Höher und weiter wollen viele. Abenteuer in der Tiefe suchen schon weniger. Kein Wunder: Ungemütlich und stockfinster ist es. Wenn man es überhaupt überlebt – wie Jaques Piccard. Autor: Simon Demmelhuber
Das Herz Afrikas, die Wälder Amazoniens, das Dach der Welt, die Steppen Asiens! Alles längst besucht, beschrieben, abgehakt. Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Meere und Küsten vermessen, die Urwälder und Wüsten erforscht, die Pole bezwungen. Nur ein weißer Fleck bleibt: Die Tiefsee, die wildeste, zähste Bastion des Unbekannten. Kein Ort der Erde ist fremder, keiner unzugänglicher.
Das Haupthindernis ist der Wasserdruck. Schon in 500 Metern Tiefe lasten 500 Tonnen auf einem Quadratmeter, jeder Kilometer packt 1000 Tonnen dazu. Nichts hält diesen malmenden Kräften stand. Aber damit gibt sich der Schweizer Physiker Auguste Piccard nicht zufrieden. Fast im Alleingang konstruiert er mit seinem Sohn Jacques ein Tauchboot, das selbst die tiefsten Stellen der Meere erreichbar macht. Zumindest theoretisch. Der Praxisbeweis steht noch aus.
Erstmal abtauchen
Am 23. Januar 1960 ist die Trieste bereit, ihn anzutreten. Ihr Ziel ist die Senke des Challengertiefs im westpazifischen Marianengraben. Weiter hinab als hier geht es nirgendwo. Punkt 8 Uhr 23 zwängen sich Jacques Piccard und der Marineleutnant Don Walsh in die Gondel des Tauchboots. Meerwasser gurgelt in die Ballasttanks, 120 Tonnen Eisen sacken abwärts, immer tiefer, immer schneller. Schon nach wenigen Minuten löscht dicke Finsternis alle Farben vor dem handtellergroßen Bullauge. Nur im Scheinwerferlicht wirbelt Plankton wie dichtes Schneegestöber, vereinzelt schimmern Quallen in pechschwarzer Verlorenheit. Stundenlang sinkt die Trieste, während die Piloten beobachten und Aufzeichnungen machen. Viel Platz haben sie nicht. Die zwei Meter durchmessende Kabine ist mit Messgeräten, Akkus, Kabeln und Sauerstoffflaschen vollgestopft und so geräumig wie eine Telefonzelle. In diesem Eisenkäfig kauern Piccard und Walsh schlotternd Knie an Knie, massieren ihre taub gewordenen Arme und Beine.
Tief, tiefer
Dann, um 12 Uhr 6, ein greller Knall, ein heftiger Ruck. Das fiese Krachen scheucht dunkle Ängste auf: Hat die Trieste den Grabenrand gestreift, ist eine Schweißnaht geplatzt, die Hülle gerissen? Ruhig bleiben! Nur nicht ans Ersticken, Ersaufen, Zerquetschtwerden denken! Jeden Millimeter absuchen, alles prüfen! Sie finden nichts, hören nur das Zischen der Pressluft und ein Knistern, als würde Badeschaum trocknen. "Weiter", entscheidet Piccard. Walsh nickt. Ab 10.000 Meter saugen sich vier Augen am Tiefenmesser fest, zählen jeden Meter mit. Endlich kommt der Boden in Sicht. Die Scheinwerfer schälen eine elfenbeinfahle, mondkarge Öde aus der ewigen Nacht. Um 13 Uhr 6 setzt die Trieste weich auf, der Tiefenmesser zeigt 10.916 Meter. Auf das Boot und seine zerbrechliche Fracht drücken jetzt 170.000 Tonnen mit dem Gewicht von 425 Jumbo-Jets.
Zwanzig Minuten hockt die Kapsel in eisiger Schwärze, dann steigt sie in einer Wolke aufgewirbelten Schlicks empor, fährt auf, durchstößt dreieinhalb Stunden später die Wasserhaut der Erde und - - Luft!