Es war inzwischen Mittagszeit. Hand in Hand liefen die beiden Jungen mit knurrendem Magen durch die Straßen. Wenn sie einander losließen, weil ein Passant unbedingt zwischen ihnen durchgehen musste, fassten sie sich danach sofort wieder an. Bei jedem Demonstrationszug schauten sie nach, ob der Fahnenschwinger an der Spitze Song Fanping sei. Dann gingen sie auf den Platz, wo die Kundgebungen stattfanden - war der Redner auf dem Podium vielleicht ihr Vater? Überall suchten sie nach ihm, erkundigten sich bei vielen fremden Onkeln, Tanten, Opas und Omas, ob sie Song Fanping gesehen hätten - vergebens!
Schließlich gelangten sie zu der Brücke, auf der der Vater am Vortag das rote Banner geschwenkt und wo ihm die ganze kleine Stadt zugejubelt hatte. Heute waren dort keine Fahnen zu sehen, dafür aber ein paar Leute mit großen Holztafeln vor der Brust und hohen Mützen auf dem Schädel, die mit hängenden Köpfen dastanden. Aha, Klassenfeinde!, wussten die beiden. Song Gang fragte die wachhabenden Rebellen mit roten Armbinden, die vor den Klassenfeinden auf und ab gingen: »Habt ihr unseren Papa gesehen?«
Einer von den Burschen mit roter Armbinde fragte zurück: »Wer ist euer Papa?«
»Mein Papa ist Song Fanping«, antwortete Song Gang. »Der gestern hier die rote Fahne geschwenkt hat.«
Glatzkopf-Li ergänzte: »Er ist sehr berühmt! Dem haben sie sogar Fleischbrühe zu den Nudeln spendiert!«
Da hörten die beiden hinter sich eine Stimme: »Kinder, ich bin hier.«
Sie fuhren herum - ja, das war der Vater. Auf dem Kopf hatte er eine hohe Papiermütze, und vor der Brust baumelte ein großes Holzschild mit der Aufschrift »Grundbesitzer Song Fanping«. Die Zeichen konnten die Kinder nicht lesen, aber was die roten Kreuze bedeuteten, mit denen die Schriftzeichen durchgestrichen waren, das wussten sie wohl:
So wurden die Namen von Klassenfeinden ausgeixt.
Hochaufragend wie ein Torflügel stand der Vater da und schirmte mit seinem Körper das Sonnenlicht ab, sodass die Söhne im Schatten standen. Als sie zu ihm aufschauten, sahen sie, dass seine Augen fast zugeschwollen und seine Mundwinkel lädiert von Schlägen waren, die man ihm verabreicht hatte. Mit einem gefrorenen Lächeln blickte er die Kinder an. Was mochte geschehen sein, dass er plötzlich in diesen Zustand geraten war? Wo er doch am Tag zuvor noch so Achtung gebietend auf ebendieser Brücke gestanden hatte. Song Gang fragte zaghaft: »Papa, was machst du hier?«
»Habt ihr Hunger?«, sagte Song Fanping mit leiser Stimme.
Beide Kinder nickten gleichzeitig. Song kramte zwanzig Fen aus seiner Hosentasche, davon sollten sie sich etwas zu essen kaufen.