Lisa ging über den vom Schnee verdeckten Gehsteig. Bei jedem Schritt rutschte sie ein wenig nach vorne oder zur Seite. Einmal streifte sie der Ast einer Tanne. Der Schnee fiel auf sie herab. Es war kalt.
Als Lisa zu Hause war, stand dort Michael, schwer bepackt mit Tüten einschlägiger Kaufhäuser, die man in jenen Tagen vor Weihnachten öfter sehen konnte.
"Hallo Micha!"
"Hi Lisa! Wie geht's?"
"Gut."
"Den Tatort gestern gesehen?"
"Klasse!"
"Paar Tage frei?"
"Ja. Zwei Tage. Endlich."
Lisa war Krankenschwester und hatte unregelmäßige Arbeitszeiten. Freie Wochenenden gab es kaum. Michael lächelte.
"Muss mal sein. Hab jetzt auch frei."
Michael verdiente seinen Lebensunterhalt seit einiger Zeit bei einer Versicherung. Lisa war empört.
"Beamter! Das gibt's nur bei euch."
"Wer kann, der ..."
"Schon klar."
Lisa kannte Michael und seine Freundin aus dem Krankenhaus. Seine Freundin hatte sich einen Knoten aus der Brust entfernen lassen und so kam man ins Gespräch und merkte, dass man im selben Wohnhaus wohnte. Ansonsten kannte Lisa nur wenige ihrer Nachbarn. Lisa verliebte sich in Michael. Schon damals. Er war zwar klein und hatte den Ansatz einer Glatze, obwohl er kaum 30 war, doch sein Stil, die Art wie er sich kleidete, seine Stimme und seine Begeisterung für Kriminalgeschichten gefielen Lisa so sehr, dass sie abends oft den Fernseher leiser stellte, wenn Michael und seine Freundin Melanie Meinungsverschiedenheiten hatten, und lauschte. Sonntags, pünktlich um 20:15 Uhr, suchte Melanie regelmäßig Streit. Wenn Michael seinen, wie er sagte, Tatort sehen wollte. Lisa liebte es zuzuhören, wenn sie frei hatte. Es war für sie die größte Erholung. Dadurch, dass Lisa sich ebenso wenig wie Michael auf den Tatort konzentrieren konnte, zeichnete sie ihn jedes Mal auf und lieh die Kassetten Michael allzu gern. Zu Lisas Bedauern hatte Michael seit Jahren eine Beziehung. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hätte sie aber auch sonst nie etwas zu Michael von ihrer Vorliebe für ihn gesagt. Sie war eben nicht so.
Als Lisa und Michael bei den Briefkästen ein paar Minuten über den letzten Tatort gefachsimpelt hatten, tauchte Melanie auf, nicht schwer bepackt mit Einkaufstüten, sondern mit einem Lebkuchen in der Hand, respektive Mund. Sie war eine breite, stämmige und - wie Lisa fand - hässliche Figur, die ständig ein trauriges Gesicht hatte. Mit einem kurzen "Hallo!" begrüßte Melanie Lisa und drückte sich durch die Michael und Lisa auf den Lift zu. Mit bösem Blick schaute sie auf Michael, was von Melanies Seite heißen sollte: "Bring die Tüten hoch und verschwende keine weitere Minute an diese ungelenke Nebelkrähe von Nachbarin mit Gehfehler - bevor ich dir Beine mache!!!"
Lisas linkes Bein war circa 3-4 cm kürzer als ihr rechtes. So sah es ein wenig danach aus, als ob sie einen Gehfehler hätte, wenn sie lief. Aber es war natürlich keiner. Außerdem sah man es auf den ersten Blick nicht. Dennoch musste Lisa dies immer als Entschuldigung dienen, wenn sie unsicher war und in Selbstmitleid verfallen wollte.
Michael gehorchte stillschweigend und verabschiedete sich von Lisa.
"Schönen Abend."
"Euch auch."
Es war die letzte Woche vor Weihnachten. Lisa blickte den beiden hinterher, wie sie in den Lift stiegen, spielte selbst noch ein paar Momente verlegen, während des offenen Fahrstuhls, an ihrem Briefkasten, als die Türen geschlossen wurden. Sie atmete auf. Lisa hasste es, den Lift benutzen zu müssen. Sie war ein wenig klaustrophobisch. Auf ihrem Weg ins Treppenhaus fiel ihr ein kleines Päckchen auf. Es war in rotes Papier gewickelt und schien Schmuck oder Ähnliches aufzubewahren. Lisa nahm an, dass es Michael oder Melanie aus der Tasche gefallen sein musste. Sie beschloss, gleich nach oben zu gehen, bei Michael zu klopfen und das Päckchen abzugeben.
Als Lisa vor Michaels Tür stand, hörte sie Melanie schreien. Michael schien sich ruhig zu verhalten. Lisa wollte nicht stören und vertagte es, das Päckchen zu überreichen. Außerdem freute sie sich darauf, den beiden von unten zuzuhören. Also ging sie, in Gedanken bei Michael und einem gemeinsamen Abend bei Adventskranz und Glühwein.
An jenem Abend hörte Lisa lange, bei leiser gestelltem Fernseher, dem Streit in der Wohnung über ihr zu. Es ging um Michaels Unzuverlässigkeit oder irgendetwas in der Art. Lisa war es reichlich egal. Sie erfreute sich an der gedämpften Live-Atmosphäre und dem Brummen Michaels. Bei Gebäck und Kerzenschein, schlief Lisa nach dem vierten Glühwein ein.
Durch einen Schlag wachte Lisa auf. Sie hatte wohl geträumt. Es klang wie ein Pistolenschuss. Eine Pistole! Oder hatte sie von einer Pistole geträumt? Da war was. Ohne zu atmen horchte Lisa in die Stille. Nichts. Lisa ging ans Fenster. Sie blickte in das verschneite Straßenlicht. Eine Person stapfte mit schnellem Gang, wie vom Teufel gehetzt, davon. Die Person hatte einen weiten Mantel, der lange Schatten und Falten warf. Der Tanz der Vampire. Lisa musste an Melanie denken. Hatte sie nicht so einen Mantel? Bei dem Musical hatten die Darsteller ebensolche Mäntel. Sie war mit ihrem damaligen Freund da. Er schenkte ihr die Karten zu Weihnachten. Er machte sich nicht viel aus Musicals. Für Lisa drückte er ein Auge zu.
Lisa wurde schwindlig. Sie musste sich am Fensterbrett festhalten. Verwirrt vom Glühwein tastete sie sich, nachdem sie die Kerzen ausgepustet hatte, ins Schlafzimmer und ließ sich auf die Matratze fallen. Ihre Gedanken vor dem Einschlafen waren bei Michael und dem Päckchen, das sie gefunden hatte. Bestimmt war Melanie deswegen auf Michael böse, dachte Lisa. Aber irgendwie mochte sie den Gedanken, dass sie dazu beigetragen hatte, Melanie auf die Palme zu bringen. Sie beschloss, so früh wie möglich das Päckchen bei Michael abzuliefern.
Am nächsten Morgen, Lisa hatte ausgiebig gefrühstückt, wie es sich für einen freien Tag gehörte, mit Aufbackbrötchen, Rühreiern, Nutella und Quitten, ging Lisa zu Herrn Ritter - das war Michaels Name - um ihm das Päckchen zu überreichen. Vor der Klingel wartete sie kurz und betrachtete das Namensschild. Sie dachte daran, wie es wäre, wenn dort Lisa und Michael Ritter stehen würde. Lisa hasste es, wenn sie so kindlich verträumt in dummen Tagträumen versank. Aber mit 30 wird Single-Frau eben ein wenig seltsam, sagte sie sich. Ihre letzte Beziehung war nicht von ungefähr 4 Jahre her. Da werde man eben ein wenig verschroben.
Nachdem Lisa zum dritten Mal geklingelt hatte, überlegte sie, ob Michael vielleicht gar nicht zu Hause wäre, womöglich mit Melanie fort sei. Doch wohin sollten sie gehen? Schließlich wohnte Melanie, soviel Lisa wusste, 150 km entfernt. Sie wären die Strecke bestimmt nicht nach 22 Uhr bei dem eisigen Wetter auf der Autobahn gefahren. Außerdem standen Michaels Sneakers auf dem Schuhbord. Michael hatte immer seine Sneakers an. Lisa versuchte es noch mal mit der Klingel. Die alte Frau Lamprecht aus der Nebenwohnung ging an ihr vorbei mit einem freundlichen "Guten Morgen!" und einem "Niemand zu Hause?".
"Nein! Wissen Sie zufällig, ob Herr Ritter übers Wochenende da ist?"
"Bei dem Geschrei, das die veranstaltet haben! Ich konnte nicht einschlafen. Zum Glück hab ich meine Ohropax."
Da konnte Lisa also nicht wegen des Pistolenschusses fragen. Sonst hätte ihr das Frau Lamprecht schon lange gesagt. Nein, Frau Lamprecht konnte den Schuss wohl nicht gehört haben. Sonst wäre schon längst die Polizei da. Nein, nein, dachte Lisa.
"Also wissen Sie nicht, ob er da ist?"
"Was gehen die mich an? Ich hab selbst genug mit mir zu tun. Wissen Sie, man wird nicht jünger. Aber es geht. Solange man gesund ist. Wissen Sie?"
Nachdem Frau Lamprecht ihr einen längeren Vortrag über Ärzte und pensionierte Kassenpatienten gehalten hatte und endlich verschwunden war, klopfte Lisa noch mal an die Tür. Es tat sich nichts. Also verschob sie ihre Päckchenüberreichung auf den Abend und ging wieder nach unten. Vielleicht würde sie sich, sagte sich Lisa, ihren Lieblingsfilm Chinatown auf DVD anschauen, oder lesen, oder etwas Schönes kochen.
Lisa war an diesem Tag noch einige Male oben und prüfte, ob jemand zu Hause war. Auch Frau Lamprecht traf sie wieder, die sich schon neugierig erkundigte, was sie denn wolle. Lisa kam es schließlich so vor, als ob sie den ganzen Tag verplempert hätte, mit Dingen, die sie nicht betrafen. Das rote Päckchen lag neben Schlüssel und Telefon auf der Kommode.
_ _ _ _!!! Lisa wachte auf. Ohne zu atmen horchte sie in die Dunkelheit. War da nicht ein Knall, ein Rutschen, irgendwas? Lisa zweifelte an ihrem Verstand. Ihr fehlte definitiv ein Freund, dachte sie. Oder wenigstens eine Freundin. Kaum hatte sie mal zwei Tage frei, kam so was. Von Erholung keine Spur. Noch ein Tag, dann wäre sie wieder bei der Arbeit. Lisa war froh, dass sie so viel arbeiten musste. Sie überlegte sich, ob sie den Dienst an Heiligabend nicht mit einer Kollegin mit Familie tauschen sollte. Sie glaubte, dass es ihr an diesem verflixten Tag, an dem niemand allein sein wollte, so vielleicht besser gehen würde. In Gedanken dämmerte Lisa langsam wieder in den Schlaf.
_ _ _ _!!!
Bis es wieder zu hören war. Lisa stellte sich auf das Bett und legte ihr Ohr an die Wand. Nichts. Langsam flüsterte Lisa Michaels Namen. Sie kam sich dabei blöd vor. Aber sie hatte keine Ruhe.
Nachdem Lisa zehn Minuten so gestanden hatte und sich nichts weiter tat, beschloss sie nach oben zu gehen und zu klingeln. Es war zwar 3 Uhr Nachts, aber sie hatte das Gefühl, sie müsste es tun.
Lisa schlich nach oben. Sie hatte nur Socken an den Füßen, um Lärm zu vermeiden. Dann bemerkte sie, dass sie das Päckchen vergessen hatte. Schnell ging sie zurück und nahm es mit. Es war zwar ein blöder Vorwand, aber immerhin ein Vorwand.
Lisa stand vor der Tür, nahm ihren Mut zusammen und drückte den Klingelknopf. Lange tat sich nichts. Plötzlich fuhr der Aufzug an. Lisa hatte Angst und huschte ins Treppenhaus. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Jemand kam nach oben. Schweres Atmen. Lisa verschwand also wieder in den Flur. Der Lift war noch nicht ganz oben. Sie wollte lieber mit dem Lift konfrontiert werden, als mit der Person im Treppenhaus. Außerdem war nichts dabei, sagte sie sich. Alles ganz normal. Sie wollte nur den Lift benutzen. Vielleicht hielt der Lift auch nicht in dieser Etage. Nur die Ruhe, Lisa.
Es ging sehr schnell. Als sich die Türen des Lifts öffneten, öffnete sich die Tür zum Treppenhaus, aus der ein Mann in mittlerem Alter trat, der sich wohl im Stockwerk vertan hatte. Lisa kannte ihn jedenfalls nicht. Der Mann schnaufte und wankte. Ein Dunst aus Alkohol und Zigaretten wehte Lisa entgegen. Beide betrachteten sich erschrocken. Lisa bekam es mit der Angst, grüßte mit einem kurzen Kopfnicken, und verschwand in den Aufzug, ohne an ihre Angst wiederum vor Aufzügen zu denken. Der Mann sagte etwas, das Lisa nicht verstand, und ging auf den Aufzug zu. Lisa stand steif und still. Der Mann kam immer näher. Dann schlossen sich die Türen.
Als der Lift ein Stockwerk weiter unten angekommen war, hastete Lisa, bleich vor Angst, auf ihre Wohnungstür zu. Sie atmete schnell, versuchte zwei, drei Mal vergebens den Schlüssel ins Türloch zu stecken, bis sie endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte und sich in eine Ecke auf den Boden warf, wo sie bestimmt eine Stunde lag und wieder zur Ruhe zu kommen versuchte. Das Päckchen hielt sie ganz fest in ihre Hände gepresst.
Zwei Tage später stand Lisa, schon ganz krank vor Sorge, wieder einmal mit dem Päckchen - aber nur noch tagsüber! - vor Michaels Türe und klingelte. Ein Paketfahrer mit Nikolausmütze stand plötzlich hinter ihr. Lisa zuckte, und dachte, nun sei sie völlig hysterisch, schizophren und alles zusammen.
"Ich hab ein Päckchen für Sie!"
"Wie? Für mich?"
"Ritter?"
"Ach so! Nein, nein. Ich bin nicht Herr Ritter."
"Aber Sie wohnen hier?"
"Nein, nein. Ich bin nur die Nachbarin."
Lisa war sehr verlegen und gestikulierte mit dem kleinen, roten Päckchen und zeigte auf das Große Päckchen und wusste nicht, was sie sagen sollte.
"Ist Herr Ritter da?"
"Ich hab schon ein paar Mal geklingelt. Er muss grade weg sein. Seit ein paar Tagen."
"Können Sie das Päckchen übernehmen? Als Nachbarin?"
"Ich? Das Päckchen. Noch eins? Klar. Natürlich."
"Wo wohnen Sie?"
"Ähm, Stock drei, Nummer sieben."
Der Paketmann schrieb auf seinen Zettel die Daten von Lisa und ließ Lisa elektronisch unterschreiben.
"Ich werfe den Coupon in Herrn Ritters Briefkasten. Danke! Und frohe Weihnachten."
"Ja. Ihnen auch."
Lisa wusste nicht, wie ihr geschah. Nun stand sie mit zwei Päckchen da. Frau Lamprecht lief stumm grüßend an ihr vorbei und schüttelt den Kopf. Seltsame Tage waren das, dachte Lisa. Sehr seltsam.
Nachdem Lisa - wieder in ihrer Wohnung - bemerkte, dass das Päckchen Melanies Absender hatte und sie nun ihren Nachnamen wusste, suchte sie im Internet und im Telefonbuch nach irgendeiner Nummer, um dort anzurufen und ganz beiläufig zu erwähnen, dass sie Päckchen habe und so weiter und so fort, ob denn alles in Ordnung wäre? Leider fand Lisa keine Anhaltspunkte und gab es auf.
Lisa beschloss, das große Päckchen zu öffnen. Vielleicht war Melanies Nummer drin. Man wusste nie. Ihr war alles egal. In ihrer Sorge um Michael, nahm sie alles in Kauf. Und es war nur ein Päckchen. Das würde man ihr verzeihen. Trotzdem fühlte sie sich wie ein Stalker. Lisa hatte ein enormes Gerechtigkeitsbedürfnis und hielt nur einmal schwarz Straßenbahn zu fahren genauso falsch wie Diebstahl.
Mit einem Küchenmesser schnitt Lisa das Packchen auf. Darin waren zwei Paar Socken, ein T-Shirt, ein Roman von Hans Ulrich Treichel, zwei CDs der Gruppe R.E.M und eine DVD mit dem Film Lost Highway. Zuunterst lag ein zusammengefalteter Brief.
Nach weiteren zehn Minuten Gewissensbissen las Lisa den Brief und erfuhr, dass Melanie sich endgültig von dem Schlappschwanz Michael verabschiede und ihm mit der Bitte um Rückpost nur noch seine Habseligkeiten schicken wolle. Auf Nimmerwiedersehen und mit freundlichen Grüßen: Melanie. Leider ohne Telefonnummer. Eigentlich hätte sich Lisa gefreut, von der Trennung zu erfahren. Sie hatte sich das oft vorgestellt. In ihrer Phantasie kam die Nachricht aber immer aus Michaels Mund, woraufhin von ihm meist ein leidenschaftlicher Kuss und ein Liebesbeweis folgte.
Lisa war nun alles klar, folgerte sie. Entweder beging Michael wegen der Trennung am selben Abend Selbstmord, was den Pistolenschuss gerechtfertigt hätte, oder er hatte einen Unfall und lag tot in seiner Wohnung, oder er nahm das nächste Flugzeug Richtung Belize, um von allem weg zu kommen und ein neues Leben zu beginnen.
Lisas Entschluss stand fest. Sie musste etwas tun. Sie musste Verantwortung übernehmen!
Als die Polizei eintraf, ging es sehr ernüchternd vor. Die Polizisten hielten Lisa in Anwesenheit des Hausmeisters, Frau Lamprecht und anderer Bewohner des Stockwerks eine Standpauke, dass man es bei Herrn Ritter nicht mit einen achtzigjährigen Mann zu tun habe, dessen Wohnung man öffnen dürfe, weil es im ganzen Haus nach Verwesung stinke, sondern mit einem jungen Mann, der tun und lassen dürfe, was er wolle. Lisa hatte glücklicherweise nichts von dem großen Päckchen erwähnt und wurde zu einer Geldstrafe von 230 Euro wegen Irreführung der Polizei verdonnert.
Am nächsten Tag kam Lisa von der Nachschicht nach Hause und sah etwas Merkwürdiges. In einem von Michaels Fenstern flackerte ein undeutliches Licht. Lisa konnte aus der Entfernung nicht erkennen, um was es sich handelte.
Lisa rannte in ihre Wohnung, überlegte kurz, suchte nach der Videokamera und ging ganz ruhig wieder nach unten, um kein Aufsehen zu erregen. Der vorige Tag hatte ihr gereicht. Sie empfand es als unglaubliche Frechheit, dass sie so gedemütigt wurde. Schließlich wollte sie nur helfen. Aber sie würde es den anderen schon noch beweisen, dachte sie. Da stimmte definitiv was nicht.
Draußen verkroch sich Lisa in eine dunkle Einfahrt. Sie stellte die Kamera auf Nightview und zoomte so weit es ging an das Fenster. Leider war nichts zu sehen. Kein Licht. Hatte sie nun phantasiert, oder völlig den Verstand verloren? Am Liebsten wollte Lisa heulen, als es wieder anfing. Lisa hielt die Kamera ganz ruhig und sah es ganz deutlich. Es war eine Lichterkette, die in gleichmäßigen Abständen an- und ausging. Nach einiger Zeit nahm Lisa an, dass es sich um Morsezeichen handelte. Sie war sicher, dass Michael in der Wohnung sei. Es handelte sich definitiv um Morsezeichen. ...---... Drei kurz, drei lang, drei kurz. ...---... Eindeutig: S.O.S.
Lisa dachte nach. Hatte sie Michael nicht einmal davon erzählt, dass ihr Vater Kapitän auf einem Passagierschiff war und sie einiges über die Seefahrt wisse? Lisa wusste es nicht mehr. Ihr war nur klar, dass Michael Hilfe brauchte.
Nachdem Lisa sich am gestrigen Tag lächerlich gemacht hatte, musste sie vorsichtig sein. Sie war aufgeregt und suchte ohne Rücksicht auf ihre sonstige Ordnung nach dem Dietrich, den sie irgendwo noch gelagert hatte. Lisas früherer Freund war nämlich Schlosser und hatte die Angewohnheit überall mindestens einen Dietrich bei sich und um sich zu haben. Nach kurzer Zeit und dem Fußboden voller Gerümpel hatte Lisa den Dietrich gefunden. Zur Übung knackte Lisa ihre Tür von innen, ohne weitere Probleme. Zum Glück, dachte sie, hatte sie sich immer in handwerklich begabte Männer verliebt.
Lisa ging ganz vorsichtig ins obere Stockwerk, spähte kurz nach links, kurz nach rechts, ging zügig zu Michaels Tür, steckte den Dietrich ins Schloss, ruckte ein bisschen, öffnete, hörte eine andere Tür im Flur, drückte schnell die Klinke, trat ein, verschloss die Tür wieder, stand drin und atmete erst einmal durch.
Dann bemerkte sie den Gestank, der in der Wohnung war. Lisa hatte Angst. Sie wollte umdrehen. Doch nun war sie so weit, nun würde sie auch die letzten Schritte tun. Es ging schließlich um ein Menschenleben, sagte sie sich.
Michael war in der Wohnung. Der Weihnachtsbaum fiel, seinem Bericht zufolge, nach dem Streit mit Melanie und einem daraus folgenden kräftigen Schubser seinerseits, gegen den Wohnzimmerschrank (in dem wahrscheinlich drei Teile nach der Montage übrig blieben). Der Wohnzimmerschrank wiederum fiel danach auf Michael und stellte, ob seines Gewichtes, ein unüberwindbares Gefängnis dar. Nachdem Michael Lisa bat, ihr im Bad zu helfen, da er wegen der Bewegungslosigkeit der letzten Tage kaum gehen konnte, willigte Lisa ein. Ihr war es nicht peinlich, dass Michael ein wenig verdreckt war. Als Krankenschwester hatte sie noch ganz andere Dinge gesehen. Es war Routine für sie, Menschen zu waschen. Das war ihr Job. Michael war ein wenig verstört, hatte aber keine Verletzungen. Er erzählte Lisa, dass er nach dem Bruch mit Melanie so wütend gewesen sei, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Sein Schreien habe niemand gehört und irgendwann sei ihm die Kraft ausgegangen. Einmal habe er es geschafft, mit den Füßen eine Schranktür zu öffnen, aus der laut der Inhalt auf den Boden klatschte. Ernährt habe er sich von Chips, Schokolade, Ginger Ale und einer Flasche Wodka, die aus dem Schrank erreichbar neben ihm lagen. Die Morsezeichen, die er bei den Pfadfindern gelernt habe, seien ihm hoffnungslos vorgekommen. Als Lisa Michael mit einem Handtuch abtrocknete, fiel er ihr um den Hals und weinte. Lisa wusste nicht, was sie tun sollte und brachte ihn ins Bett. Er hatte zweifelsohne einen kleinen Schock. Lisa musste an diesem Abend bei ihm schlafen. Er wirkte so hilflos. Das mochte Lisa besonders. Als Krankenschwester.
An Heiligabend war Lisa glücklich, ihre Schicht nicht getauscht zu haben und saß mit Michael zusammen bei Adventskranz, Glühwein und einem aufgezeichnetem Tatort. Endlich nicht mehr allein. Eine Beziehung fände man eben nicht nur in Partnerbörsen oder Clubs, sondern manchmal auch durch andere Bemühungen, dachte Lisa. Man müsse eben auch mal Mut haben. Auch wenn Andere über sie lachten. Letztlich hatte sie es doch allen gezeigt. Sie hatte es sich verdient! Nur eines konnten Michael und Lisa nie klären. Den Pistolenschuss. Auch Michael hörte, kurz nachdem der Schrank in begraben hatte, so etwas wie einen Schuss. Aber wahrscheinlich, sagten sich die beiden, während eines Kusses, war es nur ihre Imagination.