Als ihm die neueste Rang- und Quartierliste der Armee vorgelegt wurde, schrieb er eigenhändig mit kleinen eckigen Schriftzügen, die steil waren wie ein Kirchendach:
»Johann Peter Bitterlin aus Lüneville; 60 Jahr alt, 35 Jahre gedient, elf Feldzüge, zweimal verwundet; Hauptmann 1834, Ritter der Ehrenlegion 1836, pensioniert 1847; Inhaber der Denkmünze von St. Helena.«
Seine kurze, gedrungene Gestalt erschien mehr noch durch die Gewohnheit des Kommandierens als durch die Jahre steif und aufgerichtet. Er war nie gewesen, was die Nähmädchen einen schönen Mann nennen; aber im Jahre 1858 fehlten ihm sogar ein bis zwei Millimeter an dem gesetzlichen Soldatenmaß. Mir ist sehr glaublich, daß sein Körper sich allmählich gesackt hatte auf den großen Märschen, wo man die Beine fortwährend ausreckt. Seine Füße waren kurz, seine Hände breit. Sein gleichmäßig gerötetes Gesicht war wie ein Brusthemd von kleinen Falten durchzogen und hatte den Ausdruck eines festen Charakters bewahrt. Seine verteufelt große Nase, die das Gesicht grade so in zwei Hälften teilte, wie die Apenninen Italien, hatte ums Jahr 1820 gewiß manches Mädchen unglücklich gemacht. Der feine Schnurrbart war nicht mehr geschmeidig wie sonst; er wurde nicht mehr mit ungarischer Pomade gebändigt, sondern glich einer auf der Oberlippe entsprossenen Zahnbürste. Er war immer kohlschwarz von Sonntag Morgen bis Mittwoch Abend, und wenn er in den letzten Wochentagen ein wenig grau wurde, so lag das an dem nicht ganz vollkommenen Färbmittel. Bei den Haaren verhielt es sich anders; sie waren von Natur schwarz und sind es bis zum Ende geblieben; der Perückenmacher hatte sie garantiert. Das Alter des Hauptmanns versteckte sich hinter einer ewig jungen Eitelkeit und verriet sich nur durch einige Büschel weißer Haare in seinen Ohren und durch die Falten seines Antlitzes, das krausere Wellen zeigte, als ein See im ersten Morgenschauer. Sein Anzug stellte einen Mann von dreißig Jahren vor nach der Mode von 1828: Hut mit schmalem Rande, schwarze Halsbinde hoch bis an die Ohren, Überrock bis unterm Kinn zugeknöpft, weites großfaltiges Beinkleid. Bei seinen Handschuhen bevorzugte er die von weißem schottischen Zwirn; das rote Bändchen in seinem Knopfloche blühte üppig wie eine Sommernelke. Seine Stimme war kurz, befehlerisch und hatte außerdem einen mürrischen Ton. Er zog die Sätze in der Mitte in die Länge und brach am Ende kurz ab, wie wenn er beim Exerzieren kommandierte. Er sagte: Wie geht es ... Ihnen? mit demselben Tonfall wie: Präsentierts ... Gewehr! Sein Charakter war höchst offen, ehrenhaft und zartfühlend, aber zugleich sehr bitter, sehr eifersüchtig und höchst boshaft.
Die Stimmung eines Sechzigjährigen ist fast immer der Wiederschein seiner glücklichen oder traurigen Lebenserfahrung. Junge Leute sind, wie die Natur sie gemacht hat; die Greise sind durch die oft ungeschickte Hand der Umgebung bearbeitet. Johann Peter Bitterlin war der hübscheste Tambour und der lustigste französische Junge gewesen in der Schlacht bei Leipzig. Das Glück verhätschelte ihn; er wurde Korporal mit sechzehn Jahren und Sergeant mit siebzehn. Schon als er die ersten Litzen bekam, träumte er, wie so viele, von besternten Epauletten, dem Marschallstabe und vielleicht noch mehr. Das Wort »unmöglich« gab es nicht im Soldatenlexikon; ein tapfrer Bursch ohne Geburt und Orthographie konnte alles erhoffen, wenn die gute Gelegenheit ihn unterstützte. Bitterlin hatte sich von Anfang an durch seine Haltung ausgezeichnet, durch Festigkeit, durch Mut und alle sonstigen Eigenschaften, die der französische Soldat als notwendiges Zubehör mit sich führt. Er hätte seine erste Epaulette schon bei Waterloo verdient, aber er erhielt sie erst neun Jahre später in Spanien. In der Zwischenzeit kam er sehr oft in Versuchung, den Dienst aufzugeben und in Lüneville seinen Kohl zu bauen; aber er hatte sich niemals in Verschwörungen eingelassen, trotz seiner Unzufriedenheit mit der niederen Stellung. Maschinenmäßig und unlustig trieb er das Handwerk weiter, das er einst enthusiastisch ergriffen hatte. Der Dienst, das Kaffeehaus, die Lektüre des »Constitutionnel« und die schönen Augen einer Putzmacherin in Toulouse teilten sich in die Stunden des entmutigten Kriegers. Er las immer wieder im Militärhandbuch und zählte die Kameraden, die ihn übersprungen hatten, und diese Lektüre verbitterte ihn. Indessen fesselte ihn ein gewisses Gefühl an das Regiment und er folgte seiner Fahne, wie die Hunde ihrem Herrn. In dieser murrenden Entsagung liegt etwas Erhabenes, das ein Civilist nicht zu würdigen weiß. Bitterlin wünschte den Bourbonen alles mögliche Üble; aber niemand diente ihnen treuer, als er. Wenig fehlte, daß er für sie 1830 in der Julirevolution gestorben wäre; man trug ihn auf den Verbandplatz in der Markthalle mit einer Kugel im Bein. Als er nach vierzehntägigem Fieberdelirium wieder zur Besinnung kam, freute er sich zu hören, daß die Regierung sich ein wenig verändert hatte. Das Verlangen, seine Familie, will sagen sein Regiment wiederzusehen, bewirkte seine raschere Genesung. Er hoffte ja, die Zeit der großen Kriege würde wiederkehren, und er träumte von einem allgemeinen Brande in ganz Europa, wie alle echten Soldaten. Aber es gab nur Kaminbrände und Bitterlin erhielt nicht einmal den Auftrag, diese zu löschen. Er wurde dann Hauptmann nach der Altersfolge, »nach der Herdenordnung,« wie er im Ärger zu sagen pflegte. Sein Oberst, der ihn von Zeit zu Zeit aufmunterte, bewies ihm, daß es gar nicht so schlimm mit ihm stände. Als sechsunddreißigjähriger Hauptmann hatte er Afrika in Aussicht. Er fuhr über das Mittelmeer und begann den Feldzug, aber er erwischte die Ruhr, ehe er den Feind zu sehen bekam. Man sandte ihn zur Erholung nach Briançon in den Hochalpen; da gab es sieben Monate Winter und die Bäche flossen mitten in den Straßen! Aus Langerweile heiratete er dort die Tochter eines Kaffeewirtes. Kaum vermählt, erhielt er Befehl, mit dem Depot nach Straßburg zu gehen; die Frau folgte ihm mit dem Gepäck. Im Jahre 1839 wurde er Vater einer Tochter, die auf dem Marsche von Straßburg nach Paris geboren wurde, zwischen dem 310. und 311. Kilometerstein. Das Kind gedieh und der Hauptmann glaubte eine Zeitlang, die Freuden des Familienlebens würden ihn über alle fehlgeschlagenen Hoffnungen trösten. Aber zum Unglück war seine Frau schön und kokett; sie ließ sich den Hof machen, ohne an Arges zu denken, und Bitterlin lernte eine Art von Eifersucht kennen, die er beim Lesen der Rangliste nie verspürt hatte. Er zog sich zurück, schloß seine Thür ab und zeigte den Leuten die Zähne; man konnte ihn nur in Dienstangelegenheiten sprechen. Er befleißigte sich einer raffinierten Höflichkeit, wie alle Männer, die im Gebrauch der Waffen eine anerkannte Überlegenheit besitzen, aber er verstand durchaus keinen Spaß. Die jüngeren Hauptleute neckten ihn trotzdem; er spann den Geduldsfaden lang aus, aber dieser riß endlich, als ein Kamerad zu weit gegangen war, und er hatte das Unglück ihn zu töten. Niemand machte ihm Vorwürfe; die Sache war ganz korrekt verlaufen. Indessen nahm er mit neunundvierzig Jahren seinen Abschied. Seine Pension, sein Erbteil und die kleine Mitgift seiner Frau gewährte im ganzen eine Einnahme von ungefähr fünftausend Franken, womit er in Paris ausruhen wollte. Er ließ sich nieder im Sumpfviertel, wenige Schritte vom Königsplatze, [Fußnote] schickte die Tochter in die Pension nach Saint-Denis und schloß sich mit seiner Frau ins Stübchen ein. Diese Vereinsamung brachte Frau Bitterlin in vier Jahren den Tod; die Engel selbst wären müde geworden, den Hauptmann in seiner Wüste zu ernähren.
Als er wieder in seine Wohnung trat, bis obenhin bespritzt von dem zähen Schmutz des Kirchhofes, stellte er einige Stunden lang Betrachtungen an über Zufall und Vorsehung, über das Geschick und die Zukunft der zweibeinigen ungefiederten Geschöpfe; er stellte sich einige jener anmutigen Probleme, die man ganz sicher nur mittels eines Pistolenschusses löst; aber er schoß sich nicht tot; er lebte schon so lange, daß er es am Ende gewohnt geworden war. Die Magd meldete ihm, das Frühstück wäre bereit, und er setzte sich zu Tisch und schluckte ganz leidlich einige Bissen hinunter.
»Essen Sie nur, lieber Herr, essen Sie,« sagte die dicke Agathe, während ihre Thränen auf das Hammelragout träufelten; »Sie müssen Mut fassen und sich stärken, da nur noch wir beide auf der Welt sind, nebst Fräulein in Saint-Denis.«
Die dicke Agathe ist ein Gebirgskind aus Oisens, krüpplich und hinkend; der Kaffeewirt von Briançon hatte sie seiner Tochter als Neujahrsgeschenk verehrt und sie war ein wahrer Schatz für den Haushalt. Dieses tapfere und beschränkte Geschöpf steht im Sommer mit der Sonne auf, im Winter bei Licht, genießt zum Frühstück eine stille Messe und ein Stück trocknes Brot, kauft in der Halle ein und rauft sich fast beim Feilschen mit den Marktweibern; sie holt das Wasser zur Stunde, wo die öffentlichen Brunnen fließen, wäscht und plättet das Leinenzeug selber, poliert die roten Zimmerfliesen und reibt die Möbel spiegelblank und in ihren Mußestunden unterhält sie sich damit, die Kochtöpfe zu verzinnen. Alle ihre Gedanken sind beim Haushalt, und in den paar Stunden, die sie dem Schlafe gönnt, träumt sie davon, daß die Wäsche zu stark geblaut ist oder daß die Ameisen in langen Zügen die Speisekammer durchwandern.
Aber Agathens Talente so gut wie ihre Tugenden waren für Herrn Bitterlin ein verschlossenes Buch. Er nahm ihre Dienste mit menschenfeindlicher Verachtung hin; im Grunde hielt er sich noch für sehr großmütig, daß er ein so nichtiges und widerwärtiges Geschöpf nicht vor die Thür setzte. Bei jeder Gelegenheit zuckte er die Achseln, wischte mißtrauisch sein glänzend reines Glas aus und berührte das Essen nur so obenhin. Er zankte nicht über die großen Ausgaben, aber so oft er die Rechnung nachsah, äußerte er etwas bitter: »Ich glaube wohl, armes Mädchen, daß du mich nicht bestiehlst, aber als ich Leutnant war, kam ich monatlich mit fünfzig Franken aus und ich lebte besser.«
Agathe schwamm in Thränen, dankte ihrem Herrn für das geschenkte Vertrauen und versprach für die Zukunft es besser einzurichten.
Seitdem aber der unliebenswürdige Herr keine Frau mehr zu bewachen hatte, hielt er sich selten in der Wohnung auf. Wenn er sich angekleidet und seufzend den Moniteur der Armee gelesen hatte, frühstückte er an einem Tischende, nahm Hut und Handschuhe und trat das Pflaster von Paris bis sechs Uhr abends. Er hielt sich oft bei den Kugelspielern in den Elysäischen Feldern auf, und wenn er Gelegenheit gefunden hatte einen Ungeschickten zu verspotten, ging er befriedigt weiter. Zuweilen trat er in einen Fechtsaal in der Nähe seiner Wohnung, bei einem alten Fechtmeister seines Regiments, der ihn höchst achtungsvoll begrüßte. Er ließ sich nie herab ein Florett zu berühren, aber er bewies Schülern wie Liebhabern, daß sie reine Stümper wären. Am eifrigsten besuchte er das Marsfeld; der Anblick der Uniformen war für ihn eine schmerzliche, aber nie ermüdende Erholung. Gut ausgeführte Exercitien machten ihm Vergnügen, noch mehr aber die Fehlgriffe dabei. So oft ein Offizier ein Versehen machte, rieb er sich grinsend vor Lust die Hände und zog die Zunge über den Schnurrbart, wie die Ziege ein Dorngebüsch ableckt. Alle Abende nach dem Essen ging er und las Zeitungen im Kaffeehause »Zum müden Saumtier« am Boulevard Beaumarchais. Die Kellner bedienten ihn hier mit dem besten Kaffee und dem ältesten Cognac, weil er der unangenehmste und anmaßendste Gast war. Beim Billard, beim Damenspiel und Pikettspiel erteilte er gern seinen Rat, sparte auch nicht die boshaften Komplimente; aber darüber ärgerte sich niemand, weil man seit lange seinen Charakter kannte. Lud man ihn selbst zu einer Spielpartie ein, so antwortete er trocken, es liege nicht in seiner Gewohnheit zu spielen. Seltsam, daß seine Kaffeehausbekannten, die einzigen, die er in Paris hatte, mit so viel höherer Achtung zu ihm sprachen, je mehr er sie von oben herab behandelte. Die Masse der Menschen nimmt Ansehen und Würde, die wir uns selber zu geben wissen, als bare Münze hin und bezeugt die tiefste Ergebenheit dem, der ihnen die geringste Achtung erweist.
Die griesgrämige Laune des Hauptmanns ward förmlich gallicht infolge einer übeln Erdreistung seiner vormaligen Kameraden: sie nahmen Sebastopol ein ohne ihn! Bei den ersten Nachrichten vom Krimkriege hatte er sich über die Lage Frankreichs rundweg gegen die dicke Agathe erklärt. »Gutes Kind,« sagte er, »du verstehst nichts von diesen Dingen, und ich weiß eigentlich nicht, warum ich mit dir davon rede; aber es giebt Augenblicke, wo man mit seinem Stiefelzieher schwatzen möchte, auf Ehre! Frankreich will sich eben mit Rußland raufen; das ist unsere Idee, ich könnte sagen: meine Idee. Schon 1811 als Dreizehnjähriger pflegte ich zu sagen: ›wir müssen Rußland fassen.‹ Rußland kennt mich, Agathe; ich bin von einem Ende zum andern durchmarschiert, ich habe mich an der Moskwa mit ihm gemessen. Ich konnte russisch sprechen und kann noch ein wenig: Njet! Da! Karatscho! Wenn die Russen mich in der Krim landen sähen, möchte wohl mehr als einer sagen: ›Sieh da! der kleine Bitterlin! Obacht da unten.‹ Was wird nun dabei der Kriegsminister thun? Glaubst du wohl, daß er mich wird holen lassen? Ei, wie so denn auch?«
Kein Mensch in ganz Frankreich interessierte sich leidenschaftlicher als er für die Erfolge und die Schlappen der verbündeten Streitkräfte. Sein altes Regiment war auch in den orientalischen Krieg gezogen, nachdem es bei der Belagerung Roms rühmlich mitgewirkt hatte. Bitterlin verfolgte mit tiefem Gefühl des Neides fortwährend die herrlichen Erfolge dieses schönen 104. Regiments. Ganze Tage brachte er damit hin, auf der Karte der Krim die Märsche zu berechnen oder mit Bleistiftstrichen die Befestigungen von Sebastopol niederzuwerfen. Morgens und abends schalt er die Leiter der Expedition in der Person der dicken Agathe aus. Erschien ihm ein General allzu zaghaft im Vorgehen, so schob er ihn ohne weiteres in die Reserve, schwang sich aufs Roß an seiner Stelle, hieb alles nieder und legte sich als Marschall schlafen. So oft die Nachrichten schlecht lauteten, lief er achselzuckend in den Straßen herum. Einige seiner Intimen vom Café zum Saumtier glaubten fest, der Krieg würde kein Ende nehmen, weil die wahren Kenner dabei fehlten.
An dem Tage, wo man in Paris erfuhr, daß der Malakoffturm genommen war, wurde im Herzen des Hauptmanns eine zweite Schlacht geschlagen. Auf der einen Seite stand der Ruhm seiner teuren Fahne, die Ehre Frankreichs, das Wonnegefühl eines alten Soldaten, den der ferne Siegesjubel berauscht; auf der andern Seite das Gefühl nicht dabei zu sein und nichts gethan zu haben, wenn die Ehrenkreuze und Beförderungen und Titel auf die Sieger herabregnen; diese widersprechenden Gefühle drangen zugleich und so plötzlich auf ihn ein, daß er durch die Erschütterung in Thränen ausbrach, ohne sich bewußt zu werden, ob es vor Freude oder aus Ärger war. Die dicke Agathe, die von Politik nichts verstand, fragte ihn unbefangen, ob man denn ihm den Malakoffturm genommen habe und ob man vielleicht nun zur Ersparnis den zweiten Gang beim Frühstück aufgeben müßte.
Von Zeit zu Zeit erinnerte sich der Hauptmann, daß er auch Vater war, und dieser an sich tröstliche Gedanke steigerte den unvermeidlichen Ärger noch bedeutend. Denn die Vaterschaft erinnerte ihn zum Unglück an seine Ehe, und diese Ehe war nicht erfreulicher für ihn gewesen als für manchen andern. Dieser beschränkte und zum Extrem geneigte Kopf, in dem sich die verkehrtesten und übertriebensten Vorstellungen von Ehre zusammendrängten, vermeinte noch sich selber eine Aufklärung darüber schuldig zu sein, ob seine verstorbene Frau ihm treu gewesen wäre; ein lächerlicher Zweifel, der ihn aber zuweilen mitten in der Nacht aus dem Schlafe weckte. Seine Eifersucht hatte er nicht mit der Frau begraben; sie kehrte immer wieder in Anfällen, wie ein Wechselfieber. Der unglückliche Mann konnte dann eine Viertelstunde lang vor dem Spiegel sein eignes Gesicht betrachten, um zu prüfen, ob er wohl wie ein betrogener Ehemann aussähe. Unaufhörlich erwog er in seinem kranken Gehirn die Umstände, die seinen Verdacht erregt hatten; er führte täglich aufs neue mit albernem Ernst darüber eine nie endende Gerichtsverhandlung. So oft die Unschuld seiner Frau ihm erwiesen schien, begab er sich in Person auf den Kirchhof und bat das arme Geschöpf um Verzeihung für all das Leid, das er ihr angethan hatte. Aber wenn gleichzeitig der leiseste Zweifel ihm durch den Kopf ging, dann drohte er dem Grabe mit der Faust und wünschte seine Frau wieder zu erwecken, um ihr den Hals umzudrehen. Dem Steinmetzen hatte er verboten, die gebräuchliche Formel »eine gute Ehegattin« darauf einzumeißeln; dieser Platz auf dem Steine sollte frei bleiben bis nach gründlicher Untersuchung, Diese peinliche Ungewißheit erlaubte ihm auch nicht, mit ungetrübter Freude seine Tochter in die Arme zu schließen. Obgleich er keinen vernünftigen Grund zu der Annahme hatte, daß er den Namen für das Werk eines andern hergegeben habe, so bemerkte er doch mit zunehmendem Mißvergnügen, daß Emma ihm niemals ähnlich sehen würde. Wenn er sich einmal entschloß, sie in Saint-Denis zu besuchen, so fand er sie in ihrer vorschriftsmäßigen Klosterkleidung höchst widerwärtig aussehend. Er küßte sie leichthin auf die Stirn, aber er überhäufte sie nie mit der herzlichen Zärtlichkeit eines echten Vaters. Und ihrerseits trat das Mädchen in das Sprechzimmer wie in die Schulklasse. Bitterlin stellte sich zu ihr wie ein Lehrer; er korrigierte sie wie ein Schülerheft.
Die Ferienzeit verbrachte man in der Familie in Anteuil. Vater und Tochter nebst Agathe stiegen mit ihrem Gepäck in einen gelben Omnibus und landeten vor einer Art von Kaserne oder Bienenkorb oder bürgerlicher Republik, bestehend aus 250 Zimmern nebst ebensoviel Gärtchen. Familie Bitterlin bezog ein Zimmer im dritten Stock mit Aussicht auf das Land. Ihr Garten war hinreichend groß, um zwölf Schritte nach jeder Richtung zu gestatten. Der Hauptmann fand diese Sommerfrische albern, aber er behielt sie mehrere Jahre, nur um tüchtig darauf schimpfen zu können. Wenn er auf seiner Rasenbank saß und seine Fünfpfennigcigarre rauchte und halb zerkaute, sah er Emma in einer Allee spielen, die allen diesen Wirtsgärtchen als gemeinsamer Korridor diente. Dann legte er sich die Frage vor, was eigentlich er, Bitterlin, verunglückter Marschall von Frankreich, mit diesem kleinen mageren rotäugigen Mädchen zu thun habe, das beim Laufen die Arme und Beine so schlenkerte.
Das unvorteilhafte Alter dauerte bei Emma Bitterlin weit über die gewöhnliche Zeit hinaus. Mit vollen fünfzehn Jahren war sie, wo nicht häßlich, doch mindestens vollkommen unbedeutend, und der Hauptmann genierte sich nicht, in ihrer Gegenwart zu sagen, daß die Männer um ihrer schönen Augen willen nie eine Thorheit begehen würden.
Aber als sie nach Vollendung ihrer Erziehung für immer ins väterliche Haus zurückkehrte (es war, wenn ich nicht irre, in den Ferien 1856), als sie dort die strenge Uniform der Ehrenlegion mit einem hübschen Sommerkleide vertauschte, war ihr Vater erstaunt und erschrocken über die Verwandlung, die mit ihr vorgegangen war. Er schwur, sie wäre ganz unanständig schön, und machte sich für seine alten Tage auf eine neue Reihe von Quälereien gefaßt.