Ein großes Ereignis in meinem Leben liegt mir hier so nahe, daß es fast alles andere verdrängt. Nur mit flüchtigen Strichen will ich deshalb das damit nicht in Zusammenhang Stehende andeuten. Ich kam oft in das Haus des Podesta, ich war, wie sie sagten, der belebende Genius desselben. Rosa erzählte von ihrem lieben Neapel und ich las ihr die divina commedia, Alfieri und Nicolini vor, und Marias Geist und tiefes Gefühl bezauberten mich nicht weniger wie jene Meisterwerke der Dichtkunst. Außer dem Hause war Poggio mein liebster Umgang; man wußte es und er wurde deshalb ebenfalls vom Podesta eingeladen. Er dankte mir und sagte, es wären meine und nicht seine Verdienste, unsere Freundschaft, die ihn hierherführte, wo er von Venedigs ganzer Jugend beneidet werden müßte. Ueberall bewunderte man mein Improvisationstalent, ja, schätzte es so hoch, daß mich kein Kreis losließ, ehe ich ihren Wunsch, ein Gedicht zu schaffen, erfüllt hatte. Die ersten Künstler reichten mir brüderlich die Hand und ermunterten mich, öffentlich aufzutreten, und ich erfüllte es dadurch wenigstens halb und halb, daß ich vor den Mitgliedern der Academia del Arte eines Abends über Dandolos Zug nach Konstantinopel und über die Bronzepferde auf der San Markuskirche improvisierte, wofür man mich mit einem Diplome beehrte. Ich war nun in die Gesellschaft aufgenommen. Aber eine noch größere Freude erwartete mich im Hause des Podesta. Maria überreichte mir eines Tages ein kleines Kästchen mit einem hübschen Halsband von schönen bunten Muschelschalen, die unendlich klein, fein und niedlich waren und nur durch einen seidenen Faden zusammengehalten wurden. Es war eine Gabe der Unglücklichen auf dem Lido, deren Wohlthäter man mich nannte. »Es ist sehr schön,« sagte Maria.
»Das müssen Sie aufheben und es einmal Ihrer Braut schenken,« sagte Rosa, »es ist gerade eine schöne Gabe und in der Absicht wurde sie Ihnen auch gegeben.«
»Meiner Braut!« wiederholte ich ernst, »ich habe keine, durchaus keine,«
»Aber sie wird schon kommen,« entgegnete Rosa. »Sie bekommen eine Braut und zwar die hübscheste von allen.«
»Nie!« wiederholte ich und starrte auf die Erde, indem ich fühlte, wieviel ich verloren hatte. Maria wurde bei meinem Mißmute ebenfalls still. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut mir das Geschenk zu überreichen, das sie von Poggio erhalten hatte, welchem es für mich übergeben war, und nun hatte es mich verstimmt und ich konnte es so schlecht verbergen. Ich hielt das Halsband in der Hand und hätte es Maria so gern geschenkt, aber Rosas Worte hielten mich davon zurück. Maria hatte gewiß meine Gedanken erraten, denn indem ich mein Auge auf sie richtete, glitt eine leichte Röte über ihr Antlitz.
»Sie kommen selten zu uns!« sagte die Gattin meines reichen Bankiers eines Tages, als ich ihr einen Besuch abstattete, »allzu selten kommen Sie her, aber zu Podestas! Da giebt es freilich Anziehenderes! Maria ist ja Venedigs erste Schönheit und Sie sind unser erster Improvisator. Es ist zugleich eine gute Partie! Das Mädchen soll ein prächtiges Gut in Kalabrien besitzen; sie hat es geerbt, oder es ist für ihr Erbteil gekauft. Seien Sie mutig und es glückt! Sie werden von ganz Venedig beneidet.«
»Wie können Sie glauben,« erwiderte ich, »daß ein so eigennütziger Gedanke in mir wohnt. Ich bin so weit davon entfernt Maria zu lieben, wie nur jemand sein kann. Ihre Schönheit ergreift mein Herz, wie alles Schöne, aber es ist nicht Liebe, und daß sie Vermögen hat, giebt bei mir nicht den Ausschlag.«
»Darauf muß man doch auch sehen,« sagte die Frau. »Liebe ist erst dann ein Lebensglück, wenn es in Küche und Keller wohlsteht. Davon muß man leben!« Sie lachte und reichte mir die Hand.
Es erbitterte mich, daß man so von mir denken, ja sogar reden konnte. Ich beschloß die Familie des Podesta seltener zu besuchen, so lieb sie mich auch alle hatten. Den Abend hatte ich daselbst zuzubringen gedacht, nun änderte ich meinen Plan. Mein Blut war in Bewegung gekommen. »Nein,« dachte ich, »weshalb mich ärgern, lustig will ich sein! Das Leben ist schön, wenn man es nur selbst will. Frei bin ich, niemand soll auf mich einwirken! Ich habe Kraft und Willen genug!« Als es dunkel war, streifte ich allein durch die engen Straßen, wo die Häuserreihen einander fast berührten, wo deshalb der schmale Raum hell erleuchtet und ein lebhaftes Menschengewühl war. In langen Strahlen fiel der Schein der Lampen auf den großen Kanal, schnell schossen die Gondeln unter dem einzigen hohen Bogen hindurch, welcher die Brücke trägt. Da tönte Gesang, das Lied von Kuß und Liebe, und wie die Schlange auf dem Baume der Erkenntnis, zeigte es mir der Sünde schönes Antlitz. Ich ging weiter, vertiefte mich in das Labyrinth der engen Gassen. Ich stieß auf ein Haus, welches sich durch eine hellere Beleuchtung vor den anderen auszeichnete; eine Menge Menschen ging hinein. Es war eines der kleineren Theater Venedigs, San Lukas glaube ich, heißt es. Eine kleine Operngesellschaft gab dort täglich, gerade wie im Theater Fenize in Neapel, zwei Vorstellungen. Um vier Uhr nachmittags begann die erste Vorstellung des Stückes, sie endete gegen sechs Uhr, und die zweite begann dann abends acht Uhr. Das Eintrittsgeld war sehr gering; freilich durfte man nicht erwarten, etwas Vorzügliches zu sehen, aber die Neigung der niedrigen Klassen, Musik zu hören, sowie die Neugierde der Fremden füllten das Haus oft bis auf den letzten Platz und zwar täglich zweimal. Der Zettel zeigte an: Donna Caritea, regina di Spagna, Musik von Mercadante. – »Man kann ja wieder gehen,« dachte ich, »wenn man sich langweilt. Die schönen Frauen will ich mir ansehen, mein Blut ist warm, mein Herz kann klopfen, wie Bernardos, wie Federigos; man soll den Knaben aus der Campagna mit der Ziegenmilch im Blute nicht verspotten. – Wäre ich immer leichtsinnig gewesen, wie ich es jetzt sein will, dann hätte ich gewiß größeres Glück gemacht! Ja, das Leben ist kurz, das Alter bringt Kälte und Eis.«
Ich ging hinein, bekam ein kleines schmutziges Billet, und man fühlte mich in eine Loge dicht neben der Bühne. Zwei Reihen Logen befanden sich übereinander, der eigentliche Zuschauerplatz war ziemlich tief, aber die Bühne selbst glich einem Präsentierteller. Sonderlich viel Personen konnte sie schwerlich fassen, und doch gab man sogar Ritteropern mit Gefechten und Aufzügen. Die Logen waren inwendig schmutzig und zerrissen und die Decke war erdrückend niedrig. Ein Mann in Hemdsärmeln erschien, um die Laternen anzuzünden. Die Leute plauderten laut auf ihren Plätzen. Im Orchester versammelten sich die Musici; sie bildeten ein einziges Quartett. Jede Einzelheit verriet im voraus den Genuß, den das Ganze zu gewähren imstande war, aber den ersten Akt wollte ich doch aushalten. – Ich betrachtete die Damen rundum, aber keine derselben gefiel mir. Jetzt trat ein junger Herr in die Nebenloge, welchen ich schon vorher in einer Gesellschaft gesehen hatte. Er lächelte, reichte mir die Hand und meinte, er hätte nicht geglaubt, daß wir uns hier treffen würden, »aber,« flüsterte er mir zu, »man kann oft recht angenehme Nachbarschaft erhalten. In diesem matten Mondenscheine macht man leicht Bekanntschaft.« Er schwatzte weiter, bis gezischt wurde, weil die Ouvertüre begann. Die Musik klang sehr kläglich. Endlich rollte der Vorhang in die Höhe. Der ganze Chor bestand aus zwei Damen und drei Herren, die den Eindruck machten, als wären sie direkt von der Feldarbeit geholt und darauf in Ritterkleidung gesteckt. »Ei nun,« sagte mein Nachbar, »die Solopartien sind oft nicht so übel besetzt. Hier ist ein Komiker, der auf jedem großen Theater auftreten könnte. – Ach du guter Gott!« unterbrach er sich selbst, indem die Königin des Stückes nun mit zwei Damen auf der Bühne erschien. »Sollen wir die jetzt haben! Ja, dann gebe ich nicht einen halben Zwanziger für das Ganze, Jeannette war weit besser.«
Es war eine kleine unansehnliche Gestalt mit einem feinen scharfen Antlitz und tiefliegenden dunklen Augen, die auftrat. Dazu saß ihr königliches Gewand ungemein schlecht. Es war die Armut, welche als Königin erschien, indes geschah es mit einem Anstande, der mich in Verwunderung setzte. Er stach seltsam von dem übrigen ab. Ein junges hübsches Mädchen würde er vortrefflich gekleidet haben. Sie schritt bis zu den Lampen vor – mein Herz klopfte stark, ich wagte kaum nach ihrem Namen zu fragen, ich glaubte, mein Auge betröge mich. »Wie heißt sie?«
»Annunziata!« antwortete er, »Singen kann sie nicht und ihr Anblick kann einen dafür auch nicht entschädigen.« Wie fressendes Gift fiel mir jedes Wort auf das Herz; ich saß wie festgenagelt, mein Auge starrte unbeweglich vor sich hin. Sie sang; nein, das war nicht Annunziatas Stimme! Matt, tonlos und unsicher hob sie sich.
»Es ist bei ihr wirklich eine Spur von guter Schule zu erkennen,« sagte mein Nachbar, »aber ihre Kräfte wollen nicht ausreichen.«
»Sie ähnelt wenig,« stammelte ich, »ihrer Namensschwester Annunziata, einer jungen Spanierin, die einst in Rom und Neapel glänzte.«
»Und doch,« erwiderte er, »ist sie es selbst! Vor sieben bis acht Jahren saß sie auf hohem Pferde. Damals war sie jung und soll eine Stimme wie die Malibran gehabt haben, jetzt aber ist die Vergoldung fort. Im Grunde genommen ist dies das Los aller dergleichen Talente! Einige Jahre stehen sie auf der Mittagshöhe. Geblendet von Bewunderung merken sie es nicht, daß es abwärts geht, ziehen sich nicht vernünftig zurück, so lange die Glorie sie noch umstrahlt, das Publikum merkt zuerst die Veränderung und dann ist es traurig. Gewöhnlich leben diese guten Damen auch so lustig, daß der ganze Verdienst gradweise mit verduftet, und dann geht es in Galopp abwärts. Sie haben sie wohl in Rom gesehen?« fragte er.
»Ja,« versetzte ich, »einigemal.«
»Es muß eine schreckliche Veränderung sein, am bedauernswertesten muß sie ihr natürlich erscheinen. Sie soll vor ungefähr vier bis fünf Jahren ihre Stimme in einer langen schweren Krankheit verloren haben; aber dafür kann das Publikum nicht. Klatschen Sie alter Bekanntschaft halber? Ich werde helfen, es wird der Alten Freude machen!« Er klatschte stark, einige im Parterre folgten seinem Beispiele, aber es wurde auch stark gezischt, während die Königin stolz von der Bühne schritt. Es war kein Zweifel, Annunziata war es.
»Fuimus Troes!« flüsterte mein Nachbar. Jetzt trat die Heldin des Stückes, ein schönes junges Mädchen von wollüstigen Formen und mit einem brennenden Blicke auf. Sie wurde mit Bravo und Beifallklatschen empfangen. Alle alte Erinnerungen stürmten auf meine Seele ein, des römischen Volkes Entzücken und Jubel über Annunziata, ihr Triumphzug, meine heiße Liebe! Bernardo hatte sie also verlassen! Oder hatte sie ihn vielleicht gar nicht geliebt? Ich sah ja doch, wie sie ihr Haupt über das seinige neigte und ihre Lippen auf seine Stirn drückte. Er hatte sie verlassen, sie verlassen, als sie krank wurde, als die Schönheit schwand, die er allein liebte.
Sie trat wieder auf die Bühne; wie alt und leidend sie aussah! Es war eine geschminkte Leiche, die mich zurückschreckte. – Ich war auf Bernardo erbittert, der sie um des Verlustes ihrer Schönheit willen hatte verlassen können, und doch war dieser es gerade, der mich jetzt so tief verwundete. Das Psychische in Annunziata konnte sich ja nicht geändert haben.
»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte mich der Fremde, denn ich sah leichenblaß aus.
»Es ist hier drückend heiß!« sagte ich, erhob mich, verließ die Loge und ging in die freie Luft hinaus. Ich eilte durch die engen Straßen, tausend Gefühle bewegten meine Brust, ich wußte nicht, wohin ich ging. – Ich stand wieder vor dem Theater; ein Mann nahm gerade den alten Zettel ab, um einen neuen für den nächsten Tag anzukleben.
»Wo wohnt Annunziata?« flüsterte ich ihm in« Ohr; er drehte sich um, sah mich an und wiederholte: »Annunziata? Sie meinen wohl Aurelia, Signore? Sie, bei der eine Menge Herren hinter den Coulissen waren? Ich will Ihnen das Haus zeigen, aber noch ist sie nicht fertig.«
»Nein, nein!« erwiderte ich, »Annunziata, sie, welche die Partie der Königin sang!« Der Mann maß mich mit Blicken, »Die kleine Magere?« fragte er, »ja sie, glaube ich, ist an Besuch nicht gewöhnt! Aber das hat freilich seine guten Gründe! Ich will Ihnen das Haus zeigen, Signore, Sie werden es ja an einem Trinkgelde für meine Bemühung nicht fehlen lassen! Aber treffen können Sie sie erst in einer Stunde, so lange dauert die Oper noch.«
»Erwarten Sie mich hier!« sagte ich, stieg in eine Gondel und ließ mich von den Gondolieren rudern, wohin sie wollten. Meine Seele war tief betrübt, ich mußte noch einmal Annunziata sehen, noch einmal mit ihr reden. Sie war unglücklich, aber was konnte ich für sie thun! Schmerz und Kummer trieb mich vorwärts.
Eine Stunde war gerade verstrichen, als meine Gondel vor dem Theater lag, wo der Mann schon wartete.
Durch enge schmutzige Durchgänge führte er mich nach einem alten verfallenen Hause; ganz oben in der Dachstube brannte ein Licht; er zeigte hinauf. »Dort wohnt sie?« rief ich. »Ich werde Eccellenza bis hinauf begleiten!« Er klingelte.
»Wer ist da?« fragte von oben eine weibliche Stimme.
»Marco Lugano!« erwiderte er, und die Thüre öffnete sich.
Inwendig herrschte vollkommene Nacht, die Lampe vor dem kleinen Madonnenbilde war ausgegangen, nur eine rote Schnuppe glimmte noch wie ein blutiger Punkt. Ich hielt mich dicht an ihn. Ganz oben wurde eine Thür geöffnet, wir sahen einen Lichtstrahl herabfallen. »Nun kommt sie selbst!« sagte der Mann. Ich drückte ihm einige Zwanziger in die Hand, er dankte tausendmal und eilte fort, während ich die letzte Treppe hinaufstieg.
»Ist das Repertoire für morgen etwa geändert, Marco Lugano?« hörte ich die Stimme fragen; es war die Annunziatas. Sie stand in der Thüre, ein kleines seidenes Tuch hatte sie um das Haar gebunden, ein dunkler großer Ueberrock hing lose um sie.
»Fallen Sie nicht, Marco Lugano!« sagte sie und ging in die Stube voran; ich folgte ihr.
»Wer sind Sie? Was suchen Sie hier?« rief sie erschreckt, als sie mich erblickte.
»Annunziata!« rief ich schmerzlich bewegt. Sie starrte mich an.
»Jesus Maria!« schrie sie auf und drückte die Hände vor das Gesicht.
»Ein Freund,« stammelte ich, »ein früherer Bekannter, dem Sie einmal viel Freude, viel Glück bereiteten, sucht Sie auf, wagt Ihnen die Hand zu reichen!« Sie nahm die Hände vom Gesicht; totenbleich, wie eine Leiche, stand sie da; das dunkle geistvolle Auge brannte. Aelter war Annunziata geworden, leidend sah sie aus, aber doch waren noch Reste der verschwundenen Schönheit übrig, derselbe seelenvolle Blick, von Wehmut umschwebt.
»Antonio,« sagte sie, und ich sah eine Thräne in ihrem Auge, »so müssen wir uns wieder treffen! Verlassen Sie mich, unsere Wege gehen weit voneinander, Ihrer aufwärts, meiner abwärts – doch auch zum Glücke!« seufzte sie schmerzlich.
»Stoßen Sie mich nicht von sich!« rief ich. »Als ein Freund, als ein Bruder komme ich, mein Herz treibt mich dazu! Sie sind unglücklich, Sie, welcher Tausende in lauter Freude zujubelten, Sie, durch welche Tausende erheitert, ja beglückt wurden!«
»Das Glücksrad dreht sich!« entgegnete sie. »Das Glück bleibt nur der Jugend und der Schönheit treu, vor deren Triumphwagen sich die Welt spannt. Verstand und Herz sind die schlechteste Mitgift der Natur, sie werden über Jugend und Schönheit vergessen, und die Welt hat immer recht.«
»Sie sind krank gewesen, Annunziata!« sagte ich, und meine Lippen bebten.
»Krank, sehr krank, ungefähr ein ganzes Jahr, aber ich starb doch nicht daran,« fuhr sie mit einem bitteren Lächeln fort. »Die Jugend starb, die Stimme starb, und das Publikum verstummte beim Anblick dieser beiden Leichen in einem Körper! Die Aerzte sagten, sie wären scheintot, und der Körper glaubte es! Der Körper bedurfte Speise und Kleider; all seinen Reichtum gab er für dieselben zwei lange Jahre hindurch hin. Dann mußte er sich schminken, auftreten, als besäße er die Toten noch lebendig; aber er trat im Schatten auf, damit man sich darüber nicht erschrecken sollte. Auf dem kleinen Theater, wo wenige Lampen brannten, wo alles halb dunkel war, zeigte er sich wieder. Allein man merkte doch, daß Jugend und Stimme tot, begrabene Leichen waren. Annunziata ist tot, dort hängt ihr Bild!« und dabei zeigte sie auf die Wand.
In dem ärmlichen Zimmer hing ein Gemälde, ein Brustbild mit reich vergoldetem Rahmen, das wunderbar von der sonstigen Armut ringsumher abstach. Es war das Bild Annunziatas, als Dido gemalt, es waren jene Züge, die noch immer in meiner Seele lebten, das geistige schöne Antlitz mit dem Stolz auf seiner Stirne. Ich sah von demselben auf die wirkliche Annunziata hernieder; sie hielt die Hände vor das Gesicht und weinte.
»Verlassen Sie mich! Vergessen Sie mein Dasein, wie die Welt es vergessen hat!« bat sie und winkte mir mit der Hand.
»Ich kann nicht,« sagte ich, »kann Sie nicht so verlassen! Die Madonna ist gut und gnädig, die Madonna hilft uns allen!«
»Antonio!« sagte sie ernst, »können Sie meiner im Unglücke spotten! Nein, Sie sind nicht wie die ganze übrige Welt, das habe ich auch schon früher von Ihnen gedacht. Aber ich begreife Sie nicht: als mir noch alle Beifall zujubelten, als mich die Welt mit Schmeicheleien und Lobeserhebungen überschüttete, verließen Sie mich völlig, und jetzt, wo jeder Glanz, der einst die Welt entzückte, verschwunden ist und alle mich wie einen fremden gleichgültigen Gegenstand ansehen, jetzt kommen Sie zu mir, suchen mich auf – –«
»Selbst stießen Sie mich von sich!« rief ich, sie unterbrechend, »stießen Sie mich in die Welt hinaus! Mein Schicksal, mein Verhängnis,« fügte ich in einem milderen Tone hinzu, »trieb mich in die Welt hinaus.« Sie blieb stumm, aber ihr Blick ruhte merkwürdig fest auf mir. Sie schien reden zu wollen, ihre Lippen bewegten sich, aber sie schwieg, ein tiefer Seufzer entwand sich ihrer Brust, sie schlug den Blick empor, senkte ihn aber gleich wieder. Ihre Hand strich langsam über ihre Stirn, es war, als ob ein Gedanke, der nur Gott und ihr bekannt war, durch ihre Seele ging.
»Ich habe Sie wieder gesehen,« sagte sie, »Sie noch einmal in dieser Welt gesehen! Ich fühle, daß Sie ein guter, ein edler Mensch sind. – Sie werden glücklicher werden als ich! Der Schwan hat ausgesungen. Die Schönheit ist verblüht, ich bin ganz allein! Von der glücklichen Annunziata ist nur das Bild an der Wand dort übrig! – Eine Bitte habe ich, Sie werden sie mir nicht abschlagen! Annunziata, die Ihnen einmal nicht gleichgültig war, bittet Sie darum!«
»Alles, alle« gelobe ich!« rief ich und drückte ihre Hand an meine Lippen.
»Betrachten Sie, was Sie heute Abend gesehen haben, wie einen Traum! Treffen wir uns in der Welt, dann kennen wir einander nicht! Jetzt scheiden wir!« Sie reichte mir die Hand. »In einer bessern Welt treffen wir uns wieder, hienieden trennen sich unsere Wege! Leben Sie wohl, Antonio, leben Sie wohl!«
Da sank ich, von Schmerz überwältigt, vor ihr nieder. Ich wußte nichts mehr, sie hob mich auf und führte mich wie ein Kind und ich weinte wie ein solches. »Ich komme, ich komme wieder!« sagte ich und verließ sie. »Lebe wohl!« hörte ich sie sagen, sah sie aber nicht mehr. Auf der Treppe wie auf der Straße war es vollkommen finster. »Gott, wie unglücklich können deine Geschöpfe sein!« jammerte ich und weinte; kein Schlaf kam in meine Augen, es war eine kummervolle Nacht.
Unter tausend Plänen, die ich faßte und wieder verwarf, verging der folgende Tag. Ich fühlte meine Armut; ein armer Knabe war ich nur, den man aus der Campagna zu sich genommen hatte. Gerade meine größere Geistesfreiheit hatte mich in die Fesseln der Abhängigkeit gelegt, aber mein Talent schien mir ja eine glänzende Bahn zu eröffnen – konnte sie glänzender als Annunziatas werden und wie endete diese? Der brausende Fluß, welcher mit Wasserfällen und Regenbogen schäumend und strahlend dahinschoß, endete in den pontinischen Sümpfen des Elends.
Noch einmal mußte ich Annunziata sehen, mußte ich mit ihr reden. Den zweiten Tag nach unserem Zusammentreffen stieg ich wieder die engen niederen Treppen hinaus. Die Thüre war verschlossen; ich klopfte an, ein altes Mütterchen öffnete eine Seitenthür und fragte, ob ich das Zimmer ansehen wollte, welches zu vermieten wäre. Für mich würde es aber wohl zu gering sein. – »Aber die Sängerin?« fragte ich. – »Sie ist ausgezogen!« erwiderte die Alte, »schon vorgestern zog sie aus! Abgereist glaube ich; es ging Hals über Kopf.«
»Wissen Sie nicht wohin?« fragte ich. – »Nein, sie sprach kein Wort davon. Aber sie sind nach Padua, nach Triest oder Ferrara oder nach irgend einer anderen Stadt gegangen, wie es ja so viele giebt.« Sie öffnete die Thür und zeigte mir das leere Zimmer.
Ich ging nach dem Theater; es war geschlossen, die Gesellschaft hatte gestern die letzte Vorstellung gegeben. – Sie ist fort, die unglückliche Annunziata! Bernardo war doch an ihrem Unglücke schuld, war an der ganzen Richtung schuld, die mein Leben genommen hatte. Wäre er nicht gewesen, hätte sie mich lieben können, ihre Liebe würde meinem Geiste eine größere Kraft und Entwicklung gegeben haben. Wäre ich ihr damals gefolgt und wäre als Improvisator aufgetreten, dann hätte mein Triumph sich vielleicht an den ihrigen geknüpft und wir hätten den Platz gewechselt. Alles wäre anders geworden. Kummer hätte ihre Stirne nicht gefurcht.