Das Zauberhorn
[von Josef Haltrich]
Es war einmal ein reicher Mann, dem starb seine Frau. Sie hinterließ ihm aber eine kleine Tochter mit dem Namen Gretchen, und der Vater hatte sie über alle Maßen lieb.
Nun wohnte in der Nachbarschaft eine Witwe. Die hatte auch eine Tochter, und zwar mit drei Augen. Eines Tages lockte die Witwe Gretchen zu sich und sagte: "Höre, wenn dein Vater mich zur Frau nimmt, so will ich dir eine gute Mutter sein. Ich will deine Haare mit einem goldenen Kamm glätten, dein Antlitz mit Milch waschen und dir Wein zu trinken geben. Meine eigene Tochter soll dir die Fliegen jagen, wenn du schläfst, und mit dir spielen, wenn du wach bist!" Das gefiel dem kleinen Gretchen, und sie redete auf den Vater ein, bis er die Nachbarin tatsächlich zur Frau nahm.
Einige Tage hatte Gretchen es ganz gut, aber schon bald zeigte sich die neue Mutter als eine rechte Stiefmutter. Sie zankte tagtäglich mit ihr und gab ihr auch Schläge. Das arme Mädchen durfte beim Vater auch nicht klagen, wenn er nach Hause kam, sonst hätte es noch viel Ärgeres gegeben. Für die dreiäugige Schwester musste Gretchen jetzt die Hemden und Kleider waschen, bis die Finger bluteten, oder gar die Ochsen auf dem Feld hüten und dabei Flachs spinnen. Wenn sie dann so alleine auf dem Felde war, weinte sie oft und klagte im Kummer so vor sich hin.
Eines Tages kam ein schöner Stier aus der Herde zu Gretchen und fragte mitleidig: "Warum weinst du so, du armes Kind?" "Wie sollt' ich nicht weinen", antwortete es. "Wenn ich den Flachs nicht bis heute Abend spinne, bekomme ich harte Schläge von meiner Stiefmutter!" Da sprach der Stier: "Wohlan, ich will dir helfen. Reiche mir den Flachs!" Gretchen tat es, und der Stier schluckte den Flachs einfach herunter. Da erschrak sie nicht wenig, aber der Stier sagte gleich: "Fürchte dich nicht, mein Kind, und schlafe nur ein wenig. Sobald du erwachst, wird dein Flachs gesponnen sein!" Da schlief Gretchen ein wenig, und als sie erwachte, lag neben ihr das schönste Garn.
Von nun an brauchte sie sich nicht mehr zu ängstigen. Egal, wie viel Flachs auch die Stiefmutter zum Spinnen mitgab, er wurde immer fertig. Denn jedes Mal kam der Stier hinzu und tat die Arbeit für das kleine Mädchen. Doch dann merkte die Stiefmutter, dass es nicht mit rechten Dingen zuging. Darum schickte sie ihre dreiäugige Tochter mit auf die Weide, um Wache zu halten.
Gretchen aber wusste sich zu helfen. Sie spann anfangs sehr fleißig und sang dabei, bis ihre Schwester einschlief. Sobald dies geschehen war, gab sie dem Stier den Flachs zum Kauen. Als die Schwester wieder erwachte, war alles schon gesponnen. So wusste diese am Abend ihrer Mutter nur zu sagen, dass Gretchen fleißig gesponnen hätte.
Einmal aber, als Gretchen mit der Schwester wieder auf dem Felde war, war diese vom Gesang nicht ganz eingeschlafen. Da konnte sie heimlich sehen, wie Gretchen dem Stier den Flachs gab und wie er ihn zu Garn kaute. Als die beiden dann am Abend nach Hause kamen, sagte Dreiäuglein ihrer Mutter, was sie gesehen hatte. Die Stiefmutter drohte damit, den Stier zu töten, schimpfte Gretchen aus und schlug sie mit den Fäusten. Da lief sie weinend fort und erzählte alles dem Stier. "Mit mir ist es aus?", sprach der Stier, "aber siehe zu, dass du die Spitze von meinem rechten Horn bekommst, wenn ich tot bin!"
Als am anderen Morgen Gretchen im Felde die Ochsen hütete, brummte plötzlich eine große Bremse um das Haupt des Stieres. Das war die Stiefmutter, denn sie war eine böse Zauberin und hatte sich verwandelt. Der Stier wurde wild und rannte blindlings fort. Als er an eine Brücke kam, die über einen Abgrund führte, stach die Bremse ihn in die beiden Augen. Der Stier sah nichts mehr, verfehlte die Brücke und stürzte in den Abgrund. Gretchen ahnte schon das Schlimmste und war ihm gefolgt. Da fand sie ihren Freund und Beschützer nun tot im Abgrund liegen. Er hatte sich beim Fallen die Spitze vom rechten Horn abgestoßen. Gretchen nahm es weinend auf und steckte es ein.
Bei der Stiefmutter daheim hatte Gretchen wieder eine böse Zeit. Die Stiefmutter gab ihr schwere Arbeiten auf, zankte immerfort und ließ es auch an Schlägen nicht fehlen. Die dreiäugige Tochter musste dagegen gar nichts tun, sondern putzte sich immerzu heraus und ging ihrem Vergnügen nach. Dennoch war Gretchen hübscher anzusehen. Das ärgerte die Stiefmutter, und sie beschloss, ihre Stieftochter für immer fortzuschaffen. Gretchen musste der Stiefmutter tief in den Wald folgen und sollte schließlich Wasser an einer Quelle holen. Das nutzte die Stiefmutter, verwandelte sich in einen schwarzen Käfer und setzte sich unter einen Strauch. Von dort aus wollte sie sehen, wie Gretchen sich alleine verirrte.
Als Gretchen zurückkehrte, sah sie keine Spur von der Stiefmutter. Voller Angst lief sie hin und her, denn der Abend rückte schon heran. Da fiel ihr die Hornspitze wieder ein, die sie bei sich trug. Gretchen holte sie hervor und schwenkte sie hin und her. Und siehe, da kamen auf einmal unzählige Ochsen hervor, sodass der ganze Wald weiß erschien. Der letzte Ochse aber, der aus dem Horn stieg, hatte goldene Hörner und war weiß wie Schnee. Dieser kam ganz traulich zu Gretchen.
Doch plötzlich schüttelte der Stier unruhig den Kopf, scharrte mit den Füßen auf dem Boden und stürmte auf das Versteck los, wo die Stiefmutter saß. Diese hatte sich aus dem Käfer schnell in einen Bären verwandelt und war eben im Begriff, auf den Stier loszugehen. So kam es zu einem heftigen Kampf. Der Stier mit seinen goldenen Hörnern rannte den Bären zu Boden, doch brach ihm dabei die Spitze vom rechten Horn ab. Der Bär blieb elend liegen und brummte schrecklich. Der Stier aber kam und legte sich vor Gretchen nieder, und es schien, als wenn er um Hilfe bäte. Da fiel es Gretchen ein, ihm die Hornspitze, die sie bei sich trug, an die Stelle zu setzen, wo das Horn abgebrochenen war. Kaum war das geschehen, verwandelte sich der Stier in einen schönen Prinzen und die anderen Ochsen in seine Minister und Diener.
Sogleich nahm der Prinz Gretchen als seine liebe Braut mit sich, zog in sein Reich und hielt eine glänzende Hochzeit. Die Stiefmutter aber war verdammt, in der Gestalt zu bleiben, die sie zuletzt angenommen hatte. Sie musste sich als hungriger Bär im Walde herumschleppen, bis sie nur noch so viel wog wie der Flachs, den Gretchen täglich im Felde spinnen musste.