Intro
Alle Jahre wieder. Immer dasselbe: "Last Christmas!", säuselte George Michael. "I gave you my ..." An dieser Stelle dachte ich mir, dass es eine gute Idee wäre, das Radio auszuschalten. Das tat ich auch. ;-) Schon besser. Für einen Moment herrschte Stille - Stille Nacht. Dummerweise dröhnte das Lied dann plötzlich durch die dünnen Wände. Etwas gedämpfter zwar, aber immer noch gut hörbar. :-( Wie interessant, zu wissen, dass mein Nachbar den gleichen Sender hört, wie ich. Wie interessant, so an seinem Leben teilhaben zu können. Und wie uninteressant, zu erfahren, dass er sie mochte, diese Schnulze von Wham!
Strophe 1
Weihnachten war schon immer sch..eiße! In meiner Vergangenheit zumindest. Ich stand vor dem Spiegel und war gerade damit beschäftigt, mir mein Kopfkissen unters T-Shirt zu schieben. In der Gegenwart ist Weihnachten immer noch sch****. Ich zog den roten Samtmantel an. Und so wird es bis in alle Zukunft weitergehen: Weihnachten wird immer sch**** sein! Schließlich band ich mir noch den weißen Rauschebart vors Gesicht und setzte eine Zipfelmütze auf. Aus dem Spiegel sah mir ein hoch motivierter Weihnachtsmann entgegen.
"Zeit für die Arbeit.", sagte er lustlos. Ich seufzte. Und griff dann nach dem Leinensack.
"Oh, Tannenbaum!", schallte es mir entgegen. Die Darbietung einer kleinen Kapelle, mit Posaunen, Trompeten und einer Tuba. Sie spielten mit größtem Eifer und jeder Menge Herzblut. Aber: Sie hatten leider von Tuten und Blasen keine Ahnung. An dieser Stelle beneidete ich alle, die schon taub zur Welt gekommen waren. Aber so ging es nun mal zu, auf dem Weihnachtsmarkt. "Kling, Glöckchen!", klingelte es in meinen Ohren. "Klingelingeling!!!" Bekannte Gesichter tauchten vor mir auf, als ich mich durch das Gedränge schob. "Kling, Glöckchen!" Meinen Ex-Mathelehrer sah ich da. "Kling!" Eine frühere Arbeitskollegin. Meinen Bewährungshelfer. Eine ehemalige Lebensabschnittsgefährtin mit meinem soundsovielten Nachfolger.
"Ho-Ho-Ho!" Niemand kann mich erkennen. Meine Tarnung ist perfekt.
Strophe 2
"Schneeflöckchen, Weißröckchen.", dudelte es aus einem offenen Fenster des Mietshauses. "Wann kommst du geschneit?" Tja, das war eine gute Frage. Immerhin hatten wir schon seit Jahren keine Weiße Weihnacht mehr. Ich drückte auf einen der vielen Klingelknöpfe. Die Gegensprechanlage erwachte rauschend zum Leben. :-( Verdammt, da war jemand zu Hause! Jetzt musste ich mir was einfallen lassen.
"Ja?", plärrte eine Frauenstimme. "Wer issn da?"
"Weihnachtsspendenaktion!", rief ich mit verstellter Stimme. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann: "Wir haben schon was gegeben!" Das Rauschen der Gegensprechanlage erstarb. War doch klar, dass keiner den Bedürftigen gern was geben will. Weder heute, noch irgendwann.
Der nächste Versuch. Der nächste Klingelknopf. Ich drückte. Ich wartete. Nix passierte. Keiner zu Haus. ;-) Das war gut. Sehr gut sogar. Mit dem Schloss der Haustüre gab es kein Problem. Wozu hatte ich schließlich mal bei einem Schlüsseldienst gearbeitet? Genauso leicht ging es drei Stockwerke weiter oben, wo niemand daheim war.
Ich streifte durch die leere Wohnung. Im Elternschlafzimmer fand sich eine Schmuckschatulle. Ich war zwar heute der Weihnachtsmann, aber ich brachte keine Geschenke, sondern füllte meinen Sack mit Dingen, die mir nicht gehörten. ;-) Im Kinderzimmer stieß ich auf Unmengen von Puppen und eine rosa Tapete. "Aha." Sie hatten also eine Tochter! Und auch wenn es unmoralisch ist, kleine Mädchen zu beklauen ... So eine Play Station hatte ich mir schon immer gewünscht.
Ganz hinten, am Ende des Flurs, drang ein schwaches Leuchten durch die halb geöffnete Türe. Dort stand er: Der festlich geschmückte Tannenbaum, der sich bei näherer Betrachtung als Fichte herausstellte. Darunter lagen die Geschenke, hübsch eingepackt, mit bunten Schleifchen dran. Was für eine schöne Bescherung! Ich ließ sie in meinem Sack verschwinden. Und ich würde auch gerne sagen, dass ich dann heimgegangen bin und zur Abwechslung mal ein Weihnachtsfest gehabt hatte, das nicht sch**** war. Dummerweise müsste ich lügen, um meine Geschichte so erzählen zu können. Denn es kam alles anders.
Eine Tür quietschte und mir wurde schlagartig klar, dass ich mich geirrt hatte. Ich war doch nicht allein in dieser Wohnung! Dann dröhnte eine tiefe Stimme: "Ho-Ho-Ho!"
Strophe 3
"Hätte nicht gedacht, dass es dich wirklich gibt!" Ich drehte mich langsam um. Hinter mir stand ein alter Mann. In seiner Hand zitterte ein Revolver, der bedauerlicherweise auf mich zielte. Meine erste Reaktion bestand darin, dass ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Dann wurde mir allerdings klar, dass es nichts Passendes gab, was ich sagen konnte und so schloss ich meinen Mund wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Wer nichts zu sagen hat, sollte schweigen. Außerdem kann ja alles, was man sagt, gegen einen verwendet werden.
"Komm' her!", krächzte dieser alte Sack und winkte mit seiner Waffe. "Als ich noch ein kleiner Junge war, hab' ich immer drauf gewartet, dass du kommst." Das brachte mich etwas in Verwirrung. Wie bitte? "Will dich sehen. Meine Augen sind nicht mehr so gut." Der Alte tat einen Schritt zurück in die Küche, aus der er gekommen war. Als ich ihm dorthin zögernd folgte, sah ich den Grund, warum sich der Kerl so seltsam benahm: Eine leere Flasche Wodka auf dem Küchentisch. Das erklärte einiges ...
"Setz' dich!" Mit dem Revolver wurde in die Richtung eines freien Stuhls gewedelt.
"Kann leider nicht bleiben!", sagte ich und musste unwillkürlich grinsen. "Weil, da sind noch so viele Geschenke zu verteilen!" :-) Wenn er mich für den Weihnachtsmann hielt, konnte ich dieses Spielchen durchaus mitspielen.
"Nein!", schrie er. "Du bleibst!" Der Revolver zielte auf mich. "Sonst..." Der Hahn der Waffe wurde gespannt. Das war zu viel für meine Nerven. Kalter Schweiß brach mir aus. Ich musste mich an den Türrahmen lehnen, um nicht umzukippen. Meine Knie waren auf einmal so weich... "He!" Es klang besorgt. Der Alte legte den Revolver auf den Tisch und stützte mich. Das hätte eigentlich eine gute Chance sein können, um abzuhauen. Leider klappte es nicht, weil ich so zitterte.
"Das wollte ich nicht, lieber, guter Weihnachtsmann.", jammerte der alte Sack und packte mich. "Hinsetzen!" Ich wurde eingehend gemustert. "Du brauchst einen Schluck!", stellte er dann fest und holte noch eine Flasche Wodka aus dem Schrank.
"Weißt du, ich wollte dich damit..." Der Alte griff wieder nach seinem Revolver und hielt ihn hoch. "... nicht erschrecken!" Das klang zwar durchaus tröstlich, aber ich konnte es nicht so recht glauben.
"Ist nur eine Patrone drin.", wurde mir erklärt. "Und die ist nicht für dich."
Strophe 4
"Ach?", würgte ich heiser hervor. "Für wen dann?" Der Rentner genehmigte sich noch einen Schluck Wodka. Dann zeigte er mit dem Daumen auf sich. Ich starrte ihn an. Statistisch gesehen werden an Heiligabend die meisten Selbstmorde verübt. Das hatte ich aus der Zeitung. Da kann man mal wieder sehen, was diese "gnadenbringende Weihnachtszeit" bei den Leuten so alles anrichtet. Sicher, ich mag es auch nicht, dieses angebliche Fest der Liebe. Aber mir deswegen eine Kugel durch den Kopf jagen? Warum denn? Das fragte ich mich. Und ihn.
Er erzählte: Schuld waren sein Sohn und die Schwiegertochter. Sie hatten Opa heute Mittag aus dem Altersheim geholt, in das sie ihn schon vor Jahren gesteckt hatten. Aber nicht, um ein Frohes Fest im Kreise der Familie zu feiern, sondern nur, um sich von ihm beschenken zu lassen. Nachdem er ihnen Geld gegeben hatte, wollten sie auf den Weihnachtsmarkt. Ohne Opa. Der war ja nicht mehr so gut zu Fuß und mit Gehhilfe ins Gedränge? Na ja ... Sie hatten ihn ausgenommen. In etwa so, wie eine Weihnachtsgans.
"Wenn sie wieder da sind, bringen sie mich in den Seniorenstift zurück!" Er brach ab und begann, zu schluchzen. "Hab' mich so auf Heiligabend gefreut! Das ham' sie mir versaut!! Und jetzt versaue ich ihren Abend." Plötzlich kicherte er, wie ein Bekloppter.
Das Beste wäre es gewesen, einfach aufzustehen und zu gehen. Aber das konnte ich nicht. Aus zwei Gründen: Nummer Eins bestand in der Tatsache, dass ein tattriger Opa mir sternhagelvoll gegenübersaß und aufgeregt mit einer geladenen Waffe herumfuchtelte. In so einem Moment wäre es äußerst unratsam, hektische Bewegungen zu machen. Und selbst, wenn ich versucht hätte, ganz langsam aufzustehen und zu gehen, hätte er es als unhöflich auslegen können. Und da er ohnehin schon gereizt genug war, dachte ich, dass es besser wäre, ihn nicht auch noch zusätzlich zu verärgern. Für Nummer Zwei schämte ich mich. Der Kerl tat mir einfach unheimlich leid. Mir ist es jetzt noch peinlich, das zugeben zu müssen. Denn: Solche Gefühle sind schlecht für's Geschäft. Zumindest in meiner Branche. Was tat ich also? Ich sagte:
"Aber, das kannst doch nicht tun!"
Er lachte freudlos auf.
"Doch!"
Um es zu beweisen, hob er den Revolver an seinen Kopf. "Nein!", schrie ich und warf mich dem alten Mann in den Arm. Ein Schuss krachte.
Strophe 5
Glücklicherweise schlug die Patrone in die Wand ein. Das brachte den erfolglosen Selbstmörder zum Weinen. Er heulte buchstäblich Rotz und Wasser in meinen künstlichen Rauschebart. Ich klopfte ihm auf den Rücken. "Ist da keiner, für den es sich lohnt, weiterzuleben?"
"Meine Enkeltochter vielleicht ... Carol."
"Dann denk' mal an sie. Ihr darfst Heiligabend nicht versauen."
Er schüttelte träge den Kopf. Dann erklärte ich ihm, dass Weihnachten doch so sch...ön ist.
"Aber nur für Kinder.", flüsterte er. "Für Erwachsene ist es sch*****. Nur Stress und Ärger."
Normalerweise hätte ich ihm Recht gegeben. Aber unter gegebenen Umständen war es besser, Dinge zu sagen, wie: "Für Kinder ist es wichtig, ein schönes Fest zu haben." Ob es wirklich so war, wusste ich nicht. Aber ich wusste, wie es war, wenn man keine Erinnerung an so was hat.
"Fröhliche Weihnacht! Das gibt's doch gar nicht!" brummte der Alte müde. "Das ist doch nur eine Illusion!"
"Ja, aber das brauchen wir! Damit wir Hoffnung haben können, wenn wir groß sind." Ironischerweise kam diese Erkenntnis von jemand, der garantiert keine Hoffnung mehr hatte. Der alte Mann nickte langsam. Dann war er eingeschlafen. Ich stand auf, wollte gehen. Aber so einfach ging das nicht. Es gab noch etwas zu tun.
Outro
Ich holte die Geschenke wieder aus meinem Sack. Ich legte sie dorthin zurück, von wo ich sie genommen hatte. Es wäre irgendwie nicht richtig, anderen das Frohe Fest zu versauen, bloß, weil man selber keines gehabt hatte. Die Tür quietschte. Ich drehe mich um. Ein Mädchen stand da und sah aus, wie ein kleiner Engel. Das musste Carol sein. Sie sah mich mit großen, leuchtenden Augen an. Es stimmte schon: Kinder brauchen eine Illusion!
"Mami! Papi!", jauchzte sie. "Den Weihnachtsmann gibt's wirklich!"