Leise öffnete Juli die dritte Tür rechts. Aus dem Büro am anderen Ende des langen Flures hörte sie schon die gezackte Stimme der Heimleiterin: "Wo bleibt Lernschwester Juliane? Die Betten in der Vierundzwanzig sind dran, und Herr Podewils ist immer noch nicht rasiert!"
Herrn Podewils würde das nichts ausmachen, wusste Juli. Er konnte es nicht leiden, rasiert zu werden. "An den Stoppeln merke ich, dass ich noch lebe", sagte er und strich sich zärtlich mit seiner knorrigen Hand über das Kinn. Juli dachte dabei an einen Baum, der sich darüber freut, dass seine Blätter austreiben. Es war immer noch seltsam für sie, einem Fremden so nahe zu sein, wie sie Herrn Podewils mit dem Rasierapparat kommen musste. Schließlich war sie bis vor kurzem noch gezwungen, sich mit so abstrakten Dingen wie Techniken der Ölgewinnung, Texten von Brecht und Gleichungen mit einem rätselhaften X darin zu beschäftigen. Die hatten ihr nicht in die Augen sehen können und auch nie nach ihrer Hand gegriffen, als hofften sie, Antworten darin zu finden.
Herr Podewils konnte seine Stoppeln ruhig noch ein paar Minuten behalten.
"Ich habe Ihnen einen Tannenzweig mitgebracht, Frau Rosenplanter", sagte Juli zu der schmalen Dame hinter der dritten Tür rechts. Sie war kaum zu sehen in ihrem Bett mit dem aschegrauen Vorhang. Kaum größer als die Bettnische war das Zimmer, aber es passte zu Frau Rosenplanter, die man in einem größeren womöglich gar nicht wiedergefunden hätte. Juli nannte sie insgeheim "das Irrlicht", denn sie hatte als Kind ein Lieblingsbilderbuch gehabt, in dem ein freundliches Irrlicht eine hoffnungsvolle Rolle gespielt hatte. Frau Rosenplanter, kaum größer als das Irrlicht, tauchte ebenso wie dieses oft an unvermuteten Orten auf. Mal im Garten hinter einem Busch, mal im Wandschrank oder hinter einer Tür, auch im Zimmer eines anderen Bewohners. Einmal war sie in den Wald gelaufen, und Juli hatte sie suchen müssen. Sie fand Frau Rosenplanter friedlich auf einem Stein am Teichufer sitzend. Die Pantoffeln, in denen sie losgelaufen war, hingen ordentlich an einem Zweig, und Frau Rosenplanter spritzte mit ihren fröhlich nackten Füßen Wassertropfen in Richtung der Wolken. Das war im November. Die Oberschwester beschwor Juli, diesen Vorfall zu verschweigen. Zum Glück trug Frau Rosenplanter keine Lungenentzündung davon, sondern nur ein seliges Lächeln, das tagelang nicht fortwollte.
Nicht immer wusste sie, wo sie war, doch an anderen Tagen war sie vollkommen wach. Immer aber strahlte etwas wie Mondschein aus ihren Augen.
Im Gegensatz zu manch anderen im Haus, ob Bewohner oder Pflegekraft, war nie Blitz und Donner in ihrer Stimme. Beschwerte sich jemand über die Suppe oder regte sich die Oberschwester über den Elektriker auf, hatte Frau Rosenplanter ein paar sanfte Worte, die die Spannung im Raum zusammenfallen ließen wie ein misslungenes Omelett. Hatte sie gerade einen ihrer verwirrten Momente, so strich sie trotzdem demjenigen zart über den Handrücken, und meist sah er dann überrascht das in das Leuchten ihrer Augen, die merkwürdig größer schienen als der Rest von ihr, und erkannte hinterher seinen Ärger nicht mehr wieder.
Doch vor einigen Tagen, genau am 3. Advent, war Frau Rosenplanter bettlägerig geworden. Die Ärztin hatte den Kopf geschüttelt. "Sie hat keine Schmerzen", hatte sie zur Heimleiterin gesagt. "Es gibt auch nichts mehr zu tun. Ihre Zeit ist ganz einfach abgelaufen. Wenn es schlimmer wird, lassen sie sie ins Krankenhaus bringen."
Seitdem verschwand Frau Rosenplanter mehr und mehr. Es war, als wären nur noch ihre Augen übrig.
Doch aus diesen schien immer noch Mondlicht, und ihr Lächeln war verschmitzt. Juli freute sich jeden Morgen darauf.
"Ich dachte, Sie sollen es hier auch ein bisschen weihnachtlich haben" sagte Juli und steckte den Tannenzweig in eine grüne Flasche. Aus ihrer Hosentasche holte sie eine eisblaue Kugel mit einer silbernen Schneeflocke darauf und hängte sie vorsichtig an die Spitze.
"Danke, Kind", sagte Frau Rosenplanter und lächelte. "Aber in meinem Alter sind die Feiertage gar nicht mehr wichtig. Die Jahre vergehen so schnell, da ist Weihnachten nicht mehr als ein kurzes Husten." Sie tastete auf ihrem Nachttisch herum. "Schau mal, ich habe in einer alten Tasche etwas gefunden. Ich schenke es Dir." Ihre Hand, kaum spürbarer als der Abendnebel vor dem Fenster, steckte Juli etwas zu. Es war ein Röhrchen aus Blech, mit einem Schlitz darin und einer langen Schnur am Ende. Außen war es mit gelber Farbe und winzigen bunten Vögeln bemalt. Juli drehte es ratlos hin und her. "So was kennt ihr gar nicht mehr, gell?" fragte Frau Rosenplanter heiter. "Diese Pfeifen gab es früher auf dem Jahrmarkt. Als ich klein war. Du schleuderst sie an der Schnur im Kreis, und dann zwitschert sie wie ein Vogel."
Juli wollte es ausprobieren, doch Frau Rosenplanter hob die Hand. "Nicht jetzt", sagte sie. "Hier ist kein Platz, und meine Ohren sind müde."
Sie war schon eingeschlafen, als Juli das Zimmer verließ.