Die Heimkehr der Soldaten. Glauben und Wissen.
Nie war sicherlich der Soldat herzlicher empfangen, besser einquartiert und bedacht worden, als während der Einzugstage in Kopenhagen. Er beschäftigte aller Gedanken, er stand auch im Alltagsleben wieder als ein Held da. Es war nicht der Modeton des Zufalls, nicht ein bloßes Nachplappern, nicht eine künstliche Begeisterung, von deren Strömungen sich die Kopenhagener wohl bei ähnlichen Gelegenheiten hatten fortreißen lassen, nein, hier war eine echte, gesunde, natürliche Begeisterung. Die Dänen hatten in den Augen der Welt wieder einen klangvollen Namen, eine Bedeutung gewonnen. In diesem erhebenden Gefühle lebte und webte man, jeder vergaß sein eigenes kleines Ich.
Die meisten Quartiergeber veranstalteten in aller Eile für ihre Soldaten ein Festessen; die Hausfrauen begaben sich mit ihren Töchtern in ihre Mitte, und an manchem Orte wurde auch augenblicklich ein lustiger Ball improvisirt. Durch die dumpfen Zimmer des Alltagslebens wehte eine frische, herrliche Luft.
»Es ging ein Jubel durch das Land,
Und alle Herzen brannten –« [Fußnote]
Niels Bryde war von der Familie Arons eingeladen worden, bei ihnen bis auf weiteres Quartier zu nehmen. Die beiden kleinen Zimmer, die Julius einst bewohnt hatte, und in denen noch immer seine Möbel und Bücher standen, seine Kupferstiche und Bilder hingen, genau in derselben Ordnung wie bei seinem Aufmarsche vor drei Jahren, wurden nun dem Freunde eingeräumt, und sein Empfang glich dem eines lieben Verwandten. Vater und Großvater küßten und umarmten ihn, die beiden ältesten Töchter weinten und lachten, und namentlich Rebekka machte ihren Gefühlen Luft. Amalie dagegen hatte einen Bräutigam vorzustellen, einen schwedischen Officier. Esthers Augen strahlten vor Freude, und doch lag in den Zügen um ihren Mund ein Schmerz und ein Ausdruck, den Niels Bryde gar wohl verstand. Ihre Mutter faßte es in die Worte zusammen: »Unser Julius mußte drüben bleiben!«
»Er weilt doch mitten unter uns!« rief Esther da lebhaft, »er ist zugegen bei unserer Freude, nimmt Theil an dem herrlichen Feste der Heimkehr!« – Wie schön sie geworden war, gerade geistig schön, und dazu auch körperlich so wunderbar lieblich entwickelt! Manch unsterbliches Gedicht der Sänger Persiens und Arabiens hat keine Schönheit gleich ihr besungen.
Auch Herr Schwan blieb nicht aus und erschien mit strahlendem Antlitz und mit strahlender Laune, ungeachtet die letzten Jahre, wie er gar nicht verhehlte, ihm alle die wenigen schwarzen Haare, die ihm noch geblieben, und außerdem einen großen Theil seiner grauen geraubt hatten.
»Man wird alt,« sagte er, »man darf die Leibbinde nicht mehr ablegen. Doch die Erde muß ja ebenfalls eine tragen; sie hat von Mexiko bis zu uns im Norden hinauf ihren warmen Golfstrom; was wären wir ohne eine solche Leibbinde? Die meine hält mich nicht einmal jeden Tag warm genug!« In seiner Mittel-Etage, sagte er, säße sein Quälgeist; bald wäre es ihm, als brennte ein Feuerwerk darin ab und zischten Blitzstrahlen um den Magen herum, bald wieder, als würde der Fußboden in der Mittel-Etage neu gedielt, oder wenigstens gescheuert oder gewaschen. »Bisweilen glaube ich,« fuhr er fort, »an Unterleibskrämpfen, wenn nicht gar an Darmverschlingungen zu leiden; aber heute habe ich den Fußboden gebohnt, und die gute Laune tanzt durch alle Etagen. Willkommen in der Heimat, mein Freund!«
Frau Jensen ließ sich ebenfalls sehen; sie stattete ihm einen Besuch ab, und das war ein Beweis großer Freundschaft, denn sonst hätte sie sich wahrlich nicht in das Zimmer eines ledigen Herrn hineingewagt: Sie hätte gehört, Doctor Bryde wäre zurückgekehrt, und sie hätte doch während dieser ganzen traurigen Zeit seiner stets gedacht. Sie war ebenfalls bei guter Laune und erzählte, daß sie jetzt oft in die Komödie ginge, aber nicht in die königliche, sondern nur in das Casinotheater. »Sie machen ihre Sache dort recht hübsch, wenn sie auch nicht so vornehm wie die Schauspieler auf der großen Bühne sind, und dann haben sie auch nicht so viele Etagen.«
Frau Jensen gab ihm auch Nachrichten über Mutter Börre, die alte Äpfelfrau im »Runden Thurme«, von der er so oft gesprochen und die er von Kindheit an kannte. Sie lebte noch immer und hatte vor kurzem das Glück gehabt, daß der Arzt, dem sie ihr Skelett verkauft, gestorben war. Da die Witwe es nicht zu verwenden wußte, war Mutter Börre wieder ihr freies Eigenthum geworden und erhielt sogar aus Rücksicht auf ihr hohes Alter die beiden ausbedungenen Thaler nach wie vor ausgezahlt; und hiermit nehmen wir von Mutter Börre Abschied.
Der Kammerherr und seine Frau begegneten Herrn Bryde auf dem Walle. Der Kammerherr sprach seine Besorgnis aus, daß das Skandinavische jetzt einen zu großen Einfluß erhalten würde, und seine Frau nahm es dem Kriegsminister übel, daß Hunde den Wall nicht betreten sollten; Zemire dürfte sie deshalb nicht begleiten. Damals ahnte sie nicht, was derselben in unseren Tagen widerfahren sollte: in ihrem hohen Alter noch mit einem Maulkorbe einherzugehen, den sie allerdings, um nicht gedrückt zu werden, aus Gummi-Elasticum bekam. Eben so gut hätte sie also auch mit einem Kreidestriche um die Schnauze umherlaufen können.
»Herrliches Wetter!« sagte die Frau Kammerherr, – »à la Venedig! – schön arrangirt im Reithause! – Reizendes Mädchen, die kleine Arons! – Jüdin! – gut gekleidet! – Vermögen! – Silence! – Der kleine Schalk Amor! – à revoir!«
Das war der Wort-Regenschauer auf dem Walle.
Bei der ersten Unterredung, die Niels Bryde mit Esther unter vier Augen hatte, sprach diese von ihrem Bruder, fragte nach jedem kleinen Zuge, nach jeder Einzelheit, die Niels bei der Todesanzeige angedeutet hatte. Im ersten Augenblicke, sagte sie, hätte es sie betrübt, daß er, anstatt auf dem Schlachtfelde zu fallen, als eine Beute des Typhus eines natürlichen Todes sterben mußte; allein bald sei es ihr klar geworden, daß auch diejenigen, welche durch Strapazen, durch Nachtlager auf dem kalten, feuchten Erdboden von Seuchen und Krankheiten ergriffen würden, in ihrem Berufe gefallen wären und ihr Leben für das Vaterland hingegeben hätten. Niels Bryde mußte ihr von des Bruders letzter Stunde, von seiner Todesnacht auf Augustenburg erzählen; er wiederholte ihr seine Worte und bei diesem Berichte empfand Esther tief, wie bitter ihm der Gedanke an den Tod gewesen war. Die Sonne der Wissenschaft hatte ihn, wie es ihr schien, für den Schöpfer der Sonne blind gemacht; er hätte seine Überzeugung von der Unsterblichkeit nicht aussprechen können.
»Sie glauben nicht an ein Leben nach diesem?« sagte sie und blickte ihn mit ihrem traurigen Kindeslächeln an; und während ihr Auge auf ihm ruhte, erfüllte plötzlich wieder eine Summe von Gedanken seine Seele, gedachte er wieder all der Geistesblitze, in den letzten unter Kummer und Schmerz verlebten drei Jahren.
Wie selbst bei den tiefststehenden Volksstämmen, bei den Wilden des Urwaldes, eine wenn auch noch so unklare Gottesidee nachzuweisen ist, so giebt es auch bei dem ausgeprägtesten Materialisten eine Grenze, ein Äußerstes, bei dem der Gedanke schwankt und den Hauch des Geistes Gottes empfindet. Im Raume sind die Grundstoffe das Gegebene, in unserer Seele ist der religiöse Glaube das Gegebene. Die Wissenschaft hatte ihm in hellen Gedanken-Stunden mathematisch bewiesen, daß in allem eine Kraft lebt und sich regt, welche bewirkt, daß die Unveränderlichkeit, die Urstoffe, die nicht vergehen, in ewigem Wechsel veränderlich werden, und für diese Kraft, durch welche das Leblose Bewegung, Leben und Denken erzeugt, das Geistlose Geist erzeugt, für diese Kraft, für dieses Übersinnliche wußte er nur einen Namen – Gott. Diese Überzeugung, diesen mächtigen Stützpunkt hatte er auch durch das Wissen gewonnen; aber Unsterblichkeit für uns Menschen, Unsterblichkeit mit Bewußtsein und persönlichem Dasein ist nur dem Auge des Glaubens wahrnehmbar, und dieses hatte er verloren.
Glauben schafft größeres Glück als Wissen, denn der Glaube hat alles, und unser Wissen ist gar gering. Der Gedankenfaden aus jener Nacht auf dem Schlachtfelde war nicht völlig verweht, noch immer flatterte er, wenn auch etwas lose. Bodil würde hier jedoch sagen: »Gottes Vaterhand kann ihn in einem Augenblicke wieder festbinden und stark wie ein Ankertau machen.« – »Sein oder Nichtsein«, diese große, die Ewigkeit umfassende Frage kam und verschwand wie der Blitz, der durch sein Verschwinden alles rings umher nur noch in größere Finsternis hüllt.
Wie oft hatte er sich nicht an einem Sterbebette selbst gefragt: »Was ist es doch, was in den glänzenden Blicken eines Sterbenden auf meine Sehnerven eine Wirkung hervorbringt, welche wiederum die Gefühlsnerven des Herzens in Zittern versetzt und mir die Überzeugung gibt: »Sein Tod ist selig, diese glänzenden Augen verkünden seine Gewißheit eines ewigen Lebens.« Mit der Sonde des Verstandes hatte er diese Gefühle untersucht, die sich das erste Mal am lautesten bei ihm regten, als sein Hund auf dem Schlachtfelde den Kopf an sein Gesicht legte und ihn mit einem so treuen, verständigen Blicke anschaute, als ob auch er eine Seele hätte! – Unsterblichkeit! Welch' großartiger Gedanke! Was flößt uns Menschen die Sehnsucht nach ihr ein? Jeder Trieb, jeder Drang in der Schöpfung wird ja befriedigt! Unsterblichkeit! – ist sie denn nur eine Phantasie, die nie zur Thatsache werden wird?
Diese Gedankensumme, diese Seelenblitze, zu deren Veranschaulichung wir hier so viele Worte gebrauchen, wurden in dem Augenblicke in ihm wieder lebendig, als Esther mit aufrichtiger Trauer sagte: »Sie glauben nicht an ein Leben, nach diesem?«
»Überzeugen Sie mich, Esther, daß es ein solches gibt; überzeugen Sie mich, wenn Sie es können!«
Sie sah ihn ernst an.
»Auf dem Wege, auf welchem Sie überzeugt zu werde verlangen, bin ich fremd.« Sie schwieg und sprach längere Zeit nicht ein Wort. Plötzlich fiel ihr Blick auf das Fenster. Dort stand in einem Blumentopfe ein verwelkter Rosenstock; jedes Blatt war abgefallen, jeder Stengel vertrocknet und ohne Lebenskraft, selbst die Wurzel war dürr und verwittert. »Sehen Sie den Stock dort?« begann sie; »er ist eingegangen, wie man zu sagen pflegt. Liegt in diesen Worten nicht eine ganze Lehre, sowohl aus den Stock wie auf den entschlafenen Menschen angewendet? Wessen Religion ihr Fundament nur in der Wissenschaft hat, der muß diese Bedeutung anerkennen, und wer seine einzige Richtschnur in der Bibel findet, erkennt sie eben so vollkommen an. Der Rosenstock ist eingegangen, sagt der Gelehrte, die Bestandteile sind zu ihrem Ursprung zurückgegangen; Wasserstoff, Sauerstoff und wie alle die vielen Elemente heißen mögen, welche die Dinge ausmachen, sind zurückgekehrt, sind aus dem Kreislauf dieser Schöpfung in das große Weltall übergegangen, um immer und ewig zu wirken, doch nicht in den nämlichen, sondern in verschiedenen Erscheinungen und bewußtlos. Im Thiere ist bereits etwas Höheres wahrnehmbar als in der Zusammensetzung und in den Kräften der Pflanzen, und bei dem Menschen, wir empfinden es ja alle, tritt wieder etwas Höheres hinzu, nämlich Gewissen, Gerechtigkeit, kurz alle Gaben des Geistes, von denen wir die Namen entlehnen müssen, um uns in deren höchster Entwickelung Gott zu vermenschlichen. Unsere irdischen Theile gehen in den großen Kreislauf über, auch der Geist, das ungleich Höhere, kehrt zu seinem Urquelle zurück! Hier begegnen sich Wissenschaft und Bibel, der Geist geht zu Gott, zur Auferstehung, zum ewigen Leben!«
»Und hat der Geist noch Erinnerung und Bewußtsein?« fragte Niels Bryde. »Geht der Phosphor in Gasarten über, was ist da unsere Unsterblichkeit? Ein Nichts!«
»Die Bibel giebt uns die Verheißung derselben,« versetzte Esther.
»Nicht das Alte Testament,« erwiderte Niels Bryde. »Die Geschichte Hiobs ist ein Dornenbusch, der den gläubigen Schafen die Wolle ausrauft. Hiob sagt: Meine Tage sind leichter dahingeflogen denn ein Weberschiff und sind vergangen, daß nun keine Hoffnung ist. – Eine Wolke verfliegt und fährt dahin, so wird auch derjenige, der ins Grab hinabfährt, nicht wieder heraufkommen.«
»Das Alte Testament,« entgegnete Esther, »ist eine Sammlung der Bücher eines bestimmten Volkes; das Neue Testament dagegen, wie Sie als Christ wissen, ist eine Offenbarung Gottes und diese verheißt das ewige Leben. An die Bibel glauben Sie aber freilich nicht sehr. Wo es sich um das höchste geistige Gut handelt, sollte man sich aber doch hauptsächlich an das Bedeutendste halten, an die geistigen Urkunden. – Hier ist ein anderes Buch,« fuhr sie mit einem eigenthümlichen Lächeln fort und deutete, in dem Buche blätternd, auf eine von mehreren angestrichene Stelle. »Hier steht, was ich denke. Ihnen aber mit meinen eigenen Worten nicht so kurz und klar aussprechen kann.« Es war Göthes Faust, das Gedicht, welches sie stets besonders interessirt hatte, weil sie im Faust einst einige Ähnlichkeit mit Niels Bryde gefunden hatte. Es war der zweite Theil, den sie ihm hinhielt. Er las:
»Daran erkenn' ich den gelehrten Herrn!
Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern!
Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar!
Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr;
Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht;
Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht!«
»Auch Sie,« fuhr er fort, »stellen den Glauben und die Wissenschaft einander entgegen, trennen sie, wie das Wortspiel verlangt: der Glaube gehört in das Oratorium und die Wissenschaft in das Laboratorium!«
»Nein,« erwiderte Esther, »ich erkenne, daß Wahrheit nicht gegen Wahrheit streiten kann, aber ich glaube mehr an Gottes als an der Menschen Wissen. Sie streiten, beweisen, verwirren und geben den Geistesarmen Ärgernis. Ich könnte mit den Worten der Bibel sagen: Es wäre ihnen besser, daß ein Mühlstein an ihrem Halse hinge, als daß sie einem dieser Kleinen ein Ärgernis gäben!«
»Sie verstehen darunter hauptsächlich die Materialisten,« sagte Niels Bryde; »Sie erblicken in ihnen gottlose Menschen, halb böse Mächte. Hören Sie einen Augenblick auf, ihnen schlechte Beweggründe unterzuschieben, treten Sie für eine kurze Zeit in ihre Reihen hinüber, um sie verstehen zu lernen. Es ist der uns von Gott eingepflanzte Drang zu wissen, zu erkennen, sich und die Welt zu begreifen, der den Mann in die Wissenschaft hineinführt; er sondert, stellt fest und giebt der Welt das Gefundene und Gewonnene. Darf er seine Überzeugung verläugnen? Glauben Sie wirklich, daß Galiläi, als er seine Behauptung, die Erde bewege sich, abschwören mußte, deshalb auch selbst seine Ansicht änderte? Nun ergeht es aber der Menschheit wie dem einzelnen Menschen; in dem Maße, wie sie fortschreitet, wirft sie auch ihre falschen Begriffe von sich: Zauberei verwandelt sich in Naturkräfte, das Übernatürliche wird natürlich, da wir dahin gelangen, es zu begreifen. Die Wissenschaft reißt das Unkraut des Unglaubens aus dem Acker des Glaubens, und greift die Hand auch bisweilen fehl, so geschieht es doch nicht in der Absicht zu sündigen. Der entschiedenste Materialist wird, sobald er zu der Überzeugung gelangt, daß sein Wissen Irrthum ist, umkehren; und wie Sie Gott auffassen, wird er, ähnlich wie in dem Gleichnis vom verlorenen Sohne, ein Fest ausrichten, nicht ein materielles, sondern ein geistiges in der Welt der Seele. – Der Materialismus ist keine Giftpflanze, keine Krankheit unserer Zeit; er ist ein Baum des Verstandes, Gott ließ ihn bereits in den ältesten Zeiten hervorwachsen. Nach der Allegorie war er im Garten des Paradieses lustig anzusehen. Die Bücher der Geschichte, die Schriften der Philosophen gleichen seinen Blättern, durch welche wir das Sausen des Geistes vernehmen. In unserer Zeit nehmen ganze Geschlechter in sich auf, was früher nur der Einzelne in sich trug oder durchkämpfte. Die Strenggläubigen wollen davon nichts wissen; sie folgen nicht der Lehre ihres Meisters: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet; verdammet nicht, damit ihr nicht verdammet werdet! Ihnen ist es, als ob alle Wahrheit einzig und allein vom Glauben innegeschlossen würde; aber sollten wir denn nicht prüfen und erwägen dürfen, ob dieser Glaube wirklich von Gott stammt?«
»Nicht allen Glauben betrachte ich als Wahrheit,« entgegnete Esther; »alsdann müßte ja alles in den verschiedensten Religionen Wahrheit sein. Im Glauben giebt es eben so gut Irrthümer wie im Wissen.«
»So ist es,« rief Niels Bryde. »Die Astrologie mußte zu Grunde gehen, weil ihr der Kern der Wahrheit fehlte.«
»Auch darf man sich nicht fürchten,« fuhr Esther fort, »über den Glauben nachzudenken, ich wenigstens trage kein Bedenken. Sollte es den Menschen nicht gestattet sein, in den für sie wichtigsten Angelegenheiten zu denken und zu prüfen? Das kann Gottes Wille nicht sein; er offenbart, und wir erkennen! Wie nun aber das menschliche Gesicht seine Grenze hat, so können wir auch mit den Augen des Geistes nur ein gewisses Ziel erreichen. Bei diesem Ziel dürfen wir nicht stehen bleiben, sondern müssen uns ihm hingeben, müssen in dem großen Wunderwerke an Wunder glauben, wie wir an Weltkörper in der Milchstraße und an noch ferner liegende Welten glauben, die durch irdische Mittel nie wahrgenommen werden können. Aber,« unterbrach sie sich selbst, »ich habe hier ein Gebiet betreten, wo ich den Anschein erwecken könnte, als wollte ich eine Nachbeterin, ein gelehrtes Frauenzimmer sein. Das bin ich nicht und möchte ich auch am allerungernsten sein, obgleich gerade die Wissenschaft der Weg ist, wenigstens der einzige, den ich kenne, auf dem man die Ihnen Heilung bringenden Kräuter suchen muß, die Ihre Augen dem ewigen Leben zu erschließen im Stande sind!« –
»Eben auf diesem Wege habe ich selbst gesucht, aber ich fand die Kräuter nicht kräftig genug,« versetzte er; »von Ihnen möchte ich deshalb Belehrung annehmen, wenn ich es könnte! In Ihrer Vertheidigung dessen, was Sie für Wahrheit halten, liegt so viel Innigkeit, daß diese schon eine Gewalt ausüben muß. Ich verstehe und begreife Sie besser als Sie mich, dessen bin ich gewiß; aber wie könnte es auch anders sein! Die letzten Jahre haben mir vieles klar gemacht, mich auch zu besserer Selbsterkenntnis geführt. In den Jahren der Jugend macht man manches Kraftexperiment, versucht, was der Körper aushalten kann, der Schwimmer versucht, wie lange er sich über dem Wasser zu halten vermag, der Starke versucht, ein wie schweres Gewicht er zu heben oder gegen welch einen kräftigen Gegner er den Sieg zu erringen im Stande ist; oft giebt es dabei einen Arm- oder Beinbruch. Auch mit dem Geiste macht man in diesem Alter Kraftexperimente, und ich gestehe, daß ich mich im jugendlichen Übermuthe so hoch zu erheben gesucht habe, daß ich das Dasein Gottes entbehren zu können, die Unsterblichkeit nicht zu bedürfen glaubte; ja, ich halte es für des Menschen höchste Aufgabe, es dahin zu bringen. Aber auf diesem Höhepunkte hält sich niemand, es ist eine Überanstrengung der Kräfte. Wir alle fühlen eine Abhängigkeit von etwas Höherem als von bloßen Zufälligkeiten, eine Notwendigkeit, das anzunehmen, was der Verstand nicht zu läugnen vermag. In all unserm Wissen bleibt ein ewiges Umhertappen, ein sich immer wiederholendes Zurückfallen, und man hat nur den einen Stützpunkt: Gott, das Rechenexempel geht ohne ihn nicht auf. Ich glaube an ihn, alle glauben wir an ihn – aber wie? Selbst die Gläubigsten, selbst die Weisesten, wie ist ihr Glaube an Gott? Göthe hat diese Wahrheit im Faust in echt menschlicher Weise an jener Stelle ausgesprochen, wo er Grethchen fragen läßt: ›Glaubst du an Gott?‹ Niels Bryde ergriff das Buch, welches auf dem Tische lag, ohne es zu öffnen, denn die Worte waren in seinen Gedanken lebendig:
»Wer darf sagen: Ich glaub' an Gott!«
und auf Gretchens Ausruf: »So glaubst du nicht!« fährt Faust fort:
»Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen: Ich glaub' ihn?
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?
Der Allumfasser, Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht Dich, mich, sich selbst?«
»Wie Grethchen und Faust Gott verschieden auffassen, so thun wir es vielleicht auch, aber wir begegnen uns in der Auffassung doch sicherlich mehr, als der Dichter hier in dem ersten Theile seines Werkes diese beiden sich hat begegnen lassen können. Der Glaube an Gott ist schwebend, wir haben keinen rechten Ausdruck für das Unnennbare, das Unfaßliche; aber die Gewißheit ist wahr, ist unerschütterlich. Es giebt einen Gott, aber außer Gott giebt es noch Eins, dessen wir nicht entbehren können, das ist Unsterblichkeit mit Bewußtsein und Erinnerung. Sie ist ein Drang, sie ist eine Hoffnung, allein als wirkliche Thatsache läßt sie sich nicht beweisen.«
»Ja, gewiß!« rief Esther. »In Gottes Liebe, in Gottes Gerechtigkeit liegt sie offenkundig da. Nehmen wir sie dort nicht wahr, was hülfe es dann, ›selbst wenn die Todten auferständen und dafür zeugten.‹ Bis in unsere Fingerspitzen hinein fühlen wir die Fürsorge Gottes; bei allem, was uns umgiebt, sehen wir, wie er in Liebe alles so weislich bedacht hat. Alles, was er geschaffen, empfängt ja, was es bedarf; alles erhält, wonach sein Innerstes sich sehnt und dürstet. Sollte nun dem Menschen, dem vollkommensten Wesen, nicht sein Seelendurst, sein Durst nach Unsterblichkeit gestillt werden? Gottes Liebe giebt uns die Zusicherung, Gottes Gerechtigkeit bedingt es. Wir alle empfinden, wie beschränkt unser Lebenskreis in dieser Welt auch sein mag, die Disharmonien, wir nehmen die ungleiche Vertheilung von Wohlsein, die ungleiche Belohnung des Guten in dieser Welt wahr. Wie wunderlich werden die Menschen in dieser Welt gestellt, wie vieles ist hier gleichsam wie ein Spielzeug weggeworfen! Sie haben mir von der Musikanten-Grethe auf der Haide erzählt; welche Gaben sind da fortgeworfen! Sie haben mir von dem armen Flickschneider erzählt, der wie ein Spielball von lauter Zufälligkeiten gepeinigt und hingeschleudert wurde, wo das Aufhören des Daseins ein Segen sein würde! Die Auswürfe der Menschheit, ein auf dem Herrscherthron sitzender Caligula, Dummheit, Grausamkeit, thierische Laster, wie sie die Geschichte uns bei vielen Machthabern den Gebietern über Millionen edlerer und besserer Menschen, zeigt, stehen wie die Auserkorenen da, von Gott beschützt, dessen Güte, Weisheit und Fürsorge wir alle kennen – aber dann wäre er eben uns, dann wäre er der Welt nicht der Gute, Weise und Fürsorgliche, und das ist undenkbar! Das Rechenexempel hier geht nur durch die Zahl auf, die da heißt: das ewige Leben! Dadurch ist dies für mich so mathematisch gewiß, wie daß zwei mal zwei vier ist.«
»Ich muß Ihnen einräumen, daß Sie klar beweisen,« sagte Niels Bryde. »Durch Ihre Worte oder durch deren Musik, durch welche mich Ihre Überzeugung gleichsam mit erhebt, bekomme ich ein gewisses Bewußtsein, doch den Glauben erlange ich nicht! – In mein Denken geht er nicht ein!«
»Nein,« unterbrach ihn Esther, »durch das Denken erhebt man sich nicht zum Glauben, dieser wird gegeben! Und im neuen Testamente ist er gegeben! In ihm strömt des Lebens Quelle! Ich darf mich nicht eine Christin nennen, da ich die christliche Taufe nicht empfangen habe, und ohne diese bin ich noch eine Jüdin, doch – möge das Leben, möge die Gnade, die Gott hat über mir leuchten lassen, auch Sie durchdringen! Und es wird geschehen!« Sie ergriff seine Hand und schaute ihm innig in die Augen. Es lag Wehmuth und doch zugleich Freude in diesem Blicke, und während sie sprach, beleuchtete die Pfingstsonne des Geistes ihre sanften kindlichen Züge.