Es regnete. Am Heiligabend sollte es nicht regnen. Doch Hilde störte sich nicht daran. Was soll's, dachte sie, es passt zu meiner Stimmung. Zum ersten Mal in ihrem fast sechzigjährigen Leben war sie am Heiligabend allein. Der Regen würde ihre Tränen verwischen, wenn sie nachher auf den Friedhof ging.
Es war früher Nachmittag. In der kleinen Wohnung gab es nichts mehr zu tun. Hilde schaute sich noch einmal prüfend um, als sie ihren Mantel anzog. Die elektrischen Lichter an ihrem kleinen Bäumchen konnte sie getrost brennen lassen. Die Fenster würden dann nicht so dunkel und verlassen aussehen, wenn sie wieder nach Hause kam.
Das alte, schmiedeeiserne Tor des Friedhofs quietschte in den Angeln, als Hilde es gegen den Schneematsch drückte. Mühsam stapfte sie in ausgetretene Fußspuren auf dem Pfad, den sie schon so oft gegangen war. Keine Menschenseele war zu sehen. Hilde stellte es erleichtert fest, denn ihr war heute nicht danach zumute, höfliche oder freundliche Begrüßungsworte zu wechseln. Die vielen kleinen Lichter, die vereinzelt auf den Grabstätten flackerten, waren ihr Gesellschaft genug. Sie empfand wohltuend die Stille und eigentümliche Ruhe, die über dem Friedhof lag. Lange stand sie am Grab ihres Mannes und hielt Zwiesprache mit ihm. Letztes Jahr hatten sie noch zusammen in ihrem gemütlichen Wohnzimmer Heiligabend gefeiert und waren miteinander zur Christmette gegangen.
"Mutti, du kannst doch Weihnachten nicht allein bleiben", hatte ihre Tochter vor ein paar Tagen gesagt, "komm doch zu uns, du bist herzlich eingeladen."
Aber Hilde weigerte sich. Sie würden sich am Stephanstag sehen, das genügte. Sie wollte allein sein und nicht den Trubel unterm Weihnachtsbaum mit einem Berg von Geschenken und johlenden Enkelkindern ertragen müssen. Ganz allein war sie ja nicht. In ihrem Herzen lebte Alfred weiter, und den heutigen Abend wollte sie mit der Erinnerung an ihn verbringen.
Hilde wurde durch Schritte und murmelnde Stimmen aus ihren Gedanken gerissen. Unwillig schaute sie hoch und entdeckte eine dunkel gekleidete Frau mit zwei kleinen Kindern. Sie gingen zu dem frischen, mit unzähligen Kränzen bedeckten Grabhügel. Vor einem Monat war dieser schreckliche Verkehrsunfall passiert, bei dem ein Familienvater ums Leben kam. Hilde kannte die Familie nicht, aber in der Kleinstadt hatte sich das Unglück herumgesprochen, und sie ging ja jeden Tag an diesem Grab mit dem schlichten Holzkreuz vorbei.
Das größere der beiden Mädchen steckte ein kleines, geschmücktes Tannenbäumchen in die Erde, als ihre Schwester plötzlich zu weinen begann.
"Mama, es ist doch so kalt hier. Und dunkel. Warum kann Papa nicht wieder bei uns zu Hause sein?"
Das laute Jammern des Kindes schnitt Hilde ins Herz. Die Antwort der Mutter konnte sie nicht verstehen, sah nur, wie diese in die Hocke ging und das kleine Mädchen in die Arme nahm.
Hilde rührte sich nicht. Mein Gott, wie sollte eine Mutter am Heiligabend ihre kleinen Kinder trösten, die den Vater verloren hatten? Die Nässe drang durch Hildes Schuhe. Aber sie wartete geduldig, bis die Familie sich wieder auf den Heimweg machte.
"Kann der Weihnachtsmann mir den Papi nicht wieder zurückbringen?", hörte sie das Mädchen beim Hinausgehen fragen.
Nein, das kann er wohl nicht, dachte Hilde traurig. Leider kann auch ein Weihnachtsmann nicht alle Wünsche erfüllen. Langsam ging sie an dem Grabhügel vorbei und las den Namen, der auf dem Holzkreuz geschrieben stand. Dann wurde sie auf einmal sehr, sehr nachdenklich. Bis sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen und zügigen Schritten den Heimweg antrat.
*
Die zweite Strophe des Weihnachtsliedes "Oh Tannenbaum" war noch nicht zu Ende, als es an der Tür klingelte. Erschrocken brachen die Kinderstimmen ab; die Mutter erwiderte ratlos die fragenden Blicke ihrer Mädchen. Wer sollte ihnen jetzt, am Heiligabend, einen Besuch abstatten? Die Kleine sprang zuerst auf und öffnete erwartungsvoll die Haustür. Staunend, mit offenem Mund starrte sie den Besucher an. Dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht.
"Hast du den Papi mitgebracht?"
Mittlerweile hatten sich auch Mutter und Schwester in der Diele eingefunden - mit ebenso ungläubigen Gesichtern. Wahrhaftig, hier stand doch tatsächlich ein Weihnachtsmann vor ihnen!
"Nein, mein Kind, leider konnte ich deinen Papa nicht mitbringen. Aber ich soll euch ganz viele liebe Grüße von ihm sagen. Auch wenn er heute nicht in eurer Stube sitzen kann, ist er trotzdem bei euch und feiert mit euch gemeinsam das Weihnachtsfest."
Schon schlichen sich Tränen der Enttäuschung in die Augenwinkel des kleinen Mädchens. Die Mutter fand endlich ihre Sprache wieder und bat den Weihnachtsmann ins Wohnzimmer. Sein großer roter Mantel bedeckte fast das ganze Sofa.
"Willst du dich mal zu mir setzen, mein Kind? Und deine große Schwester auch?"
Zögernd kamen die Mädchen näher, jedes auf eine Seite des Weihnachtsmannes, und er drückte sie liebevoll an sich.
"Ich möchte euch berichten von eurem Vater. Es geht ihm gut. Er muss nicht frieren und er ist auch nicht im Dunkeln. Da, wo ihr ihn besucht, auf dem Friedhof, ist nur der Ort, wo sein Körper zur Ruhe gebettet wurde. Aber das, was euer Vater ist, seine Gedanken und Gefühle, seine Seele, seine Liebe zu euch wird weiterbestehen und mit euch sein. Es ist schlimm für euch, dass er nie mehr zurückkommen kann ..."
"Auch du kannst ihn uns nicht bringen?", unterbrach die Kleine zaghaft und mit großen Augen.
"Nein, auch ich nicht. Ein Weihnachtsmann darf nicht lügen, nicht wahr? Aber ich gebe euch mein Ehrenwort, dass es ihm gut geht und er jetzt in einem hellen, strahlenden und warmen Licht ist. Und manchmal schickt er euch etwas von diesem Licht, so wie heute Abend."
"Kommst du nächstes Jahr am Heiligabend wieder?", fragte das ältere Mädchen schüchtern.
Der Weihnachtsmann überlegte lange, bevor er antwortete: "Das weiß ich nicht. Ein Weihnachtsmann muss immer alle Versprechen einhalten. Damit ihr nicht enttäuscht seid, weil ich vielleicht mein Versprechen brechen müsste, sage ich lieber, dass ich es wirklich nicht weiß. Und ... wisst ihr, wenn ihr ganz fest an euren Papa denkt, könnt ihr immer etwas von dem Licht spüren. Dazu braucht ihr mich nicht."
*
Langsam und bedächtig ging Hilde unter den Lichterketten der Straße hindurch, schaute ringsum in beleuchtete Fenster, nahm tief die Weihnachtsstimmung in sich auf. Der Regen vermischte sich mit ihren Tränen, aber sie weinte nicht aus Verzweiflung und Trauer. Sie war froh wie schon lange nicht mehr, ein kleiner Hoffnungsstrahl lugte aus ihrem Innersten, vermischt mit Rührung und Dankbarkeit. Unter ihrem Arm trug sie eine große Tasche mit etwas Rotem darin, das sie vor zwei Stunden auf dem Speicher hervorgekramt hatte, nach all den Jahren, in denen sie es fast vergessen hatte. Von weitem grüßten aus ihrem Wohnzimmerfenster die funkelnden Kerzen ihres Weihnachtsbaumes. Hilde dachte an Alfreds Licht und freute sich auf zu Hause.