Ali war ein Meisterdieb und lebte zur Zeit des Kalifen Suleiman. In dieser Zeit gab es viel Handel, und die Geschäfte blühten, es war aber auch eine günstige Zeit für Diebe. Der Kalif bestrafte Diebe zwar streng, aber er konnte nicht verhindern, dass viel Geld weg kam – und auch Ali sorgte dafür.
Allerdings war Ali kein ganz gewöhnlicher Dieb. Er bestahlt nur die Reichen, und dabei besonders gerne die Reichen, die sehr hartherzig waren. Außerdem hatte auch er eine Art „Ehre“. Er wollte nie einen heimtückischen Diebstahl begehen.
Darunter verstand er auch solch einen Diebstahl, der den Verdacht auf jemand anderen fallen ließ. Er wollte selbst verdächtigt werden, um dann zu entkommen. So rettete er einmal zehn Gäste einer Herberge vor der Folter.
Ali hatte nämlich in der Herberge einen Ring gestohlen. Da der Verdacht auf einen der Gäste in der Herberge fiel, wurden alle Gäste der Reihe nach verhört, aber niemand gestand, der Dieb zu sein. So ordnete der Polizeihauptmann die Folter für alle an.
Als es dann dazu kommen sollte, erschien Ali und legte den Ring auf den Tisch. Da wollte der Hauptmann Ali in Ketten legen lassen. Doch noch bevor er das tat, bat er Ali, genau zu zeigen, wie er den Ring aus der Tasche gestohlen habe.
Ali ließ den Polizisten den Ring in die Tasche stecken und zur Tür gehen. Dann erklärte er, wie er sich von hinten angeschlichen habe und den Ring aus der Tasche gezogen habe, um dann mit einem Satz aus der Tür zu springen.
Und noch während er das sagte, zog er dem Polizisten den Ring aus der Tasche und verschwand. Die zehn Verdächtigen wurden freigelassen.
So war Ali, der Meisterdieb. Doch sein größter Diebstahl war die Geschichte von dem doppelt bestohlenen Geldwechsler. Es war zu der Zeit, als Ali noch Anfänger war. Er zog damals mit Hassan, einem alten Vagabunden durch das Land.
Eines Tages bewunderten die beiden einen Geldwechsler. Er war ein rechter Wucherer, und deswegen besonders reich. Außerdem war er ein besonders hartherziger und geiziger Mann. Ali stieß Hassan an.
„Guck dir den alten Gierkopf an!“, sagte er. „Der hat die Taschen voller Geld. Mensch, wie der Mann schwitzt, mit all seinem Geld, da sollten wir ihm den Gefallen tun, und ihn ein bisschen erleichtern.“
„Mach das, mein Freund“, ermutigte ihn Hassan. „Ich will sehen, ob du auch etwas Ordentliches bei mir gelernt hast. Darum solltest du die Tat einmal alleine durchführen. Ich werde im Wald auf dich warten.“
Und so folgte Ali dem Geldwechsler bis zu seinem Haus. Die Fenster des Hauses waren sehr niedrig und standen weit offen. Ali schaute durch das Fenster und sah, wie der Geldwechsler das Geld in einem Sack auf den Tisch warf. Dann ging er ins Nebenzimmer, um sich von einer Sklavin säubern zu lassen.
Die Sklavin verneigte sich vor ihm, holte ein Handtusch und ließ Wasser in die Wanne ein. Ali sprang durch das Fenster in den leeren Raum, griff den Beutel und sprang wieder aus dem Fenster. Dann lief er zum Wäldchen hinüber.
Triumphierend hielt er Hassan den Beutel entgegen. „Nun, mein Freund, bist du zufrieden?“ „Das bin ich nicht“, erwiderte Hassan streng. „Du hast einfach nur Glück gehabt. Aber auf das Glück allein sollte man sich niemals verlassen. Ein guter Dieb bereitet seinen Diebstahl vor und wartet nicht auf den passenden Augenblick.
Dann gibt es noch etwas, was mir an deiner Arbeit nicht gefällt“, fuhr Hassan fort. „Was nämlich wird passieren, wenn der Geldwechsler den Diebstahl bemerkt? Er wird die Sklavin verdächtigen. Und da der Mann hartherzig ist, wird er sie der Polizei übergeben und sie foltern lassen.“
„Das wollte ich nicht“, rief Ali erschrocken. „Ich wollte den Geldwechsler schädigen. Der Sklavin sollte nichts geschehen.“ „So hast du einen miserablen Diebstahl getan“, schimpfte Hassan. „Aber so ist es nun mal. Lass uns weiterziehen.“
„Nein, nein“, rief Ali. „Warte noch einen Moment auf mich. Ich komme gleich wieder.“ Und er nahm den Beutel und ging zum Hause des Geldwechslers zurück. Schon von weitem hörte er jemanden laut schreien. Als er durch das Fenster schaute, sah er die Sklavin auf dem Sofa liegen, und der Geldwechsler schlug mit seiner Peitsche auf sie ein.
„Wo hast du es? Sag es mir!“, schrie er dabei. Da klopfte Ali an die Tür. Mit rotem Gesicht, die Peitsche noch in der Hand, öffnete der Geldwechsler. „Was willst du?“ fragte er böse.
„Ich bin der Knecht eures Nachbarn“, erklärte Ali. „Unser Nachbar schickt mich, weil er auf der Straße neben deinem Haus einen Beutel gefunden hat. Ich habe nicht hineingesehen, aber ich kann mir vorstellen, dass er wertvoll ist.“
Da schnappte sich der Geldwechsler den Beutel. Die Sklavin lächelte und hörte auf zu schluchzen. „Ich hätte schwören können, dass ich den Beutel hier auf den Tisch gelegt habe“, sagte der Geldwechsler verwundert. „Es ist mir noch nie passiert, dass ich Geld verloren habe.“
„Das kann man sich auch leicht einbilden“, erwiderte Ali. „Immerhin war es gut, dass ich als ehrlicher Finder das Geld zurück gebracht habe. War es viel Geld?“ „Aha, du willst wohl Finderlohn haben“, sagte der Geldwechsler, griff in den Beutel und zog ein paar Geldstücke heraus. „Das ist ja mehr als großzügig“, sagte er dazu.
„Ich bitte dich auch noch, mir einen Brief zu schreiben, dass ich das Geld bei dir abgeliefert habe und dafür Finderlohn erhalten habe“, bat Ali dann. „Sonst wundern sich die Leute, wenn ich so viel Geld bei mir habe.“ „Das will ich wohl tun“, sagte der Geldwechsler.
Er ging in den Nebenraum, um ein paar Zeilen zu schreiben. In dem Moment aber reichte Ali der Sklavin die Geldstücke, die der Geldwechsler ihm zugesteckt hatte und nahm sich seinerseits den Beutel Geld, um damit aus dem Fenster zu springen.
Die Sklavin wartete erst, als er verschwunden war. Dann fing sie an zu schreien. Ali erreichte seinen Freund Hassan nach einigen Umwegen im Wald, als es anfing, dunkel zu werden. Hassan klopfte ihm auf die Schulter.
„Siehst du, mein Freund, das ist ordentliche Arbeit“, sagte er. „So wirst du mit Allahs Hilfe noch ein bedeutender Dieb werden.“ Und so geschah es auch.
So erzählte Scheherazade, und der König schmunzelte. „Hat man ihn wirklich nicht erwischt?“, wollte er wissen. „Doch“. sagte Scheherazade. „Alle Diebe werden einmal erwischt und bestraft. Aber er hatte Glück im Unglück. Als er gehenkt werden wollte, riss der Strick und Ali stürzte zu Boden. Da begnadigte der Kalif Ali. Er hatte schon früher oft über Alis Taten lachen müssen.
Und weil es kein Gesetz gibt, dass jemand zweimal gehenkt werden darf, ließ er ihn laufen. Ali hat dann später auch nicht mehr gestohlen.“ „Du redest viel über Gerechtigkeit“, bemerkte der König verärgert. „Aber ist es denn wirklich so, dass Allah jede böse Tat sühnt? Schau dir die Welt doch an! Das meiste, was geschieht, hat keinen Sinn.
Wenn es wirklich so ist, wie du sagst, wäre ich schon bereit, ein weiser und netter König zu werden. Aber im Grunde ist das, was du erzählst, doch nur ein Märchen.“ „Zuerst sieht es oft so aus“, sagte Scheherazade. „Aber manchmal sehen wir nur die Oberfläche des Lebens. Und deine Frage ist genau die, die Omar, der Eremit auch immer stellte, als er den Mord mit angesehen hat.“
Was ist das für ein Omar und was für ein Mord?“, wollte der König wissen. „Das ist eine alte Geschichte“, erwiderte Scheherazade. „Man nennt sie die Geschichte der himmlischen Vergeltung.“ „Erzähle!“, befahl der König.
Und Scheherazade erzählte.