Kurz nach elf Uhr am Morgen, eine Dose Bier vor ihm auf der Ablage des Badezimmerschweinespiegels; von seiner Mutter so bezeichnet, weil Wasser-, Zahnpastaspritzer und gekonnt platzierte Rotzschlieren sein Abbild darin in ein abstraktes Kunstwerk verwandeln. Er kämmt sich drei walnussgroße Portionen Frisiercreme ins schüttere Blondhaar und rülpst dabei immer wieder die ersten Takte von 'Jingle Bells', solange, bis die Dose leer und die Creme verteilt ist. Die Creme ist übrigens niemals verteilt bevor die Dose leer ist. Er geht in das einzige Zimmer der Wohnung. Die Schlafcouch ist noch ausgeklappt, das Bettzeug darauf ist fleckig. Es riecht nach Allem und Nichts. Nach Schweiß und Scheiße, Schimmel und Alkohol, Zigaretten und Schlaf. Er befühlt seine Eier, während er den Kleiderschrank ansteuert. Eins zwei, eins zwei, eins zwei. Es wird ihm nicht langweilig. Der Gasanteil im Magen reicht leider nicht mehr, um melodisch zu rülpsen. Stattdessen beginnt er 'Jingle Bells' auf die herkömmliche Weise zu singen und lässt nach ein paar Takten mit rhythmischen Bewegungen aus der Hüfte heraus sein Ding dazu tanzen. Yeah, yeah, denkt er, Jingle! Bells! Er gefällt sich in diesem Moment immer mehr, weicht vom Kurs ab und steuert nun immer noch tanzend den Kühlschrank an, um sich noch ein Bier zu holen, hält aber inne. Er sollte jetzt nicht mehr trinken, denn es ist der schönste Tag im Jahr und den will er durch nichts kaputt machen. So wendet er sich wieder dem Kleiderschrank zu. Dort angekommen verharrt er einige Sekunden, bevor er ihn schließlich langsam und feierlich öffnet. Da hängt es, das rote Kostüm aus Pannesamt. Seit vier Jahren hängt es nun schon da, seit vier Jahren ist er der Weihnachtsmann im größten Kaufhaus der Stadt. Er denkt nicht gerne zurück an die Zeit vor dieser Zeit, ohne das Pannesamt-Kostüm, denn, auch wenn es ein wenig warmbrüderlich anmutet, seitdem er es hat, ist alles anders. Er verdankt ihm viel, diesem Kostüm. Es hat ihm einen Tag im Jahr beschert, an dem er der Größte sein kann.
Dem Kostüm ist es zu verdanken, dass er beginnt ab dem späten Herbst schon so etwas wie Vorfreude zu verspüren, die ihn dazu bringt, Weihnachtslieder zu rülpsen. Er rülpst sonst keine Lieder, er rülpst einfach nur. Er ist kein schöner, kein gebildeter oder angenehmer Mensch, aber an diesem Tag ist es egal, es zählt nicht und man behandelt ihn besser, als das ganze Jahr hindurch. Er ist sich bewusst, dass es nur an diesem besonderen Tag liegt, dass er zu den Anderen gehören darf, sogar etwas besser als die Anderen ist, weil es schließlich nur einen Weihnachtsmann pro Kaufhaus gibt. Er ist den Menschen nicht böse, dass sie ihn sonst wie Dreck, oder bestenfalls wie Luft behandeln, er kann es irgendwie verstehen, es gibt Tage, da kann er sich auch nicht ausstehen. Aber heute, heute liebt er sich und die Welt, zieht sich sorgfältig an und wirft dann einen letzten Blick auf das im Schrank hängende Weihnachtsmannkostüm. Dann schließt er den Schrank, lässt das samtig-rote Leuchten seines Kostüms in der Dunkelheit verschwinden. Jetzt fehlt nur noch seine Jacke und während er sie anzieht, geht er zur Tür, wo sein Blick auf den daran befestigten Jahreskalender fällt. Der heutige Tag ist rot eingekreist. Er weiß, dass er zunächst eine zeitlang abseits von den Andern stehen und unterwürfig das Nicken oder Lächeln derjenigen erwidern wird, die sich bemühen zu ihm, der Randgestalt, nett zu sein. Er ist immerhin der Weihnachtsmann, wenn auch ein armseliger, abstoßender Weihnachtsmann. Sie bemühen sich alle sogar noch ein wenig netter zu sein, als er eigentlich verdienen würde, weil sich herumgesprochen hat, dass er keine Bezahlung annimmt. Er ist ein ehrenamtlicher Weihnachtsmann und das macht ihn für das Kaufhaus noch wichtiger, er nimmt kein Geld, sagt, er tut es für die Kinder, für den Glanz in den Augen der Kinder, aber in Wahrheit scheißt er auf die Kinder und macht den Weihnachtsmann am Vormittag des heiligen Abends nur für diesen einen Tag. Für heute, den 15. Dezember. Denn irgendwann im Laufe des Abends wird sich die saufende, fressende Menge teilen, ihn aufnehmen und am Ende, wenn der Alkohol den Weg geebnet hat, wird er sogar das eine oder andere besoffene Weib flachlegen können. Es ist der Tag der Betriebsweihnachtsfeier. Der schönste Tag im Jahr.