Endlich war es so weit, zwar vier Wochen früher wie errechnet, doch die werdende Mutter war hocherfreut, dass die beschwerlichen letzten Wochen vor der Geburt zu Ende gingen. Nur noch durch ein unbekanntes, dunkles Tor hindurch, dahinter wartete der Sohn Timo.
Alles verlief gut. Dankbar und glücklich hielten Barbara und Alfred ihr Neugeborenes im Arm.
Dann kam der Tag der Entlassung aus der Entbindungsstation, St. Josefshaus, Heidelberg.
Der stolze Vater hatte sich Urlaub genommen, um seine kleine Familie heimzuholen.
Nachdem die üblichen Formalitäten erledigt waren und Barbara und Alfred das Kind im Säuglingszimmer abholen wollten, wurden sie aufgefordert ins Ärztezimmer zu kommen. Merkwürdig!
Bei ihrem Eintreten war das gesamte Ärzteteam versammelt. Den angespannten Gesichtern konnte man ansehen, dass keine freudige Nachricht zu erwarten war. Die jungen Eltern fassten sich instinktiv an den Händen, sie ahnten, dass etwas Ernstes passiert war, was mit ihrem Sohn zutun hatte.
Als die Begrüßung beendet war und man sich gesetzt hatte, begann die Kinderärztin mit den Worten:
"Ich muss ihnen leider eine bittere Botschaft überbringen, ihr Sohn hat eine offene Lendenwirbelsäule".
Die Worte trafen mitten ins Herz. Von einer Sekunde zur anderen wurden sie vom Himmel in die Hölle gestürzt.
Stiller Widerspruch regte sich, das ist sicher ein Irrtum, eine Verwechslung, die ganzen Tage sah doch alles so normal aus. An dem Kind waren alle Gliedmaßen zu sehen und es bewegte sich wie alle anderen auch, es schrie, trank, schlief…
Voll Mitgefühl blickte die Ärztin auf die bestürzten Eltern und machte weitere Ausführungen:
"Die Lendenwirbelsäule Ihres Kindes ist an einer Stelle nicht geschlossen, es liegt nur eine dünne Haut darüber.
Das Wichtigste ist, dass diese Stelle geschlossen bleibt. Ansonsten tritt Nervenwasser aus und es kann zu Lähmungen kommen. Ein künstlicher Verschluss der Wirbelsäule kann frühestens im Alter von zwei Jahren erfolgen".
Wie konnten sie diese Situation bewältigen? Über ihren Köpfen schlugen dunkle, schwere Wogen zusammen.
Als sie mit Timo nach Hause kamen, war ein, von der Klinik beauftragter Kinderarzt bereits da, der weitere Anweisungen gab.
Gut, dass sich Alfred Urlaub genommen hatte, denn jetzt mussten schnellstens die zur Pflege notwendigen Artikel beschafft werden, keine Sekunde durfte man versäumen.
Ängstlich wurde von nun an bei Timo die kranke Stelle beobachtet. Er durfte nicht auf dem Rücken liegen, wurde seitlich fixiert. Da er sich nicht bewegen konnte, schrie er, sobald er wach war. Ins Badewasser kam eine antiseptische Flüssigkeit; auf die Stelle an der Wirbelsäule wurde mehrmals täglich eine Spezialtinktur gepinselt.
Durch die große Anspannung, die mit der Pflege verbunden war, dachten Barbara und Alfred kaum an Advent und Weihnachten.
Doch einen Wunsch hatten sie: "Einmal mit dem Kinderwagen über den Weihnachtsmarkt bummeln".
Natürlich war ein Risiko dabei, denn auch im Kinderwagen musste die Seitenlage eingehalten werden, konnte das gut gehen?
Doch sie erfüllten sich den Herzenswunsch, vergaßen für einige Zeit alle Sorgen und fuhren mit dem Kind über den Weihnachtsmarkt.
Schon von weitem leuchtete der riesengroße Weihnachtsbaum über und über mit kleinen Kerzen geschmückt. Vom nahen Kirchturm erklangen die Glocken, eine Weihnachtsmelodie kam vom Rathausglockenspiel.
Aus einer anderen Richtung hörten sie verheißungsvolle Posaunenklänge, ein Chor sang weihnachtliche Weisen.
Mit Freude beobachteten sie die Kinder. Da wurde geschoben, gedrückt und geschubst, alle wollten in die bunten Buden schauen. Ab und zu wurde kurz angehalten und von den Erwachsenen kleine Wünsche erfüllt.
Hier eine Portion gebrannte Mandeln, dort heiße Maroni, oder ein Päckchen Zimtsterne, einen Bratapfel oder auch ein Lebkuchenherz. Kinderpunsch und Glühwein gab es an vielen Ständen.
Die Augen der Kinder strahlten um die Wette mit der festlichen Weihnachtsbeleuchtung. An der Krippe mit lebenden Tieren hatten besonders die Kleinen Spaß, sie reichten Futter durch das Gitter und streichelten Schafe und Esel. Der Nikolaus und das Kinderkarussell waren ein besonderer Magnet und stets umlagert.
Barbara und Alfred waren nachdenklich geworden. Jeder dachte für sich:
Ob unser Kind jemals dabei sein wird?
Inzwischen war es dunkel geworden, die festliche Beleuchtung, die weihnachtlichen Klänge und der besondere Duft von brennenden Bienenwachskerzen, verbreiteten eine stimmungsvolle Atmosphäre, doch die Traurigkeit wollte aus ihren Herzen nicht weichen.
Die Hoffnung, dass Timo gesund werden würde, hatten sie, trotz der niederschmetternden Diagnose der Klinikärzte, nie ganz aufgeben. Im Bekanntenkreis gab es einige Ärzte, auch Kinderärzte, die sie um ihre Meinungen gebeten hatten, eine beruhigende Aussage konnte keiner machen.
Plötzlich schien sich eine Entscheidung abzuzeichnen, denn über Nacht bildete sich an der kranken Stelle ein gelber Punkt - Eiter.
Nach dem, was ihnen die Ärztin erklärt hatte, bedeutete das, dass irgendwann Nervenwasser austritt und es zu Lähmungen kommen wird. Furchtbar bedrückende Aussichten.
Länger konnte Bärbel nicht mehr nur zusehen und warten, sie musste etwas tun.
Irgendjemand erzählte ihr von Pater Pio aus Pietrelcina/Italien, einem Mönch, der angeblich die Wundmale Christi trug. Durch seine Fürbitten
ereigneten sich zahllose spontane Heilungen von Krankheiten, bei denen die ärztliche Kunst versagte.
Ein Strohhalm, an den sie sich klammerte.
Darum schrieb sie einen verzweifelten Brief an Pater Pio, schilderte die lebensbedrohliche Situation ihres Sohnes und bat dringend um seine Fürbitte bei Gott. Nach schier endlos erscheinenden Tagen kam die Antwort, dass Pater Pio für Timo beten würde.
Diese Nachricht bewirkte, dass sie wieder mit mehr Zuversicht in die Zukunft blicken konnte, den Glauben an Gott nicht verlor, den Sinn des Lebens und Leidens aus anderer Sicht wahrnahm.
Alle aufwändigen Behandlungen und Anstrengungen konnten nicht verhindern, dass der Eiterpunkt größer und größer wurde.
Es war der 23.Dezember, Alfred fuhr sehr früh geschäftlich in den Odenwald. Als sie dem Kind die Windeln wechselte, sah sie mit Entsetzen, dass die Eiterblase zum Platzen vergrößert war.
Was sollte sie tun, ihr Mann hatte von unterwegs angerufen, dass er im ersten Wintereinbruch stecke. Die Situation überstieg ihre Kräfte, darum rief sie den Kinderarzt an und bat um eine Überweisung in die Kinderklinik nach Heidelberg, was er sehr ungern tat. Sie konnte sich den Grund nicht erklären.
Als sie das Kind endlich in fachkundige Hände übergeben konnte, war sie etwas erleichtert, aber gleichzeitig todtraurig über den Gedanken, dass sie ihren Sohn vielleicht nie mehr lebend in den Armen halten würde.
Eine Schwester übernahm Timo, zog ihn aus und gab ihr die Kleider zurück.
Es war einer der ganz hoffnungslosen Momente, das Kind aus den Augen verloren, die leeren Kindersachen über dem Arm.
Im langen zugigen Gang wartete sie auf das Untersuchungsergebnis.
Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, in der Ferne sah sie einen beleuchteten Weihnachtsbaum, aber in ihr war alles dunkel und leer.
Da endlich ging die Tür auf, die Kinderschwester kam mit ausdruckslosem Gesicht und sagte nur: "Die Zyste ist aufgegangen, Frau Doktor ist bei dem Kind, sie können jetzt nach Hause gehen".
Barbara konnte mit diesen Worten nichts anfangen, traute sich aber auch nicht nachzufragen, weil sie sich vor einer schlimmen Nachricht fürchtete. Sie hatte den Wunsch einfach nur hier zu bleiben, um in der Nähe des Kindes zu sein. Irgendwann fuhr sie dann doch nach Hause. Dort fand sie ihren besorgten Mann, dem sie alles erzählte. Völlig apathisch saßen sie in der Wohnung. Ihr Mann ist nach längerem Warten erschöpft eingeschlafen, bei ihr war an Schlaf nicht zu denken. Jede Minute hoffte sie auf einen Anruf, doch das Telefon blieb stumm. Ungeduldig wartete Barbara bis der Zeiger auf Sechs Uhr sprang, dann wählte sie die Nummer des Krankenhauses und wurde auch sofort mit der Ärztin verbunden.
Ruhig und gelassen, so, als ob es nie ein Problem gegeben hätte sprach die Ärztin:
"Ihr Sohn hatte auf dem Lendenwirbel eine Zyste, sodass man die Wirbelsäule darunter nicht fühlen konnte. Das Abtasten war für das Kind sehr schmerzhaft und es zuckte derart, dass wir das Schlimmste befürchten mussten. Aber wir sind jetzt ganz sicher, dass ihr Sohn in Kürze gesund sein wird, er muss nur noch einige Tage zur Beobachtung hier bleiben. Kommen sie her, sie können ihn besuchen.
In ihr jubelte es: "Timo lebt, Timo lebt!"
Ein Tränenstrom erstickte ihre Stimme, sie konnte nur noch "Danke" sagen.
Für Barbara und Alfred war der 24. Dezember Timos eigentlicher Geburtstag.