Das Märchen vom falschen Prinzen
[von Wilhelm Hauff]
Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der sein Handwerk bei einem Meister in Alessandria lernte. Man konnte nicht sagen, dass Labakan ungeschickt mit der Nadel oder gar faul war, aber er saß oft in tiefe Gedanken versunken. Sein Meister und die übrigen Gesellen sagten dann: "Labakan hat wieder sein vornehmes Gesicht aufgesetzt."
Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet nach Haus gingen, trat Labakan in einem schönen Gewand aus der Moschee und ging langsam mit stolzen Schritten über die Plätze und Straßen. Und wenn ihm einer seiner Kameraden ein "Friede sei mit dir" bot, so winkte er gnädig mit der Hand und nickte vornehm mit dem Kopf.
Einmal sagte sein Meister nur zum Spaße: "Labakan, an dir ist ein Prinz verloren gegangen." Da freute er sich und antwortete: "Habt Ihr das auch schon bemerkt? - Ich habe es schon lange gewusst!" Der Meister aber duldete seine Narretei, weil Labakan an sich ein guter Mensch und geschickter Arbeiter war.
Eines Tages schickte Selim, der Bruder des Sultans, ein Festkleid zum Meister, um einiges daran zu verändern. Der Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte. Als der Meister und die Gesellen am Abend gegangen waren, trieb Labakan eine merkwürdige Sehnsucht in die Werkstatt. Er stand lange vor dem kostbaren Festkleid und bewunderte den Glanz der Stickerei und die schillernden Farben. Er konnte nicht anders, er musste das Kleid selber anziehen. Und siehe da, es passte ihm so trefflich, als wäre es für ihn gemacht.
"Bin ich nicht genauso so gut wie ein Prinz?", fragte er sich, und stolzierte im Zimmer auf und ab. Mit diesem Festkleid schien Labakan nun auch eine königliche Gesinnung angezogen zu haben. Er war fest davon überzeugt, ein unbekannter Königssohn zu sein, und beschloss, in die Welt zu reisen.
Der neue Prinz erregte große Verwunderung auf seiner Wanderschaft, denn seine prachtvolle Erscheinung wollte gar nicht zu einem Fußgänger passen. Wenn man ihn darüber befragte, pflegte er geheimnisvoll zu antworten, dass er seine Gründe dafür habe. Als er aber merkte, dass dieses nur lächerlich klang, kaufte er ein altes, behäbiges Ross, das er Murva nannte.
Eines Tages, als er so Schritt für Schritt die Straße entlang trottete, bat ihn ein Reiter, in seiner Gesellschaft bleiben zu dürfen. Der Reiter war ein fröhlicher, junger Mann, schön und angenehm im Umgang. Er sagte, er heiße Omar und sei der Neffe von Elfi Bey, dem Bassa von Kairo. Der Onkel habe ihm auf dem Sterbebette einen Auftrag erteilt, den er jetzt ausführen müsse.
Elfi Bey hatte seinem Zögling offenbart, dass er in Wahrheit der Sohn eines mächtigen Herrschers sei. Dieser Herrscher habe aus Furcht vor den Weissagungen seiner Sterndeuter den jungen Prinzen von seinem Hofe entfernen lassen. Doch er tat auch den Schwur, den Prinzen an seinem zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi Bey hatte den Namen seines Vaters nicht verraten und dem Prinzen aufgetragen, sich am fünften Tage des Monats Ramadan an der Säule El-Serujah einzufinden. Dort sollte er einen Dolch mit den Worten überreichen: "Ich bin es, den ihr sucht!" Wenn man ihm antwortete: "Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!", so sollte er den fremden Leuten folgen.
Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung und betrachtete den Prinzen Omar mit neidischen Augen. Er stellte viele Vergleiche zwischen sich und dem Prinzen an, und musste gestehen, dass jener Mann viele Vorzüge hatte. Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, bis in die tiefe Nacht.
Als er dann am Morgen aufwachte und sein Blick auf den schlafenden Omar fiel, erwachte in ihm ein böser Gedanke. Er wollte sich durch List oder Gewalt das nehmen, was ihm das Schicksal bisher versagt hatte. Leise zog er den Dolch aus dem Gürtel des Schlafenden, das Erkennungszeichen des heimkehrenden Prinzen. Labakan holte gleich aus, um den Stahl in die Brust des Eigentümers zu stoßen, doch der Gedanke des Mordes erschütterte ihn. Er ließ den Dolch wieder sinken und steckte ihn in seinen eigenen Gürtel. Dann machte er das schnellere Pferd des Prinzen bereit, und entfernte sich leise, bevor der Prinz Omar erwachte. Es war der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem Labakan den Raub an dem Prinzen beging. Er hatte also noch viel Zeit, um die Säule El Serujah zu ereichen. Schon am Ende des zweiten Tages erblickte er sie. Labakans Herz pochte laut bei diesem Anblick. Er lagerte sich unter einigen Palmen und wartete, was das Schicksal ihm wohl bringen möge.
Zwei Tage darauf sah er einen großen Zug mit Pferden und Kamelen auf die Säule El-Serujah zukommen. Der Zug hielt an und man schlug prächtige Zelte auf. Das Ganze sah aus wie der Reisezug eines reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, dass die vielen Leute sich seinetwegen hierher bemüht hatten, aber er mäßigte seine Begierde, da der fünfte Tag des Ramadan noch nicht gekommen war.
Die Morgensonne weckte den Schneider zu dem wichtigsten Augenblick seines Lebens. Der Würfel war gefallen, und er konnte nicht mehr ungeschehen machen, was geschehen war. Seine Eigenliebe flüsterte ihm zu, dass er stattlich genug sei, um die Stelle des Prinzen Omar einzunehmen.
Labakan schwang sich auf sein Ross, nahm all seine Tapferkeit zusammen und galoppierte zu den Zelten. Er stieg von seinem Pferd, zog den Dolch des Prinzen Omar hervor und stieg den kleinen Hügel zur Säule hinauf. Dort standen sechs Männer um einen Greis herum, der ein königliches Aussehen hatte. Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief und sprach: "Ich bin es, den ihr sucht." "Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!", antwortete der Greis mit Freudentränen. "Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!" Labakan war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte und sank in die Arme des alten Fürsten.
Die Freude sollte nicht lange anhalten. Als Labakan sich aufrichtete, sah er einen Reiter auf den Hügel zukommen. Das war einen sonderbarer Anblick! Das Ross schien vor lauter Behäbigkeit nicht recht fortzukommen. Der Reiter aber trieb es mit Händen und Füßen zu schnellerem Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan, dass es sein Ross Murva mit dem Prinzen Omar waren. Da beschloss Labakan, wie es auch kommen möge, mit eiserner Härte seine neue Stellung zu behaupten.
Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken sehen. Jetzt war er endlich am Fuße des Hügels angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte den Hügel hinauf. "Haltet ein!", rief er. "Wer ihr auch sein möget, haltet ein und lasst euch nicht von diesem Betrüger täuschen. Ich heiße Omar, und kein Sterblicher soll es wagen, meinen guten Namen zu missbrauchen!"
Auf den Gesichtern der Umstehenden zeigte sich tiefes Erstaunen über diese Wendung. Besonders der Greis schien sehr betroffen, und sah bald den einen, bald den anderen fragend an. Labakan aber sprach mit gespielter Ruhe: "Gnädigster Herr und Vater, lasst euch durch diesen Menschen nicht in die Irre führen! Er ist, soviel ich weiß, ein wahnsinniger Schneidergeselle mit dem Namen Labakan. Er verdient mehr unser Mitleid als unseren Zorn."
Prinz Omar war außer sich vor Wut und wollte schon auf Labakan losgehen, da warfen sich die Umstehenden dazwischen. Sie hielten Omar fest, und der greise Fürst sprach: "Wahrhaftig, mein lieber Sohn, der arme Mensch ist nicht bei Sinnen. Bindet ihn und setzt ihn auf eines unserer Dromedare. Vielleicht bringt ihn das zur Vernunft." Der Fürst ergriff Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel hinuntergeleiten. Sie setzten sich beide auf schöne Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die Ebene dahin.
Der Greis war Saaud, der Fürst der Wechabiten. Er hatte lange ohne Kinder gelebt, doch endlich wurde ihm ein Prinz geboren. Seine Sterndeuter taten aber den Spruch, dass der Prinz bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr in Gefahr schwebe, von einem Feinde verdrängt zu werden." Der Fürst wollte das verhindern und gab den Prinzen zur Erziehung an seinem alten Freund, Bassa Elfi Bey. Zweiundzwanzig schmerzliche Jahre hatte der Fürst auf den Anblick seines Sohnes verzichten müssen.
Als der Fürst nun mit seinem vermeintlichen Sohne heimkehrte, wurden sie von den Einwohnern überall mit Freudengeschrei empfangen. Auf den Straßen waren Bögen aus Blumen und Zweigen errichtet und glänzende Teppiche schmückten die Fenster der Häuser. Dies alles erfüllte das Herz des Schneiders mit Wonne und Stolz. Wie unglücklich musste sich aber der echte Omar fühlen, der noch immer gefesselt dem Zuge folgte. Niemand kümmerte sich um ihn.
Der Zug kam zum Palast, wo die ehrwürdige Fürstin mit ihrem ganzen Hofstaat in einem prachtvollen Saal auf die Ankunft wartete. Sie saß auf einem Throne, der mit Gold und großen Amethysten ausgelegt war. Die vier vornehmsten Emire hielten einen Baldachin aus roter Seide über das Haupt der Fürstin, und der Scheik von Medina fächelte ihr mit weißen Pfauenfedern Kühlung zu. So erwartete die Fürstin ihren Gemahl und ihren Sohn. Auch sie hatte ihn seit der Geburt nicht mehr gesehen.
Näher und näher rauschten die Tritte der Kommenden. Die Türen des Saales flogen auf, und durch die Reihen der niederfallenden Diener eilte der Fürst mit seinem Sohn zum Thron der Mutter. "Hier", sprach er, "bringe ich dir den Sohn, auf den wir so lange gewartet haben." Der Fürstin stockte fast der Atem. "Das ist nicht mein Sohn!" rief sie, "das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume offenbart hat!"
Der Fürst wollte den Aberglauben seiner Gemahlin schon fortwischen, da sprang die Türe des Saales ein zweites Mal auf. Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von seinen Wächtern, denen er entkommen war. Er warf sich atemlos vor der Fürstin nieder und rief: "Hier will ich sterben, von der Hand meines grausamen Vaters. Tötet mich, denn ich ertrage diese Schmach nicht länger!" Die Umstehenden war bestürzt über diese Rede. Man drängte sich zu dem Unglücklichen und die Wachen wollten ihn schon wieder ergreifen. "Haltet ein!" rief die Fürstin, "Dieser und kein anderer ist mein Sohn. Dieser ist es!"
Die Wächter ließen nun von Omar ab, aber der Fürst befahl jetzt wütend, ihn doch zu binden. "Hier habe ich zu entscheiden", sprach er mit gebieterischer Stimme. "Was kümmern mich die Träume der Weiber! Nein, dieser hier ist mein Sohn, denn er hat mir das Zeichen meines Freundes Elfi Bey gebracht. Er hat mir den Dolch gebracht." "Gestohlen hat er ihn", schrie Omar. "Mein argloses Vertrauen hat er missbraucht!" Der Fürst aber hörte nicht auf die Stimme seines Sohnes, denn er war es gewohnt, eigensinnig sein Urteil zu fällen. Er ließ den unglücklichen Omar mit Gewalt aus dem Saal schleppen.
Die Fürstin war sehr betrübt. Als sich der Schmerz jedoch ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Wege und Mittel, den Gemahl zu überzeugen. Sie berief die Männer zu sich, die den Fürsten zu der Säule El-Serujah begleitet hatten, um genaueres zu erfahren. Dann hielt sie mit ihren vertrauten Sklavinnen Rat. Da sprach Melechsalah, die Älteste: "Wenn ich recht gehört habe, so nannte der Überbringer des Dolches den Namen Labakan und nannte ihn einen verwirrten Schneider?" "Ja, so ist es", antwortete die Fürstin. "Aber was willst du damit sagen?" "Wenn der Überbringer dem wahren Prinzen seinen Namen angeheftet hat, so gibt es ein Mittel, ihn zu fangen." Die Fürstin beugte sich zu ihrer Sklavin, und diese flüsterte ihr einen Rat zu, der sie freudig lächeln ließ.
Die Fürstin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten des Fürsten kannte und sie zu benützen wusste. Sie schien nachgeben und den falschen Sohn anerkennen zu wollen, doch sie stellte eine kleine Bedingung. Der Fürst, dem das Aufbrausen gegen seine Frau Leid tat, gestand es ihr zu, und sie sprach: "Ich möchte gerne sehen, wer von beiden geschickter ist. Es soll jeder von ihnen einen Kaftan fertigen." Der Fürst lachte und sprach: "Ei, da hast du ja was Kluges ersonnen. Mein wahrer Sohn soll also mit deinem wahnsinnigen Schneider wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Das wird meinem Sohn doch wohl gelingen, hat er doch schon viele edle Kleider getragen."
Der Fürst ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich dem Einfall seiner Mutter zu fügen. Dem guten Labakan lachte aber das Herz vor Freude. "Wenn es nur um einen Kaftan geht", dachte er, "werde ich den Prinzen schon überbieten." Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere für den Schneider. Dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man hatte jedem nur ein einfaches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und Faden gegeben. Der Fürst war sehr begierig, was für ein Ding wohl sein wahrer Sohn zutage fördern werde, aber auch der Fürstin pochte unruhig das Herz. Man hatte den beiden zwei Tage Zeit gegeben ausgesetzt, dann ließ der Fürst seine Gemahlin rufen.
Triumphierend trat Labakan vor das Fürstenpaar und breitete seinen Kaftan aus. "Siehe her, Vater", sprach er, "ob dies nicht ein Meisterstück ist, das einem Prinzen zur Würde gereicht! Die Fürstin lächelte und wandte sich an Omar: "Und was hast du herausgebracht, mein Sohn?" Unwillig warf er den Seidenstoff und die Schere zu Boden: "Man hat mich gelehrt, ein Ross zu bändigen und einen Säbel zu schwingen!", rief er. "Die Künste der Nadel sind mir fremd. Sie wären auch unwürdig für einen Zögling von Bassa Elfi Bey, dem Beherrscher von Kairo." Die Fürstin wendete sich jetzt ihrem Gemahl zu und sagte: "Verzeiht mir meine List, oh, mein Gemahl und Gebieter. Seht Ihr denn nicht, wer der wahre Prinz und wer der Schneider ist?"
Der Fürst versank in tiefe Gedanken. Misstrauisch schaute er bald seine Frau, bald Labakan an, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung zu bekämpfen suchte. "Dieser Beweis genügt mir nicht", sprach der Fürst, "aber ich weiß ein geeignetes Mittel." Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzuführen, und ritt in den Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte nach alter Sage eine gütige Fee, die man Adolzaide nannte. Sie hatte schon oft den Königen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat beigestanden.
In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, der von hohen Zedern umgeben war. Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein Sterblicher diesen Platz. Kaum war der Fürst dort angekommen, stellte er sich in die Mitte des Platzes und sprach mit lauter Stimme: "Wenn es wahr ist, dass du meinen Vätern Rat erteilt hast, so verschmähe meine Bitte nicht. Gib mir einen weisen Rat, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!"
Er hatte die letzten Worte gerade ausgesprochen, da öffnete sich eine der Zedern und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern trat hervor. "Ich weiß, warum du zu mir kommst, Fürst Saaud. dein Wille ist redlich, darum will ich dir auch helfen. Nimm diese beiden Kästchen hier! Lass jene, welche deine Söhne sein wollen, wählen!" So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei kleine Kästchen aus Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert. Auf den Deckeln, die der Fürst nicht öffnen konnte, standen Inschriften aus eingelegten Diamanten. Auf dem einem Kästchen stand "Ehre und Ruhm", auf dem anderen "Glück und Reichtum".
Als der Fürst wieder in seinen Palast zurückkam, ließ er die Fürstin rufen und zwei Tische aufstellen. Mit eigener Hand setzte er die beiden Kästchen darauf, bestieg sogleich den Thron und winkte einem Sklaven, die Pforte des Saales zu öffnen. Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren strömte herein. Als sie sich alle auf seidenen Kissen niedergelassen hatten, winkte der Fürst zum zweiten Mal, und Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem Schritten ging er durch den Saal, warf sich vor dem Fürsten nieder und sprach: "Was befiehlt mein Herr und Vater?" Der Fürst erhob sich und sprach: "Mein Sohn! Es sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche erhoben worden. Eines von diesen beiden Kästchen enthält die Bestätigung deiner Geburt, wähle nun!"
Labakan erhob sich und überlegte lange. Endlich sprach er: "Verehrter Vater! Was kann es Höheres geben als das Glück, dein Sohn zu sein. Ich wähle das Kästchen, das die Aufschrift 'Glück und Reichtum' trägt." "Nun wurde Omar hereingeführt. Er warf sich vor dem Fürsten nieder und fragte, was er für ihn tun könne. Der Fürst deutete ihm an, dass er eines der Kästchen zu wählen habe. Da stand er auf las die beiden Inschriften. "Die letzten Tage" sprach er, "haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist. Sie haben mich auch gelehrt, dass ein hohes Gut in meiner Brust wohnt, nämlich Ehre und Ruhm. Das also wähle ich!"
Er setzte seine Hand auf das Kästchen, das er erwählt hatte. Der Fürst befahl ihm aber, einzuhalten. Er winkte Labakan, gleichfalls vor seinen Tisch zu treten, und dieser legte ebenso seine Hand auf sein Kästchen. Jetzt sprach der Fürst: "Öffnet die Kästchen", aber sie sprangen ganz von alleine auf.
In dem Kästchen, das Omar gewählt hatte, lagen eine kleine goldene Krone und ein Zepter, in Labakans Kästchen eine große Nadel und ein wenig Zwirn! Der Fürst befahl den beiden, ihre Kästchen zu bringen. Er nahm das Krönchen in seine Hand, und es wurde größer und größer. Schließlich hatte es sogar die Größe einer rechten Krone erreicht. Der Fürst setzte die Krone seinem Sohn Omar auf das Haupt und küsste ihn auf die Stirn. Zu Labakan aber sprach er: "Ich kenne ein altes Sprichwort, das da lautet: Schuster bleib bei deinem Leisten! Es scheint so, als solltest du bei deiner Nadel bleiben. Zwar hast du meine Gnade nicht verdient, aber ich will Gnade vor Recht walten lassen. Darum schenke ich dir dein armseliges Leben. Siehe zu, dass du sehr bald aus meinem Lande kommst!"
Beschämt, wie er war, mochte der arme Schneidergeselle nichts erwidern. Er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen drangen in seine Augen: "Könnt Ihr mir vergeben, mein Prinz?" sprach er. Der Prinz antwortete: "Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind, das ist des Abassiden Stolz. Gehe hin in Frieden!"
"Oh du mein echter Sohn!", rief der alte Fürst gerührt und sank an die Brust des Sohnes. Die Emire und Bassas standen von ihren Sitzen auf und jubelten. Nur Labakan schlich sich, sein Kästchen unter dem Arm, aus dem Saal. Er ging hinunter in die Ställe des Fürsten, zäumte sein altes Ross Murva auf und ritt zum Tor hinaus.
Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus seines alten Meisters. Er stieg ab und trat in die Werkstatt. Als der Meister aber den Gast näher ansah und Labakan erkannte, hielt er ihm eine Strafrede über das gestohlene Kleid. Vergebens versicherte Labakan, dass er nur gekommen sei, um alles zu ersetzen. Der Meister und seine Gesellen fielen über ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Türe hinaus. Zerschlagen und zerfetzt stieg er auf sein altes Ross und ritt zu einer Karawanserei. Dort legte er sich nieder und fasste den Entschluss von nun an ein ehrbarer Bürger zu werden.
Er verkaufte um sein Kästchen an einen Juwelenhändler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt ein. Dann setzte er sich hin und begann einen Rock mit jener Nadel und jenem Zwirn zu machen, die er in dem Kästchen gefunden hatte. Ein Kunde störte ihn bei dieser Arbeit, doch als er zurückkam, bot sich ihm ein sonderbarer Anblick! Die Nadel nähte emsig fort, ohne von jemand geführt zu werden. Sie machte feine, zierliche Stiche, und das Stückchen Zwirn wollte niemals enden.
Meister Labakan hatte bald die ganze Stadt zum Kunden, denn er arbeitete schön und außerordentlich billig. Die Leute wunderten sich nur, dass er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Türen die viele Arbeit tat. So aber war der Spruch des Kästchens nun doch noch in Erfüllung gegangen, denn Glück und Reichtum begleiteten die Schritte des Schneiders ein Leben lang.