Nach Li Lans Abreise ereilte die Große Kulturrevolution unsere kleine Stadt Liuzhen. Song Fanping ging morgens zeitig aus dem Haus und kehrte abends erst spät wieder nach Hause zurück; den ganzen Tag über hielt er sich in der Schule auf. Auch Glatzkopf-Li und Song Gang gingen morgens zeitig aus dem Haus und kamen abends erst spät wieder zurück; sie hielten sich den ganzen Tag über auf der Straße auf.
Wegen der Tag für Tag wie Wellen aufbrandenden und wieder verebbenden Demonstrationen ähnelten die Straßen von Liuzhen inzwischen eher einem Menschenmeer als Verkehrswegen. Immer mehr Männer und Frauen mit roten Binden am Arm, roten Plaketten mit dem Porträt des Vorsitzenden Mao an der Brust und dem rotem Buch mit Zitaten aus Werken Maos in der Hand erfüllten die Straßen mit ihrem an Hundegebell erinnernden Geschrei (lauter revolutionäre Losungen) und mit ihrem Gesang (revolutionäre Lieder, was sonst?). Die Mauern wurden immer dicker von den daraufgepappten Dazibao Wandzeitungen mit großen, handgeschriebenen Schriftzeichen -, die raschelten wie welkes Laub, wenn der Wind darüberfuhr.
Man sah jetzt in der Stadt Menschen mit hohen spitzen Papiertüten auf dem Kopf, Menschen mit umgehängten großen Holztafeln vor der Brust und Menschen, die auf alten Töpfen und Schüsseln trommelten und dazu Slogans skandierten, mit denen sie zum Kampf gegen sich selbst aufriefen. Glatzkopf-Li und Song Gang wussten, die Leute mit den hohen Mützen, den Holztafeln und den kaputten Topfdeckeln, das waren die Klassenfeinde, von denen jetzt so viel die Rede war. Jedermann konnte sie nach Belieben ins Gesicht schlagen, ihnen in den Bauch treten, ihnen auf den Nacken rotzen, sie anpinkeln. Sie ließen sich all diese Schikanen ohne Widerworte gefallen und wagten nicht einmal einen Seitenblick auf die Zuschauer entlang der Straßen. Die machten sich einen Spaß daraus, sie zu nötigen, sich selbst ins Gesicht zu schlagen oder Slogans zu rufen, in denen sie erst sich selbst, dann auch noch ihre Vorfahren verunglimpfen mussten.