"Guten Morgen Herr Meyer! Meine Güte, ist das draußen ein Schneetreiben. Mit leise rieseln hat das so ganz und gar nichts zu tun. Und die Kälte ist ja schauderhaft." Hastig schloss die Dame die Tür zum Friseurgeschäft "Kojak", als wäre ein Schneeungeheuer hinter ihr her. Drinnen rieselte leise der Schnee aus den Lautsprechern der Musikanlage.
In diesem Moment fegte ein Mann förmlich dem Ausgang entgegen.
"Entschuldigen Sie Herr Pastor. Ich wollte Ihnen nicht die Türe vor der Nase schließen", bekundete die Kundin ihr Bedauern.
"Aber, aber meine liebe Frau …", er kam ins Stocken.
"Dreier, Herr Pastor, ich bin Paula Meier."
"Gewiss, Gewiss. Ich muss mich entschuldigen Frau Dreier, dermaßen in Eile zu sein. Aber so kurz vor dem Weihnachtsfest gibt es jede Menge für mich zu tun. Und ich bitte um Nachsicht, Ihren Namen nicht gewusst zu haben, Frau ..., ähm, ja, also ich muss weiter. Tschüß, tschüß, und grüß Gott."
Und schon huschte der Pastor aus dem Geschäft. Frau Dreier wollte zwar noch entgegnen, dass er in den wenigen Wochen, seit er die Gemeinde übernommen hat, unmöglich alle Namen kennen könne. Er gab ihr aber keine Gelegenheit mehr dazu.
"Hallo, Frau Dreier. Nicht wahr, frostig ist es draußen. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?", fragte Hermann Meyer, der Friseurmeister.
"Oh danke, das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen."
"Nehmen Sie bitte da hinten Platz, wo wir ungestört sind."
Auf dem Wege zum Friseurstuhl fiel Frau Dreier der Weihnachtsschmuck im Laden auf.
"Herr Meyer, Sie haben das Geschäft richtig festlich geschmückt. Sehen schön aus, die Tannenzweige über den Spiegeln. Der Weihnachtbaum neben der Kasse und die dezente Musik machen sich auch gut."
"Freut mich, wenn es Ihnen gefällt."
Frau Dreier hatte den ihr zugewiesenen Friseurstuhl erreicht und setzte sich.
"Nun, was darf es zwei Tage vor dem Christfest sein?"
"Wie immer die Dauerwelle auffrischen. Das wissen Sie doch", antwortete sie gespielt vorwurfsvoll. Es handelte es sich um das immer gleiche Ritual, miteinander ins Gespräch zu kommen. Während Herr Meyer sein Arbeitsutensil zur Hand nahm, um sich damit ihren Haaren zuzuwenden, begann Frau Dreier die Unterhaltung. "Unser neuer Pastor ist ja das reinste Nervenbündel. Hoffentlich gibt sich das nach dem Fest wieder."
"Gerade heute macht er einen besonders vergesslichen und fahrigen Eindruck. Ich konnte mich kaum vernünftig mit ihm unterhalten, während ich ihm die Haare schnitt. Er wirkte wie ein zerstreuter Professor", antwortete Herr Meier.
"Ja, er war wirklich ziemlich seltsam. Übrigens Herr Meier", und nun wurde Frau Dreier vertraulich, "bei seltsam fällt mir etwas ein. Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?"
Herr Meyer ahnte, was jetzt folgen würde. Irgendein Artikel aus der Zeitung, der ihn, Hermann Meier, ach wie gerne wäre er Privatdetektiv geworden, und sie, Paula Dreier, zu kriminalistischer Arbeit animieren sollte. Einigen Erfolg hatten sie in der Tat bereits aufweisen können. Wie zum Beispiel die Morde an drei honorigen Herren des Ortes, oder den Überfall im Friseurgeschäft. Es war also wieder mal an der Zeit, den Detektiv in ihm zum Vorschein zu bringen, der durchaus mit dem lakonisch, desillusionierten Blick eines Humphrey Bogart standhalten konnte.
"Nein", antwortete er kurz, und auch seine Stimme schien sich zu verändern. "Ich habe noch keine Zeitung gelesen."
"Der geistlose Mr. Scrooge ist in seinem Haus vom Weihnachtsmann mit einem Eiszapfen erstochen worden. Seltsam, oder?"
Herrn Meyer fiel es schwer, seine Bogart-Mimik zu wahren, da er nichts verstand. "Wer bitte schön ist der geistlose Mr. Scrooge?"
"Ja, die Zeitung nannte ihn so. Es handelt sich um Ernst Schulz. Das ist - das war - doch auch so ein Griesgram, wohlhabender Geizkragen, und Weihnachtssaboteur, wie eben dieser Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Haben übrigens die gleichen Anfangsbuchstaben, Ernst Schulz und Ebenezer Scrooge."
"Gut, aber wieso geistlos?"
"Die Anspielung bezieht sich auf die drei Geister, von denen Mr. Scrooge heimgesucht wurde, und die ihn schließlich zu einem neuen Menschen werden ließen. Diese Geister hat Ernst Schulz nicht gehabt, um sich zu ändern." Frau Dreier überlegte kurz, um zu ergänzen, "Der Mann, der in unserem Dorf die wohl größte Abneigung Weihnachten gegenüber hegte, wurde getötet von der Symbolfigur des weihnachtlichen Schenkens. Eigentlich tragisch."
"Ja, ja, vermutlich war sein Herz bereits zu Lebzeiten so kalt, dass der Temperaturunterschied nur minimal gewesen sein dürfte, als der Eiszapfen in ihn eindrang."
"Herr Meier, wo bleibt ihre Pietät! - Übrigens, die Polizei aus der Großstadt hat noch keinerlei Spur. Wär' doch was für uns, oder?"
Herr Meier begann sich ein wenig zu erregen. "Frau Dreier, Sie kommen aber auch immer mit den größten Sachen an. Geht's nicht mal etwas unspektakulärer? Zum Beispiel ein Fahrraddiebstahl oder ähnliches? Wo sollten wir denn überhaupt anfangen? Und woher weiß man, dass der Täter sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte?"
Im Grunde genommen war Herr Meyer bereits gefangen vom Ansinnen der Frau Dreier. Aber er benötigte noch etwas Bedenkzeit, die er sich mit den Fragen einräumte.
"Ein Zeuge sah ihn zur Tatzeit aus dem Haus von Herrn Schulz laufen. Das allerdings habe ich von meinem Sohn, der, wie Sie ja wissen, bei der Kripo arbeitet. Den Medien wurde dieses Detail vorerst verschwiegen, deshalb fand es in den Zeitungen keine Erwähnung. Und wo wir anfangen? Na bei Ihnen Herr Meyer. Auch Herr Schulz war doch Stammkunde im "Kojak". Im Laufe der letzten Zeit haben Sie vielleicht einiges erfahren, was heute wichtig sein könnte. Sie sagen doch immer, Auf meinem Stuhl redet jeder, irgendwann."
"Ja schon, aber gesprächig war der nie. Mir fällt allerdings ein, dass er bei seinen letzten Besuchen kein gutes Haar an seiner Frau ließ. Wo war sie eigentlich zum Zeitpunkt der Tat, und wie ist der Mörder ins Haus gekommen?"
"Laut Zeitung sang sie im Kirchenchor, und Herr Schulz muss seinen Mörder hereingelassen haben. Einbruchsspuren wurden jedenfalls nicht festgestellt", antwortete Frau Dreier.
"Als ich Herrn Schulz das letzte Mal die Haare geschnitten habe, erwähnte er seine in Frankreich lebende Tochter, die sich für einige Monate bei ihrer Freundin im Nachbarsdorf aufhält."
"Na, das ist doch schon mal was, Herr Meyer."
"Nun ja Frau Dreier, auf meinem Stuhl, haben halt schon ganz andere geredet."
"Ja, also einhaken können wir beim Zeugen, der Tochter und der Frau des Opfers. Sie den Zeugen, ich die Tochter, dann sehen wir weiter?"
Mit der Entschlusskraft eines Sherlock Holmes nahm Herr Meyer die Herausforderung an.
Am nächsten Tag, dem 23. Dezember zur Mittagspause, trafen sich beide im kleinen Cafe nebenan.
"Nun, Herr Meyer, was haben Sie herausgefunden?"
"Nicht viel. Ich wollte bereits wieder gehen, als dem Zeugen doch noch etwas einfiel. Und zwar meinte er, das Handy des Weihnachtsmannes habe geklingelt, oder genauer, es hat einen Musiktitel abgespielt, während er aus dem Haus flüchtete. Der etwa 55 Jahre alte Zeuge will sogar den Titel erkannt haben. "A Song Of Joy". Kommt mir aus grauer Vorzeit meines Musikinteresses irgendwie bekannt vor, ich erinnere mich aber nicht mehr an die Melodie. Wenn ich sie allerdings höre, weiß ich um welches Lied es sich handelt, da bin ich mir ganz sicher."
"Also mir sagt der Titel nichts. Mein Besuch war da etwas aufschlussreicher", sprudelte es aus Frau Dreier hervor. "Die Tochter erzählte, die Ehe der beiden existiere nur noch auf dem Papier. Sie hätten sich schon lange nichts mehr zu sagen. Und wenn, dann nur im Streit. Ihre Mutter soll ein Verhältnis haben. Mit wem wusste sie leider nicht." Eine kurze Pause entstand.
"Frau Dreier, was halten Sie davon, wenn wir morgen die Frau des Opfers aufsuchen?"
Herr Meyers Detektivpartnerin reagierte überrascht. "Am 24. Dezember? Nein, nein, Herr Meier, das machen sie am Besten alleine. Ich werde stattdessen im Internet recherchieren, was es mit diesem Musiktitel auf sich hat."
Da stand Herr Meyer nun am Nachmittag des Heiligabends im Haus der Witwe Schulz. Der stattliche Christbaum mit seinen brennenden Wachskerzen erhellte das Wohnzimmer festlich, der Esstisch war geschmackvoll für zwei Personen gedeckt, der Bratenduft erfüllte den Raum, draußen schneite es friedlich, wie es sich an so einem Tage gehörte.
"Frau Schulz, wen erwarten Sie denn noch zum Essen, ihren Liebhaber?" Herr Meyer verlor keine Zeit mit weichgezeichneter Das-Fest-der-Liebe-Konversation. Besser gefiel ihm da schon ein Auftritt wie Sam Spade, hart und trocken.
"Wie kommen Sie darauf?", antwortete sie kühl.
"Ihre Tochter erzählte uns von ihm."
"Das geht Sie gar nichts an. Außerdem ist sie es, für die ich koche. In 45 Minuten wird sie hier sein."
"Sie erben jetzt ein Vermögen, Frau Schulz, und da …" Ein auf dem Tisch liegendes Handy spielte eine Melodie ab als Zeichen eines eingehenden Anrufes. Herr Meyer wurde hellhörig. Verdammt, das ist sie, die Melodie! Da war er sich ganz sicher. Auf seine augenblicklich zurückkehrende Erinnerung an diese Musik konnte er sich verlassen. Zweifel ausgeschlossen. Er vernahm die vom Zeugen erwähnte Handymelodie. "Ist das ihr Handy, Frau Schulz?", sein Puls begann zu rasen.
"Nein", antwortete sie trotzig.
"Frau Schulz, der Besitzer dieses Handys …", er nahm es in die Hand und hielt es ihr entgegen, "…ist vermutlich der Mörder ihres Mannes. Es spielt die gleiche Melodie, die ein Zeuge beim Täter gehört hat: 'A Song Of Joy'."
"Ich habe meinen Mann nicht getötet", ihre Contenance bekam leichte Risse.
"Sie nicht Frau Schulz, aber wie steht es mit ihrem Liebhaber?"
"Nicht schlecht, Schnüffler."
Hermann Meier erschrak. Unversehens stand der Weihnachtsmann im Zimmer. In der behandschuhten Hand hielt er einen dicken Eiszapfen.
"Ist ein Mord nicht genug?" Herr Meyer wurde unruhig. Zweifellos, in solchen Momenten ließ er die Souveränität eines Georg Wilsberg noch vermissen.
Der Weihnachtsmann kam mit dem auf ihn gerichteten Eiszapfen näher. "Sie haben ja keine Ahnung, was für ein gottverlassenes Scheusal Herr Schulz war. Die Allgemeinheit und seine Frau musste ich vor ihm schützen. Das Erbe bedeutet da nur eine kleine Entschädigung für die erlittenen Qualen dieser Frau."
"Sind Sie sicher, ihr nicht nur als Handlanger zu dienen? Vielleicht lässt Frau Schulz Sie fallen, sobald die Erbschaft ausgezahlt ist." Einen Versuch war es allemal Wert, beide gegeneinander auszuspielen. Leider aber ohne Erfolg.
"Ach, das ist kümmerliche Friseurpsychologie." Eine wegwerfende Handbewegung unterstützte seine Verachtung für diese These. "Liebe erfordert manchmal Opfer. So einfach ist das. Und ich bin für ein weiteres bereit. Sie auch?"
Woher wusste der Weihnachtmann, dass er Friseur ist? Und was die "kümmerliche Friseurpsychologie" anging: musste er sich das etwa gefallen lassen? Das allerdings gedanklich weiter zu vertiefen verbot ihm die momentane Lage.
Der Weihnachtsmann stand nun direkt vor ihm und holte zum Zapfenstich aus. Verdammt, was sollte er, Hermann Meier, tun? Ach, wie gerne würde er in diesem Augenblick Harry Klein sein, der schon mal den Wagen holt. Aber er musste handeln. Augenblicklich. Nur wie? Eine höhere Eingebung käme jetzt ziemlich gelegen.
Jemand schaute durchs Wohnzimmerfenster, dann klingelte es Sturm an der Haustür. Für eine Sekunde war der Weihnachtsmann abgelenkt. Blitzschnell ergriff Herr Meyer den Christbaum und ließ ihn auf den Rotrock fallen. Die Flammen der Kerzen sprangen auf die Tannenzweige und den Mantel des Mörders über. Dieser bekam Panik, fuchtelte wild um sich, was die Flammen nur nährte. Flink ergriff Herr Meyer den Wassereimer, der zur Sicherheit neben dem Baum stand, und besprengte Zweige und Mann.
Frau Dreier eilte herein, nachdem Frau Schulz die Tür widerwillig geöffnet hatte. "Mein Gott Herr Meyer, eine schöne Bescherung sieht am heutigen Tag eigentlich anders aus." Sie war entsetzt.
"Das hängt vom Blickwinkel des Betrachters ab, Frau Dreier. Immerhin haben wir den Täter. Nun aber wollen wir mal sehen, wer sich hinter der Weihnachtsmannmaske verbirgt."
"Es ist der neue Pastor", sagte Frau Dreier.
Herr Meier nahm ihm Kapuze und Bart ab. "Tatsächlich. Der von allen guten Geistern verlassene Geistliche. Woher wussten Sie das?"
"Ich bin im Internet fündig geworden wegen der Handymelodie. "A Song Of Joy" ist eine Popversion der "Ode an die Freude", aus Beethovens 9. Sinfonie. War 1970 ein Riesenhit von Miguel Rios. Die Musik ist mir natürlich geläufig, nur nicht unter dem damaligen Titel."
"Ja, sie haben Recht. Als sich dieses Handy hier …", er zeigte auf das auf dem Tisch liegende Mobiltelefon, "… mit besagter Melodie meldete, fiel mir plötzlich wieder der Zusammenhang beider Titel ein."
"Wissen Sie, Herr Meier, und da kam ich ins Grübeln. Denn genau diesen, nun wahrlich nicht weit verbreiteten Klingelton, hatte ich erst kürzlich gehört. Nämlich bei unserem neuen Pastor, als ich wegen des Weihnachtsbasars noch etwas mit ihm in seinem Büro zu besprechen hatte. Also eilte ich hierher, um ihnen diese Neuigkeit mitzuteilen. Dass ich dabei gerade noch rechtzeitig kam, ist ein glücklicher Zufall."
"Oder eine höhere Eingebung", ergänzte Herr Meier.
"Und jetzt wird auch verständlich, weshalb wir den Pastor am Morgen nach der Tat so konfus erlebt haben. Das wären wir nach einem Mord mit Sicherheit auch", schloss Frau Dreier.
"Ach Frau Dreier, Sie sind ein Schatz. Was jetzt noch unklar sein sollte, wird die Polizei ermitteln. Aber mal ehrlich; hätte Columbo auch nicht viel besser machen können als wir, oder?"
"Ach Herr Meier, und Sie sind ein Träumer."
Befriedigt klappte der Autor sein Laptop zu, goss sich einen Whiskey ein, und stieß auf all die phantastischen Detektive der Film-und Literaturgeschichte an.