sich den Knöchel verrenkt.«
»Ist das Pferd in dem Heckenweg gestürzt, der von Hay herabführt?«
»Ja, als er bergab ritt, ist es auf dem Glatteise gestürzt.«
»Ah, Leah, wollen Sie mir nicht eine Kerze bringen? Ich bitte Sie darum.«

Leah brachte sie; als sie eintrat, folgte Mrs. Fairfax ihr auf dem Fuße und wiederholte die Erzählung. Sie fügte noch hinzu, daß Mr. Carter gekommen und jetzt bei Mr. Rochester sei. Dann eilte sie hinaus, um ihre Vorbereitungen für den Thee zu treffen. Ich ging nach oben, um Hut und Mantel abzulegen. 


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